Das Corona-Trauma. Dr. Jens-Michael Wüstel
hat, besitzt die Kraft, ein Haus zu bauen. Wer Haus und Hof hat, kann andere Menschen einladen und ein Fest feiern usw.
Zunächst muss also die Basis, das Fundament der Pyramide gelegt werden, dann folgt der Aufbau zur Spitze hin. Erst nach den Grundbedürfnissen sind höhere Motive wirksam, die unser Leben bestimmen:
Glaube
Selbstverwirklichung
Ich-Entfaltung (Status, Anerkennung)
So wird nachvollziehbar, dass auch Gesellschaften, die „satt“ und zufrieden sind, nicht von den seelischen Folgen der Corona-Krise verschont bleiben. Im Gegenteil, ihnen bricht das sicher geglaubte Fundament weg (zumindest wird es in Frage gestellt). Menschen, die sich in ihrem Leben nie mit Einschränkungen, Not, Hamsterkäufen und akuter Bedrohung auseinandersetzen mussten, sind wahrscheinlich sogar anfälliger für die Folgen solcher Krisen. Wenn die Basis (s.o. die ersten drei Bedürfnisse) instabil wird, dann spielen klassische, moderne und postmoderne Bedürfnisse (Status, Anerkennung, Selbstfindung, Ich-Entfaltung) eine immer kleinere Rolle. Eben diese sind es jedoch, die unser Leben in den Wohlstandsländern bestimmen. Wer aber macht weiterhin Yoga, wenn das eigene Haus plötzlich brennt? Wer liest gemütlich einen Roman bei Kerzenlicht und Tee, wenn die Kinder vor Hunger schreien?
Selbstverständlich sind dies etwas übertriebene Beispiele. Sie sollen nur verdeutlichen, was in unserer Psyche geschieht. Da laufen nämlich uralte Programme ab, die uns schützen sollen. Damit wir überleben. Diese Gefühlsmuster sind in uns angelegt, obwohl wir sie als (moderne) Menschen oftmals gar nicht mehr brauchen. Warum aber rast unser Herz, wenn wir in der Achterbahn sitzen (die doch geprüft und sicher ist)? Warum erschrecken wir uns im eigenen Keller, wenn ein Besen umfällt? Warum zittern vor der Prüfung die Hände und sind feucht?
Corona reißt uns von den Füßen. Und jeder Mensch erlebt diese Zeit ein wenig anders. Manche werden schweigsam, ihnen verschlägt es (vor Schreck) die Sprache. Manche reden eher mehr, nur um sicher zu gehen, dass da jemand ist, der zuhört. Dann gibt es diejenigen, die sich zurückziehen und innehalten. Oder jene, die beinahe überaktiv in Schuppen, Garage, Haushalt werkeln. Viele Menschen sind traurig. Aber es gibt auch wütende Menschen, die sich dann oft bockig und uneinsichtig zeigen. Hinter all diesen Reaktionen stecken Ängste. Wir wollen essen und trinken, ein Zuhause haben. Und Corona bedroht dieses Bedürfnis. Wir wollen uns sicher fühlen. Ich will meiner Familie, dem Nachbarn, meinen Freunden vertrauen können. Und Corona bedroht dieses Bedürfnis. Ich will nach draußen gehen, mich zeigen, Umgang mit Menschen haben, zur Arbeit fahren, tanzen, feiern, lachen. Und Corona bedroht dieses Bedürfnis.
Wir werden sehen, dass das Corona-Trauma viele Facetten hat. Jeder Mensch hat seinen eigenen „wunden Punkt“. Oft sind es sogar alte Wunden, die durch die Krise förmlich aufgerissen werden. Hinter der Sprachlosigkeit des gereiften Mannes kann das zerrüttete Verhältnis zu den Eltern stecken, denen man als Jugendlicher nie sagen konnte, wie man sich fühlt. Die Vielrednerin will vielleicht die innere Verunsicherung überdecken, die schon lange vor Corona da war. Im Wütenden bricht sich der Wunsch Bahn, endlich wahrgenommen zu werden. Und hinter allen Reaktionen verbirgt sich letztlich Angst. Die Nuancen dieser Angst sind veränderlich, aber es geht immer um eine Existenzbedrohung. Genau hier setzt das Virus an. Ein unsichtbarer, lautloser Gegner hat sich in unser Leben (nicht nur in unseren Körper) geschlichen. Und er bedroht alle Bedürfnisse der beschriebenen Maslow-Pyramide.
