Das Corona-Trauma. Dr. Jens-Michael Wüstel
oder ein Sprachmemo auf dem Smartphone aufzunehmen. Es wird eine Zeit kommen, da die Kraft, sich den eigenen, dunklen Seiten zu nähern, wieder da ist. Bei starken, seelischen Reaktionen brauchen Sie unbedingt psychotherapeutische Hilfe, um den Zeitpunkt für dieses „Face it“ richtig zu wählen. Wird die Konfrontation nämlich zu früh durchgeführt, besteht die Gefahr der Retraumatisierung und der erneuten Destabilisierung. Erfolgt sie zu spät, dann „bleibt alles beim Alten“. Die Psyche kehrt dann ihre Altlasten durch Verdrängung und Ablenkung wieder unter den Teppich.
Zusammenfassung:
Die Corona-Krise bietet auch Chancen. Sie liegen in der Bewusstwerdung verborgener Konflikte und Aufdeckung neuer Ich-Facetten. Wir müssen uns ihnen allerdings sehr behutsam annähern.
Corona
demaskiert seelische Altlasten
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fördert den ehrlichen Blick auf uns selbst
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entlarvt Energieräuber
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deckt die "wahren Schätze" in uns auf
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1. Das Virus verletzt uns
Natürlich stehen bei einer Infektion zunächst die körperlichen Symptome im Vordergrund. Die Erkrankten haben Schmerzen und unter bestimmten Voraussetzungen ist die Infektion sogar lebensbedrohlich. Selbstverständlich kümmern wir uns zunächst um diese akute Bedrohung. Auch bei einfachen Erkältungen handeln wir nicht anders. Erst auskurieren, dann kommt alles andere. Bereits im Fall einer Erkältung wissen wir, dass uns im Beruf eine Menge Arbeit erwartet, die nachgeholt werden muss. Im Haushalt ist vieles liegen geblieben usw.
Beim SARS-CoV-2 verhalten wir uns nicht anders. Nur eben mehrere „Alarmebenen“ höher. Zunächst muss die körperliche Bedrohung abgewehrt werden. Unter diesem Zeichen stehen alle Maßnahmen, die in der akuten Phase einer solchen Pandemie ergriffen werden. Die Ressourcen werden fast ausschließlich dafür bereitgestellt. Vermögende Länder beschäftigen sich außerdem bereits zu diesem Zeitpunkt mit möglichen wirtschaftlichen Folgen, den Verteilungsfragen und können hierfür finanzielle Mittel vorsehen.
Wenn diese Phase zu Ende geht (bei länger andauernden Pandemien auch schon währenddessen), treten immer mehr die psychischen Folgen der Gesamtsituation in den Vordergrund. Die Anzahl der hiervon Betroffenen ist dabei regelhaft höher als die der akut Infizierten. Denn das Bedrohungserleben betraf ja auch die nicht Erkrankten. Wir können das mit Handgreiflichkeiten auf dem Schulhof vergleichen. Wenn ich unterlegen war und eine (eher harmlose) Ohrfeige oder einen Rempler kassiert habe, dann können die erlebte Demütigung und das Schamgefühl hinterher viel verletzender wirken, als der erlittene, körperliche Schaden. Dann schmerzen quasi die seelischen Folgen mehr als die körperliche Verletzung.
Corona ist ein Psycho-Virus. Es wirkt auf besondere Weise, indem es die Integrität auf allen Ebenen unseres Daseins in Frage stellt. Das gilt auf der Mikroebene der inneren (seelischen) Stabilität. Und es gilt ebenso auf der Mesoebene zwischenmenschlicher Beziehungen (Partnerschaft, Freunde, Beruf etc.). Schließlich wird auch die Makroebene der Gesellschaft (Sozialsysteme, Kultur, Werte etc.) „infiziert“.
An dieser Stelle müssen wir uns fragen: Wie läuft eine solche Störung ab? Was geschieht dann in der Psyche? Wo greift ein belastendes Ereignis an? Wie kommt es zu einer (eventuell dauerhaften) Destabilisierung?
1.1 CASS – Eine neue Trauma-Form?
Nach meinen eigenen Erfahrungen aus der Praxis, nach Durchsicht von Berichten im Internet sowie dem Austausch mit KollegInnen scheint es bei traumatischen Störungen infolge der Corona-Erkrankung einige Besonderheiten zu geben. Ich denke, dass diese Eigenheiten es rechtfertigen, von einem eigenen (psychopathologischen) Syndrom zu sprechen. Ich nenne es deshalb hier CASS, das Corona-assoziierte Stress-Syndrom.
