Miriams Baby. Hermann Brünjes
»Wie kommt ihr darauf?«
»An besagtem Tag wurde ein Kastenwagen vor dem Haus gesehen. Zwei Männer saßen lange Zeit darin ohne auszusteigen.«
»Es könnten also die Entführer gewesen sein? Gibt es ein Nummernschild, Personenbeschreibungen oder so etwas?«
»Fehlanzeige. Nur drei Anwohnern ist das Fahrzeug aufgefallen. Keiner von ihnen hat sich etwas Brauchbares gemerkt.«
»Aber wie konnten die Babys einfach so entführt werden?«
»Das eine Baby schlief auf der Wiese vor dem Haus im Kinderwagen, das andere stand nur ganz kurz unbeaufsichtigt im Buggy vor der Wohnungstür im ersten Stock.«
»Da müssen die Entführer eine Menge Glück gehabt haben! Gibt es Lösegeldforderungen?«
»Ebenfalls Fehlanzeige! Eine der Mütter ist alleinerziehende Verkäuferin. Sie hat noch eine kleine Tochter. Die Eltern des andern Babys haben noch zwei Kinder im Kindergartenalter und leben von Hartz IV. Bei beiden gibt es also nichts zu holen.«
»Was ist mit sexuellen Motiven?«
Mir wird übel wenn ich so etwas auch nur denke. Wie kann man Kleinkinder oder gar Babys missbrauchen? Das ist einfach nur pervers. Allerdings, wenn jemand Babys tötet und sie in einen Fuchsbau steckt, erscheint auch alles andere möglich.
»Die können wir ausschließen. Der oder die Täter haben die Kinder ausgezogen, vermutlich um Spuren zu vernichten, und sie dann einfach entsorgt. Du hast ja wohl in eurem Konkurrenzblatt gelesen, wie.«
Ich spüre, dass meinem Freund das Thema unangenehm wird. Er hat ja recht. Wir treffen uns seit langer Zeit endlich wieder und essen und klönen gemütlich. Da sollten berufliche Probleme Nebensache sein. Wir haben gegessen – inzwischen sind unsere Teller leer.
»Noch ein Bier?«
Wir bestellen uns noch ein Alsterwasser. Er fragt mich nach einer neuen Beziehung. Ich halte mich zurück. Von Maren Bender weiß er nichts und muss auch nichts wissen. Er hat den Fall damals mit Sicherheit in den Medien verfolgt, mir ja sogar einige Tipps gegeben. Ich will aber jetzt nicht schon wieder in ein kriminelles Fachgespräch abrutschen.
Er erzählt mir von seinen Kindern. Ich frage nach seiner Frau und wie die Ehe so läuft. Alles gut, meint er, nur dass Frauen oft schwer zu verstehen und für ihn oft ein Geheimnis sind. Ach Schorse, wie ich dich da auf Anhieb verstehe ...
»Immerhin, ich bin aus Sicht meiner Kollegen ein seltenes Exemplar. Über 25 Jahre mit derselben Frau verheiratet! Das gibt es im gesamten Lüneburger Kommissariat kein zweites Mal – abgesehen von einem Inspektor in der Asservatenkammer. Die meisten Polizisten-Ehen gehen leider nach wenigen Jahren kaputt.«
»Wie bei den Journalisten.« Ich weiß, wovon ich rede.
*
Dunkelheit, schlechte Sicht, Nieselregen, Blätter auf der Straße, entgegenkommende Scheinwerfer – eine Fahrt über Land an einem Dezemberabend ist kein Vergnügen. Es wird bereits gegen fünf Uhr dunkel. Jetzt ist es kurz vor sieben.
In Himmelstal werde ich überrascht. Die alte Dorfkirche wird angestrahlt und leuchtet weihnachtlich. Alles Grau von gestern und von unterwegs ist vergessen. Die bunten Fenster sind von Innen erleuchtet. Ein Juwel, diese Kirche!
Drinnen geht es gänzlich anders zu als in jenem Gottesdienst, den ich hier im Sommer erlebt habe. Die jungen Leute aus der Hausgemeinde sitzen in den ersten zwei Reihen, dahinter mindestens fünfzig Konfirmandinnen und Konfirmanden. Als ich komme und mich in die Reihe hinter die Jugendlichen setze, ist es unruhig. Viele quatschen, einige albern herum. Wie man es von »Konfis« kennt. Einige Nachzügler stürmen in die Kirche, als gehöre sie ihnen. Heilige Gefühle bekommt angesichts des sakralen Raumes jedenfalls niemand. Auch die antiken Kronleuchter, die Wandleuchten, die Kerzen am Altar oder der angestrahlte Corpus Jesu am Kreuz werden von den Jugendlichen vermutlich kaum wahrgenommen. Die Nachzügler quetschen sich in eine bereits voll besetzte Bank.