Zusammenfassung:
Die Corona-Pandemie bedroht die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen. Von den basalen (individuellen) über die zwischenmenschlichen bis zu den ethischen und transzendentalen Motiven steht alles auf dem Prüfstand.
Corona
stellt unser Urvertrauen in Frage
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gibt das Gefühl, ausgeliefert und hilflos zu sein
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weckt unsere Urangst vor dem Tod
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stört die körperliche Gesundheit (nicht nur als Infektion)
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Die Pandemie als Chance?
Wir hören in diesen Tagen der Krise allerlei abstruse Äußerungen von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Da ist von einer möglichen Zeit „der Ruhe und Besinnung“ die Rede. Eltern könnten sich „mehr um ihre Kinder kümmern“ und „ihren Lieben nahe sein“ oder „mal durchatmen“. Ich halte nichts von dieser Romantisierung und Verniedlichung. Wer Corona als Bedrohung erlebt, kann nicht in sich gehen. Wer die alten Eltern nicht besuchen kann, wird sich vor allem um sie sorgen. Wer Kinder hat, denkt an deren Wohlergehen.
Und dennoch verstehe ich die Pandemie auch als Chance. In solchen Zeiten kommt nämlich zutage, was uns wirklich im Inneren ausmacht. Und wir treffen da auf Dinge, die nicht unbedingt schön sind. Die alten Mönche nannten sie „Dämonen“ und der Psychologe C.G. Jung sprach von „dunklen Seiten“ in uns. Mit etwas weniger Pathos können wir sie negative Denkmuster oder Glaubenssätze nennen. Vielleicht kommen Ihnen einige Sätze bekannt vor:
Ich tauge doch nichts.
Ich bin nur überempfindlich.
Ich kann doch nicht lieben.
Ich hätte es wissen müssen.
Ich bin wertlos.
Ich ziehe das alles an.
Ich versage immer.
Ich halte das nicht aus.
Ich habe es verdient.
Ich schaffe das nicht.
Ich bin unbedeutend.
Ich muss es allen Recht machen.
Ich schaffe das nicht.
Ich bin wehrlos.
Solche Muster und inneren Überzeugungen bilden sich meistens in der Kindheit aus. Nicht immer sind es dabei die Eltern, die sie in uns regelrecht „einpflanzen“. Oft sind auch wiederkehrende Erfahrungen mit anderen Angehörigen, im frühen Freundeskreis oder in der Schule prägend.
Wären diese Glaubenssätze dauerhaft präsent, dann käme es zu einer schweren, psychischen Störung. Um uns lebensfähig zu machen, bedient sich die Seele eines Tricks. Sie wehrt das Ungute oft ab, indem sie es umkehrt. Ein Mensch, der sich wertlos fühlt, sucht die dauerhafte Bestätigung außen. Eine Frau, die meint, beziehungsunfähig zu sein, wirft dem Partner ständig vor, sie nicht zu lieben. Ein Mann, der glaubt, er habe „es nicht drauf“, nimmt immer neue Herausforderungen an und will es beweisen.
Extremsituationen werfen uns hingegen auf uns selbst zurück. Die alltäglichen Schutzmechanismen versagen, und wir blicken plötzlich in den Abgrund. Es lohnt sich, genau hinzusehen. Da steht der Dämon in uns; ungeschminkt und ungeschützt. Ihre größte Macht beziehen die negativen, seelischen Kräfte dadurch, dass sie im Verborgenen wirken. Unter Belastung versagt dieses Versteckspiel. Wenn wir in der Krise ehrlich hinsehen, dann können wir die Spreu vom Weizen trennen. Was macht mich aus? Im Guten und im Schlechten? Wovon lasse ich mich mehr tragen und bestimmen? Pflege ich die unangenehmen Seiten ausreichend, damit sie nachreifen können? Kann ich mich annehmen, wie ich bin?
Es ist nicht einfach, sich diesen Aspekten des Ich zu stellen. Wer gibt schon gern zu, dass sie/er neidisch ist? Dass der Ehrgeiz eine große Rolle im eigenen Leben spielt? Dass man oft angibt und prahlt? Dass man andere Menschen klein macht? Krisen bieten hier enorme Chancen, ehrlich mit sich zu sein, mit sich „ins Reine“ zu kommen. Natürlich ist dies nicht möglich, wenn