Offenbar hat es nach der Spanischen Grippe vor hundert Jahren ähnliche, psychische Störungen bei den Überlebenden gegeben, allerdings ist die Befundlage dünn, und Zeitzeugen wurden erst befragt und untersucht, als das Ereignis bereits fünfzig Jahre zurücklag. Es wurden bei ehemaligen Erkrankten sogar seelische Spätfolgen berichtet und Veränderungen an Hirnstrukturen gefunden. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es in der Tat auch für das SARS-CoV-2 einige Hinweise auf direkte, nervenschädigende Auswirkungen. Es wird später Aufgabe der Forscher sein, die Parallelen (und Unterschiede) zwischen einer Grippe- und Corona-Pandemie herauszuarbeiten.
Was ist also anders beim CASS? Warum können wir Corona-assoziierte, seelische Störungen nicht einfach zu Folgen einer „ganz normalen“, traumatischen Erfahrung erklären und entsprechend behandeln? Zunächst einmal ist anzumerken, dass Viruserkrankungen für Laien nur schwer zu verstehen sind. Deshalb wirken sie besonders bedrohlich, ja fast unheimlich. Wie können biologische Partikel, die für sich selbst nicht lebensfähig und nochmals sehr viel kleiner als Bakterien sind, dem Menschen überhaupt so gefährlich werden? Warum kommt es in den letzten dreißig Jahren zu stärkeren genetischen Veränderungen bei Viren und zum Überspringen vom Tier zum Menschen? Wo im Körper greifen diese Partikel an? Warum gibt es keine Gegenmittel wie Antibiotika?
Der Gegner ist für uns zudem unsichtbar. Dieser Umstand des unbemerkten Anschleichens und Überraschens triggert Urängste an. Wasser, Wind, Beben, Raubtiere u.ä. „spüren“ wir unmittelbar, und die Folgen ihrer Wirkung/ihres Angriffs begreifen wir. Hingegen werden wir von Corona eher unbemerkt überfallen. Im ersten Moment merken wir nicht einmal, dass der „Gegner“ uns bereits gepackt hat. Schon diese Überlegungen zeigen deutlich, dass die Corona-Krise unsere bisherigen Abwehr- und Bewältigungsstrategien überfordert bzw. sogar umgeht.
Schon das Bedrohungsgefühl ist eine direkte, seelische Folge des Coronavirus. Es gibt Menschen, die sich bereits krank fühlen, obwohl sie gar nicht infiziert sind. Angst und Sorge verursachen nämlich Leid. Und sehr quälend ist dabei das Empfinden, dass unsere Mitmenschen – von denen wir uns doch Unterstützung, Zuspruch und Trost erwarten – dann sogar zu (potentiellen) Widersachern werden. Meine Bedürfnisse werden scheinbar von anderen missachtet: Ich möchte ja getestet werden. Aber es gibt zu wenig Tests… Ich will doch sicher gehen, dass ich im Notfall versorgt bin. Aber die intensivmedizinischen Pflegeplätze sind begrenzt… Ich brauche Dinge des täglichen Bedarfs. Aber die Regale sind ausgeplündert…
Unser Unterbewusstsein gaukelt uns vor, wir seien von Konkurrenten (oder gar Feinden) umgeben. Von ihnen scheint schließlich die Gefahr auszugehen (Infizierte, Hamsterer etc.). Das Virus entsteht schließlich nicht einfach in uns. Nein, wir werden von anderen angesteckt! Hier wirken mehrere Kräfte in uns, die stark belastend sind.
Von Natur aus möchten wir anderen Menschen vertrauen und verlassen uns darauf, dass jede(r) im sozialen Gefüge eine Aufgabe erfüllt. Schwächeren wollen wir grundsätzlich helfen. Nun sind jedoch gerade diese Schwachen (die Infizierten und vor allem unerkannt Infizierten) eine Bedrohung für uns und unsere Familie. Die Psyche steht damit vor einem großen Dilemma, muss sie hier doch eine enorme Überwindungsarbeit leisten, damit wir – im wahrsten Sinn – gesellschaftsfähig bleiben. Wir beginnen abzuwägen, ob und mit wem wir in Kontakt treten. Und zwar auf die eher misstrauische Weise. Je länger ein solcher Zustand dauert, umso mehr laufen wir Gefahr, dass sich die Kompensations- und Regenerationskräfte der Seele erschöpfen. Wenn der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit lange unerfüllt bleibt, kann es zu allen Arten einer Deprivation kommen. Wir fühlen uns ausgegrenzt und ausgestoßen. Bei manchen Menschen brechen sich unkontrollierte Affekte Bahn, andere ziehen sich zurück. Schließlich kann sogar die Solidargemeinschaft zerbrechen oder fragmentieren. Dann gibt es nur noch Starke und Schwache, Gewinner und Verlierer, Skrupellose und Rücksichtsvolle.
Eine dritte Besonderheit des CASS ist – wie bereits angedeutet - die gleichzeitige Wirkung auf mehreren Ebenen. Es verletzt uns sowohl körperlich als auch seelisch. Es wirkt auf allen Makroebenen der Gesellschaft und auf der Mikroebene des Individuums: Das Virus kann