Miriams Baby. Hermann Brünjes
Google Maps zeigt mir eine Straße und viel, sogar sehr viel Wald. Irgendwo zwischen den Sperrgebieten des Truppenübungsplatzes und dem Testgelände der Waffenfabrik Rheinmetall liegt ein Gehöft. In der größtmöglichen Einstellung ist es mit »Eichengrund« beschriftet.
Ob ich richtig liege? Eben noch Fan des Internets als Recherchemittel, kommt es jetzt an seine Grenzen. Es gibt halt Dinge, die kriegt man nur raus, wenn man sich auf den Weg macht. So smart digital auch ist, ohne Fußarbeit läuft am Ende nichts.
Also auf in die Südheide!
Mir fällt ein, dass ich in Unterlüß jemanden kenne.
Manfred wäre ohnehin ein richtiger Ansprechpartner in Sachen »Rechts«. Ich habe ihn bereits mehrmals interviewt. Er ist ein lockerer Typ und wir waren gleich beim Du. Vor allem aber ist er ein überaus engagierter Pastor und Bürger, sowohl für seine Gemeinde als auch gegen Rechts. Die neuen Nazis hassen ihn dermaßen, dass sie sein Pfarrhaus abfackeln wollten. Der Brandsatz landete zum Glück nicht im Fenster des Schlafzimmers, sondern darunter an der Außenwand. Die jüdische Gemeinschaft sieht in Manfred dagegen einen Kämpfer gegen Antisemitismus und hat ihm deshalb einen ehrenhaften Preis verliehen.
Was also liegt näher, als Manfred zu befragen.
Ich habe Glück. Er nimmt sofort ab.
»Jens! Na, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Wie geht es? Immer noch wegen der Sache in Himmelstal unterwegs?«
»Ja und nein. Die alte Sache um Oliver Bender ist medial abgeschlossen. Aber ich bin da an etwas Neuem dran. Deshalb rufe ich dich an. Sag mal, sind dir die Namen ›Heinrich Schlüter‹ oder ›Erneuerte Heimat‹ schon mal begegnet?«
Ich höre mein Gegenüber tief einatmen und spüre auf der anderen Seite der Leitung eine gewisse Spannung. So, als ob es zu Knistern begonnen hat.
»Ja, das kann man wohl sagen. Der Eichenhof Schlüters liegt in meinem Gemeindebezirk.«
Ich habe also einen Treffer gelandet.
»Das ist ja Klasse. Du könntest mir sehr helfen. Könnte ich zu dir kommen und wir fahren gemeinsam dorthin?«
Wieder schweigendes Knistern.
»Jens, wenn es so einfach wäre. Was willst du denn dort?«
»Ich recherchiere in Sachen Rechtsextremisten. Eine Jüdin hat Probleme mit diesem Heinrich Schröder.«
»Eine Jüdin? Alle Juden. Und alle Türken. Und alle Ausländer. Und alle Deutschen, die nur halbwegs bei Verstand sind! Jens, Heinrich Schröder lebt mit seiner Gefolgschaft nicht ohne Grund einsam und abgeschieden mitten im Wald. Alle haben Probleme mit ihm.«
»Und du meinst, wir können ihn nicht besuchen?«
Manfred lacht.
»Du vielleicht, ich auf keinen Fall. Genau diese Gruppe habe ich in Verdacht, den Anschlag auf mich verübt zu haben. Wenn ich dort auftauche, wäre das Mindeste ein sofortiger Rauswurf oder sie hetzen ihre Hunde auf mich. Wenn du dort wegen einer Jüdin recherchierst, ist das, als wenn du in einem Bienenschwarm herumstocherst. Da fliegst auch du sofort raus. Als Journalist lassen sie dich ohnehin gar nicht erst auf das Gelände.«
Jetzt bin ich es, der einen Moment still ist. Sollte ich in eine Sackgasse geraten sein?
»Manfred, das hört sich schwierig an. Ich muss über diesen Schröder, seine Familie und den Eichenhof wenn möglich alles herauskriegen. Wenn ich dort schon nicht hinkomme, ist es dann wenigstens möglich, dich zu besuchen und du erzählst mir, was du weißt?«
Manfred lacht.
»Okay, das kann ich gerne machen. Du klingst eilig, also komm gleich heute Nachmittag. Bis fünf habe ich Konfirmandenunterricht. Ich sitze gerade an den Vorbereitungen. Nach dem Unterricht hätte ich maximal zwei Stunden Zeit.«
Wir verabreden uns.
Vermutlich infiziert von der öffentlichen Meinung war ich lange Zeit der Meinung, dass Pastoren nur sonntags arbeiten. Inzwischen bin ich besser informiert. Klar, auch Kirchenleute arbeiten mehr oder weniger engagiert, viele von ihnen kommen aber locker auf fünfzig oder gar sechzig Stunden die Woche. Bei Manfred sind es vermutlich noch mehr. Ich freue mich deshalb, dass ich ihn schon heute besuchen kann.
