Miriams Baby. Hermann Brünjes

Miriams Baby - Hermann Brünjes


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      »Schorse!«

      »Jens! Was machst du denn hier?«

      Schorse, mit richtigem Namen Georg Martens, kenne ich noch aus meiner Zeit bei den Pfadfindern in der Nähe von Bremen. Wir waren damals dicke Freunde. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Er ging zur Polizei, ich zur Zeitung. Vor einigen Jahren haben wir wieder Kontakt bekommen und uns seitdem gelegentlich getroffen. Er ist in Lüneburg bei der Kripo gelandet.

      »Na, das muss ich dich ja wohl erst recht fragen. Du hast dein schönes Lüneburg verlassen und kommst in meine Provinzmetropole.«

      »Dienstlich, nur dienstlich!« Schorse lacht. »Ich muss als Zeuge zu einer Verhandlung wegen mehrerer Autodiebstähle. Wir haben einen Typen aus eurer schönen Stadt bei uns erwischt, als er einen BMW klauen wollte.«

      Schorse muss sich beeilen. Wir verabreden uns zum Mittagessen in der Innenstadt. Ich schwinge mich auf mein Stevens-Crossrad und düse in die Redaktion.

      *

      Den Artikel über Werner S. zu schreiben ist ein Kinderspiel. Meinem geschätzten Kollegen gestehe ich gerne zu, mal krank zu sein – aber das wird er nicht durch Arbeitsüberlastung. Er hört sich im trockenen Gerichtssaal die kleinen oder auch größeren Geschichten an, setzt sich hin und schreibt seine Artikel. Kein Gerenne, keine weiteren Recherchen, keine zusätzlichen Interviews, wetterunabhängig. Welch ein ruhiges Reporterleben!

      Allerdings nichts für mich! Ich brauche Abwechslung, Herausforderungen, Geheimnisse und manchmal auch Action.

      Dass ich seit über dreißig Jahren beim Kreisblatt hängengeblieben bin, lässt das Gegenteil vermuten. Okay, das mag auch an meiner notorischen Trägheit liegen, oder an meiner gescheiterten Ehe, oder weil sich ein paar Gelegenheiten zerschlagen haben. Es liegt jedenfalls nicht daran, dass sie mich zum Ressortleiter oder sonst wohin in besser bezahlte und dafür arbeitssparende Regionen befördert hätten. Im Gegenteil. Mindestens dreimal bin ich übersprungen worden. Die meisten Chefs in unserem Verlagshaus sind inzwischen viel jünger als ich, mal abgesehen von Chefredakteur Florian Heitmann. Kaum jemand glaubt es mir, weil fast alle auf der Karriereleiter nach oben klettern wollen. Trotzdem stimmt es: Die Arbeit als normaler Journalist an der Basis macht mir einfach unglaublich viel Spaß. Es stimmt natürlich, dass sich vieles wiederholt. Feuerwehr, Schützen, Kreis- und Rathauspolitik, Autobahn A39, der böse Wolf, Veranstaltungen, Vereine – und so weiter! »Immer dasselbe« sagen viele. Eben Käseblatt-Niveau. Mag sein. Aber es macht Spaß, den vielen verschiedenen Leuten zu begegnen, in unzählige Milieus und Lebensräume hineinzukommen und Denkweisen und Überzeugungen aller Art kennenzulernen. Ich liebe das. Genau deshalb ist mir auch die aktuelle Recherche um Weihnachten ein besonderer Genuss.

      Hinzu kommt meine Freiheit. Die Redaktionssitzung – sonst habe ich keine regelmäßigen Verpflichtungen. Gleitende, selbst bestimmte Arbeitszeit, keine Residenzpflicht, Spesenabrechnungen gemäß der Belege – fertig! Klar, wenn ich Termine ausmache, sollte ich die einhalten, will ich nicht alle Sympathien verscherzen. Aber wann und wo ich einen Termin mache, entscheide ich selbst. Das nenne ich Freiheit!

      *

      Besonders frei fühle ich mich, wenn ich auf meinem Fahrrad sitze. Ich spüre den Luftzug, komme voran und kann auch schmale Gassen und Fahrspuren nutzen. Meinen Golf lasse ich folglich so oft es geht vor dem Haus stehen. Energiesparen? Sicher, aber ein echter Klimafanatiker ist aus mir nie geworden, weder 2019 Jahre nach Christus noch 1 Jahr nach Greta Thunberg.

      Jetzt stelle ich mein Rad vor dem »Einstein« am Rande der kleinen Fußgängerzone ab und schließe es an eine Laterne. Stühle, Tische und Sonnenschirme sind längst weggeräumt. Im November gab es bereits Nachtfrost und auch der Dezember hat kühl und trübe begonnen. Nicht nur in den Dörfern, auch in der Stadt halten sich die Leute jetzt vor allem drinnen auf.