Christian scheint für diese Andacht zuständig zu sein. Er läuft vorne hin und her, verteilt noch ein paar Liederbücher und sortiert eine überbelegte Reihe um. Vor mir sitzen zwei ältere Jugendliche, vermutlich Mitarbeiter aus der Gemeinde dieser Konfirmanden. Einen dazugehörigen Pastor sehe ich nicht.
Mit einigen Minuten Verspätung geht es los. Christian baut sich vorne auf. Er sagt zunächst nichts, schaut nur in die Gruppe. Das Wunder passiert. Als drehe man den Lautstärke- Knopf am Radio, wird es langsam leiser. Als Christian seine Ansagen macht, ist es nach wenigen Sekunden still. Die Gruppe ist erst vorhin vor dem Abendessen mit einem großen Reisebus angereist. Wie die Andacht läuft, weiß also niemand. Ein Heft hilft, die Texte mitzusprechen und die Lieder mitzusingen.
Am elektrischen Klavier sitzt Jakob. Er ist mir gestern kaum aufgefallen. Vielleicht ist er der ruhige Pol in der aktuellen Hausgemeinde. Klavierspielen kann er jedenfalls, zumindest so, dass man mitsingen kann. Anna Lena steht neben dem Klavier und leitet den Gesang. Es sind durchgehend neue Lieder, einige in Englisch. Ich habe den Eindruck, die Konfis möchten zwar, können aber nicht so recht mitsingen, da die Lieder ihnen fremd sind. Trotzdem, jetzt sind sie voll da ...
Christian führt durch die Andacht. Aufstehen, Hinsetzen, das gibt es auch hier. Anna Lena ist heute mit einer Auslegung zu einem Bibeltext dran. Wie alt mag sie sein? Ich schätze achtzehn.
Sie steht dort, als habe sie nie etwas anderes gemacht. Souverän erzählt sie den Jugendlichen etwas von ihrem Glauben. Sie bezieht sich dabei auf den Spruch für die erste Adventswoche. »Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer!« In mir klingeln Erinnerungen aus meiner Pfadfinderzeit. Auch Ewald liebte diesen Vers aus den Alten Testament.
Anna Lena macht es hervorragend. Sie schaut nicht nur auf ihr Manuskript, sie schaut auch die Konfirmanden an.
»Unmöglich! Ein König war noch nie bei dir zu Besuch, oder? Noch nicht mal ein Präsident oder ein Minister. Die gehen doch nur zu Ihresgleichen ...« Anna Lena beschreibt das unglaubliche Ereignis von Weihnachten im Bild des Propheten Sacharia. Weihnachten als Fest der Kleinen Leute, die ganz großen Besuch bekommen, Besuch von Gott, dem Chef und König vom Ganzen. Welche Aufwertung jener, die sonst nichts zu melden haben! Welche Liebe zu den einfachen Leuten! Anna Lena versteht es richtig gut, das Interesse für Jesus als diesen König zu wecken. Besonders als sie dann von sich selbst erzählt, spitzen alle die Ohren. Ich auch.
»Ich hatte mal ein echt mieses Selbstbewusstsein. In der Schule wurde ich von einigen Mädels gemobbt. Niemand fand mich nett oder interessant und wollte meine Freundin sein. Die Jungs sind auch nur auf die Tussis in unserer Klasse geflogen. Ich aber war eher eine graue Maus. Dann ging ich nach der Konfirmation in den Jugendkreis. Mehr und mehr befasste ich mich mit Jesus – und heute stehe ich hier vor euch! Das ist allein deshalb möglich, weil Gott zu mir gekommen ist, ausgerechnet zu mir, der ehemaligen grauen Maus.«
Schade, dass ich hinten sitze und deshalb die Gesichter der meisten Jugendlichen nicht sehen kann. Jene, die ich von der Seite sehe, sind aufmerksame, gespannte, ja gefesselte Gesichter. Es ist mucksmäuschenstill. Alle hören zu. In der Reihe vor mir stößt ein Junge in Kapuzenpullover seinen Nachbarn an und will eine Bemerkung machen. Der jedoch weist ihn zurecht: »Still!« Ob das Weihnachtswunder der Stillen Nacht bereits hier und heute beginnt?
Ich bin beeindruckt. Jetzt verstehe ich, was Theo Beyer meinte, als er davon sprach, dass die Hausgemeinde das »Herz des Hauses« sei und die Gäste auf die jungen Leute oft mehr hören als auf die Profis.
Nach einer halben Stunde ist die Andacht vorbei. Der Abgang hat es allerdings noch einmal in sich. Sie nennen es »Shake-Hands-Kette«. Einer beginnt, alle marschieren los und jeder wünscht jedem per Handschlag einen guten Abend. Bei über fünfzig Leuten dauert das. Nicht nur die Hand kommt ins Schwitzen. Eine junge Frau stellt sich mir als Pastorin der Gruppe vor. Ich hatte gedacht, sie sei ehrenamtliche Mitarbeiterin oder gar eine ältere Konfirmandin. Bin eigentlich ich in den paar Jahren so alt geworden? Oder sind Pastorinnen heute so jung? Oder beides?
Die Konfis