Miriams Baby. Hermann Brünjes

Miriams Baby - Hermann Brünjes


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mit »Jesus lebt in Himmelstal« und er müsse es wegschieben, damit das Leben weitergeht. Dabei gibt es noch keine einzige Notiz – mal abgesehen von einigen Gedanken in meinem Kopf.

      Ich hatte mir bereits im Sommer vorgenommen, einmal etwas über die christliche Gemeinschaft im Tagungshaus von Himmelstal zu machen. Mit tausenden Gäste-Übernachtungen leisten sie dort einen spürbaren Beitrag zur touristischen Bedeutung unseres schönen Heide-Kreises. Durch den Gästebetrieb ist das kleine Dorf Himmelstal in Deutschland und darüber hinaus bekannt. In Indien unterstützt der Träger des Tagungshauses viele Bildungseinrichtungen seiner Partner dort. Um es kurz zu machen: Bei uns im Landkreis wissen die Leute gar nicht, welcher Schatz im kleinen Himmelstal greifbar neben ihnen liegt. Das sollte sich dringend ändern.

      Auf dem Weg von der Redaktion nach Hause, langsam vor mich hinradelnd, überlege ich noch, ob ein zweiter Grund mich ins kleine Dorf Himmelstal treibt. Maren Bender heißt sie. Seit ihr Mann wieder beerdigt wurde, habe ich sie weder gesehen noch mit ihr gesprochen. Vermutlich hat sie keinerlei Interesse an mir. Aber mir geht sie nicht aus dem Sinn.

      *

      Den Nachmittag verbringe ich mit Recherchen im Internet. Zwar habe ich einen Schreibtisch im Verlagshaus, muss jedoch nicht unbedingt anwesend sein. Zwei freie Mitarbeiterinnen nutzen meinen Arbeitsplatz ebenfalls. Je mehr ich zuhause arbeite, desto mehr Möglichkeiten der Präsenz im Verlag haben diese beiden Kolleginnen. So jedenfalls meine Ausrede ...

      Das »Tagungshaus mit Herz« hat eine gut aufgemachte Internetseite. Es gibt viel zu stöbern. Bei meinem letzten und ehr zufälligem Besuch dort, habe ich bereits verstanden, was mit dem Kürzel »HG« gemeint ist. Hausgemeinde. Das sind junge Menschen, die dort einen Freiwilligendienst leisten. Sie leben in Gemeinschaft zusammen, arbeiten im Gästebetrieb, halten Gebäude und Grundstück in Schuss und machen Andachten in der Kirche. Ich bin gespannt zu hören, was sie von Weihnachten halten ...

      Am späten Nachmittag rufe ich eine der angegebenen Nummern an. Nach mehrfachem Klingeln nimmt jemand ab. Im Hintergrund klappert Geschirr und scheppert ein Radio. Vielleicht bereiten sie das Abendessen vor und lassen Musik laufen. Eine junge Frauenstimme meldet sich.

      Ich bitte sie, mir ihren Chef ans Telefon zu holen.

      »Oh, welchen meinen Sie? Den vom Gästebetrieb oder unseren Pastor?«

      »Na, den Leiter vom Ganzen!«

      Ich bekomme eine andere Nummer, wähle erneut und habe Erfolg.

      »Theo Beyer.«

      Den Namen dieses Leiters höre ich das erste Mal. Aber ich bin richtig verbunden. Der Mann ist der Stimme nach Mitte oder Ende dreißig. Wir verabreden uns für morgen Vormittag gegen elf Uhr.

      Dienstag, 3.12.

      Als wären Landschaft und Orte mir fremd, so erscheint mir die Anfahrt. Nein, nicht fremd. Farblos, verlassen, triste und kahl trifft es eher. Diese Strecke bin ich oft gefahren, zuletzt Ende August. Der Wald, die Felder, Dörfer und Straßen sind mir bekannt – und doch tauche ich jetzt in eine Welt ein, die ich anders in Erinnerung habe, frischer, freundlicher, sommerlicher. Das gelbe Ortsschild ist der einzige Lichtpunkt, als ich hinab ins Bachtal mit der Wassermühle fahre. Knorrige Eichen und kahle Linden ragen schwarz in den Himmel. Ihre Äste wirken vor dem dunkelgrauen Hintergrund der Wolken irgendwie gespenstisch. Die Teiche und der zur Mühle gehörende Wasserlauf liegen neben der feuchten Asphaltstraße wie schwarze Löcher im Universum. Ein Hund streunt vor der Landbäckerei herum. Vielleicht sucht er nach Brotresten. Gleich zweimal kreuzen Katzen die Straße, eine schwarze und eine braun gefleckte. Ich muss bremsen. Abergläubisch bin ich nicht. Ich vergesse auch immer die Richtung, in der die schwarze Katze über die Straße laufen muss, damit es gefährlich wird. Außerdem beweisen diverse platt gefahrene Katzen auf unseren Straßen, dass vor allem wir gefährlich sind. Ob auch Katzen abergläubische Weisheiten tradieren? »Mensch von rechts bringt Schlecht’s, Mensch von links, Glück bringt’s.«

      Einige Autos kommen mir entgegen, alle mit Licht, obwohl es Vormittag ist. Kein Mensch ist auf der Straße. Die Feldsteinkirche wirkt inmitten der kahlen Eichen nicht mehr einladend und idyllisch wie im lichten Sommer, sondern abweisend wie eine Trutzburg im dunkelsten Mittelalter. Man kann sich jetzt gut vorstellen, dass der heutige Glockenturm damals als Wehrturm gute Dienste leistete.