      Entsprechend voll ist der Gastraum des Bistros. Die rustikalen Tische sind vor allem mit Angestellten der umliegenden Büros besetzt. Sie genießen den günstig angebotenen Mittagstisch.

      Schorse sitzt an einem Zweiertisch direkt an der Wand.

      »Jens, hier!«, er winkt mir zu. »Bei mir ging es doch schneller als gedacht.«

      Wir bestellen beide das Gleiche, Schweineschnitzel mit geschmorten Zwiebeln, Champignons, Pommes und einem großen Alster.

      Es ist schön, einen so alten Kumpel wiederzusehen. Wir albern herum.

      »Schweineschnitzel! Da fällt mir unser Spanferkel ein!«

      Wir lachen beide, erinnern wir uns doch ausgesprochen gut an jene wilde Zeit bei den Pfadfindern. Jemand hatte uns ein Spanferkel gespendet. Beim Herbstmarkt hatten wir es portionsweise verkauft und über hundert Mark eingenommen. Und was haben wir damit gemacht? Wir sind hungrig und durstig in unseren Stammimbiss gegangen und haben Kotelett, Pommes und Bier für die gesamte Summe verzehrt. Auf Deutsch: Alles wieder versoffen und verprasst.

      Es ist wirklich schön, die alten Zeiten noch einmal aufleben zu lassen. Schorse und Jens in Kluft mit grauem Hemd und blauem Halstuch, Stammeslager, Wimpel, Nachtmarsch, Lagerbau, Knotenkunde, Feuermachen – ach, das waren wirklich tolle Zeiten.

      »Was macht wohl der kleine Schissie heute?«

      »Keine Ahnung. Vielleicht drillt er seine Urenkel mit Bibel und Schlüsselbund.« Wir lachen so laut, dass Leute vom Nachbartisch herübersehen.

      Wir hatten damals zwei »Führer«, ja so hießen die Ober-Pfadfinder immer noch, auch über zwanzig Jahre nach dem Führer. Besonders der kleine Schissie, der jüngere Bruder vom großen Schissie, war ein scharfer Hund. Wir hatten zu gehorchen und zu spuren. Wenn nicht, flog ein Schlüsselbund – oder eben, weil wir ja christliche Pfadfinder waren, eine dicke, kantige Bibel.

      »Und, Jens, woran arbeitest du gerade?«

      Die Frage kommt für mich etwas unvermittelt. Ich erzähle ihm von meinem Weihnachtsprojekt.

      »Na, da kannst du ja nahtlos an die Pfadfinderzeit anknüpfen! Weißt du noch, die Andachten mit Ewald?«

      Allerdings, wie könnte ich die kurzen aber eindrücklichen Andachten mit dem Nachfolger von Schissie je vergessen. Ewald war ganz anders. Er kümmerte sich um uns und interessierte sich für das, was wir gerne mochten. Als ich ihn, den inzwischen über Achtzigjährigen im Sommer besucht habe, fühlte ich mich in seinem Haus sofort wieder geborgen und angenommen.

      »Und woran arbeitest du? Welche Ganoven jagt ihr gerade? Ach nee, du bist ja inzwischen bei der Mordkommission. Also welche Mörder jagt ihr?«

      Schorse wird plötzlich ernst.

      »Wir jagen diesen Kindermörder. Aber wir kommen einfach nicht weiter!«

      Ich hatte davon natürlich gelesen, jeder hatte das. Und jede und jeden hatte es gegraust, vor allem in Gedanken an die eigenen Kinder. Im großen Waldgebiet an der Kreisgrenze hatte man zwei Babyleichen gefunden. Beide konnten bis heute nicht identifiziert werden. Oder doch? Vor mir saß der zuständige Kommissar.

      »Habt ihr die Babys inzwischen identifiziert?«

      Er zögerte, bevor er sprach.

      »Wir sind inzwischen sicher. Du musst es für dich behalten. Bloß nichts an die Presse!«

      Er lacht und als ich ihm mein okay gebe, weiß er, dass ich mein Versprechen halte.

      »In einem Hamburger Mietshaus werden zwei Babys vermisst. Leider haben wir wegen schlampiger Aktenführung und fehlender Vernetzung zwischen den einzelnen Dienststellen viel zu lange gebraucht, dies zu ermitteln. Bereits seit dem sechzehnten Oktober sind die Babys verschwunden, einfach weg. Anhand der DNA haben wir erst seit ein paar Tagen die Gewissheit, dass es sich um genau diese Kinder handelt.«

      Ich bin geschockt.

      »Waren es Geschwister?«

      »Seltsamerweise nicht. Sie wohnten einfach nur im selben Haus. Die Eltern hatten nichts miteinander zu tun. Sie kannten sich nur vom Sehen.«

      »Also


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