»Ich arbeite im Leben und ich lebe bei der Arbeit!« hat er in einem der Interviews einmal gesagt. »Ich habe nie verstanden, dass ich auf meine ›work-life-balance‹ achten soll. ›Work‹ und ›life‹ sind doch kein Gegenüber! Ich lebe schließlich auch, wenn ich arbeite!« Auf dieses Zitat hin bekam ich damals einige Zuschriften von Lesern, die meinten es sei schädlich für Arbeitnehmer und Gewerkschaften, wenn wir so etwas abdrucken. Leute, die keine Ahnung vom wahren Arbeitsleben hätten, sollte unsere Zeitung nicht unterstützen.
*
Nach meinem Telefonat mit Manfred geht mir der Artikel um das Tagungshaus wesentlich schneller von der Hand. Meine Gliederung spreche ich zur Sicherheit noch einmal mit dem Ressortchef der Online-Ausgabe ab.
Meinen Chef Florian mit Zwischenergebnissen zu konfrontieren, wäre Zeitverschwendung. Er will die Auflage steigernde Artikel sehen, mehr nicht. Außerdem ist er häufig unterwegs. Termine mit Büffet und Catering liebt er besonders, allemal wenn dort VIPs verkehren, die sich mit ihm fotografieren lassen. Um nicht fies und illoyal zu wirken muss ich ergänzen, dass Florian Heitmann vielleicht nicht so viel wie ein engagierter Pastor, aber doch relativ regelmäßig und effektiv arbeitet. Unser Verlagshaus hat es vor allem ihm zu verdanken, dass wir mit den Zeitungen mehrerer Landkreise und der Online-Redaktion schwarze Zahlen schreiben und unsere Gehälter pünktlich überwiesen werden. Ich vermute, dass viele der wichtigen Deals für unser Verlagshaus gerade an jenen Büffets plus abendlicher Cocktailbar verabredet werden – in Ergänzung mit einem Dimple-Drink bei Vertragsabschluss im Büro des Chefs. Als wolle er unbedingt dem Klischee eines coolen Chefreporters entsprechen, hat Florian den Whisky in seinem Schrank versteckt.
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Beim Dönermann gönne ich mir gegen zwölf eine Dönertasche, radle dann zu meiner Wohnung und mache eine kleine Mittagspause. Zeitung lesen, für zehn Minuten einnicken, dann sofort weitermachen – so mag ich es und spüre neue Kraft. Noch ein schneller Espresso aus der Maschine und ich starte meinen Golf IV für die Fahrt nach Unterlüß.
Mein Auto ist zwar ehr eine graue Maus, aber zuverlässig und pflegeleicht. Gerade wenn man nicht auffallen will, sollte man keinen teuren, edlen, roten oder weißen Schlitten fahren. Grau passt immer.
Als ich die B4 verlasse, stecke ich bereits seit mehreren Kilometern mitten in einem riesigen Waldgebiet. Jetzt aber, abseits der Durchgangsstraßen, umschließt mich die grüne Lunge unseres Bundeslandes von allen Seiten. In frischem Grün präsentiert sich mir der Wald heute allerdings nicht. In dieser Region hat es Anfang der Siebziger Jahre einen verheerenden Brand gegeben. Dörfer und Höfe mussten damals evakuiert werden und die Löscharbeiten hatten Wochen gedauert. Inzwischen ist der anschließend aufgeforstete Mischwald gewachsen. Trotzdem werden die meisten Flächen weiterhin mit Nadelwald bewirtschaftet. Vermutlich bestimmt auch im deutschen Wald der Profit den Takt und die Musik schreiben die Konzerne.
Egal ob Laub- oder Nadelbäume, der Wald zeigt sich heute zu beiden Seite der Straße dunkel, dicht und irgendwie feindlich. Die kahlen Stämme und Äste der Buchen, Birken und Eichen wirken genauso abweisend wie die schwarzen Kiefern, die wie eine Armee schlanker Krieger in Reih und Glied aufgestellt wurden. Anders als gestern und vorgestern ist es heute trocken. Die Straße lässt sich gut befahren und die Sicht ist gut. Trotzdem beschleicht mich in diesen schier endlosen dunklen Wäldern ein ungutes Gefühl. Nein, vor dem Wolf graut es mich nicht. Der hat sich zwar seit Jahren in dieser Region verbreitet, wird sich aber vermutlich hüten, auf Menschen loszugehen. Es ist vielmehr ein unbestimmbares inneres Warnsignal, was sich da meldet. »Dieser Wald ist nicht dein Lebensraum. Hier gelten andere Regeln. Wer hier bestehen will, muss stark sein. Hier gehörst du nicht hin!« So oder ähnlich klingt das Echo dieses Waldes in mir, selbst im Vorbeifahren.
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