      Ich parke meinen grauen Golf IV vor der Kirche. Das Hinweisschild für einen Besinnungsweg ist nach dem Ortsschild der zweite Farbklecks. An der Kirche beginnt der »Auferstehungsweg«, ein Angebot für Pilger, Natur- und Kunstfreunde, die sich mit den biblischen Ostergeschichten, sich selbst und der Natur auseinandersetzen wollen. Im nächsten Ort gibt es ein Kloster. Dort endet dieser meditative Weg mit Bildern des Künstlers Werner Steinbrecher nach vierzehn Stationen. Der durchsichtige Kasten am Pfosten der Station enthält keine Flyer mehr. Vermutlich ist die Saison für Pilger längst vorbei.

      Ob sie irgendwann auch noch einen »Weihnachtsweg« installieren? Das wäre doch mal eine Idee. Für meine Weihnachts-Recherche käme ein solches Projekt zwar zu spät, aber vielleicht wird sie ja zum Auslöser dafür.

      Auch am Tagungshaus gegenüber der Kirche sehe ich keinen Menschen. Der Fachwerkgiebel wirkt bei trübem Licht abgewetzt und reparaturbedürftig. Die mächtige Säuleneiche davor hält ihre braunen Blätter fest, als seien es Kinder, die sie nicht loslassen möchte, weil sie um ihr Sterben weiß.

      Wieder amüsiere ich mich über das kleine Schild neben dem Eingang. »Luther war hier!« steht dort. Schon im November gab es Minusgrade. Jetzt hat der Weinstock, dessen Reben an der Wand hochklettern, keine Blätter mehr. Deshalb erkennt man schneller das kleine Wörtchen unter dem dicken Text es Schildes: »Nie«. Luther war hier – nie.

      Jens Jahnke dagegen war schon hier, wenn auch nur kurz. Ihm widmet allerdings niemand ein Schild. Ich drücke den runden Klingelknopf an der hölzernen Haustür. Hoffentlich ist jemand da.

      Durch die Scheiben der Tür sehe ich eine junge Frau aus einem Raum in den Flur und dann zur Haustür kommen. Sie ist schlank, hat lange dunkle Haare und trägt eine Brille mit braunem Rand.

      »Hallo, mein Name ist Jens Jahnke. Ich bin mit Ihrem Chef verabredet, mit Theo Beyer.«

      »Kommen Sie herein. Ich heiße Anna Lena und gehöre zur HG. Ich vermute, wir haben schon miteinander telefoniert.«

      Richtig, ich erkenne ihre Stimme. Sie öffnet die Eingangstür und ich folge ihr. Gut, dass ich inzwischen weiß, was »HG« bedeutet. Mir scheint, die Leute in diesem Tagungshaus verfallen der Versuchung vieler Gemeinschaften, sich über Abkürzungen und Insidersprache zu verständigen. Nichts dagegen – aber sobald jemand von außerhalb kommt, versteht man sich nicht mehr. Und ich komme von weit draußen! Jetzt wörtlich und was die christliche Szene angeht auch im übertragenen Sinn. Na, ich bin gespannt, was ich hier überhaupt verstehe ...

      Anna Lena bringt mich in eine Art Büro mit Esstisch. Dort sitzen mindestens zehn Personen. Vor dem Tisch auf dem Fußboden ist eine dicke Decke ausgebreitet. Dort liegt ein Baby auf dem Bauch und spielt mit einem bunten Clown. Eine junge Frau hockt daneben und hält das Kind bei Laune. Familienfreundlich, denke ich.

      Ein schlanker, dunkelhaariger Mann am Kopfende des Tisches steht auf und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. »Herr Jahnke, danke für Ihr Interesse! Ich bin Theo Beyer, der Leiter dieser Einrichtung.«

      Der Mann ist mir auf Anhieb sympathisch. Er ist schlicht in Jeans und Polohemd gekleidet, trägt einen kleinen Kinnbart und seine grüngrauen Augen leuchten im Licht der Deckenlampe. Er wendet sich nach unserer Begrüßung wieder der Runde am Tisch zu.

      »Herr Jahnke ist Journalist vom Kreisblatt. Er hat Interesse daran, unsere Arbeit einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Besonders interessiert ihn, was uns an Weihnachten wichtig ist.« Er wendet sich wieder an mich. »Und wir sind daran interessiert, Sie zu unterstützen und danken gleichzeitig, dass wir so die Chance bekommen, ein bisschen mehr von unserer ›Insel der Seligen‹ bekannt zu machen.«

      Allgemeines Schmunzeln und Nicken.


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