Das Corona-Trauma. Dr. Jens-Michael Wüstel
ein Tabu, es überschreitet eine Grenze, stört die Integrität. Gegen unseren Willen nimmt etwas Besitz von uns. Damit wird unser Dasein bedroht. Infizierung war zu allen Seiten auch gleichbedeutend mit Unreinheit. Wir laufen (gefühlt) Gefahr, verstoßen zu werden. Und schließlich stört CASS unser gesamtes, soziales Gefüge. Einfachste Formeln (die uns unseren „Platz“ zuweisen) gelten plötzlich nicht mehr: Status, Urlaub, Geld, Arbeitsplatz, Altersvorsorge, Wohnen. Alles kommt auf den Prüfstand. Dabei sind wir doch soziale Wesen. Und plötzlich sind wir am sichersten, wenn wir uns allein in der Wohnung verschanzen. Wir wollen Kontakt, aber die Isolation ist die gebotene Option. Solche Paradoxien müssen seelisch erst mühsam verarbeitet werden. Sie werden unser künftiges Zusammensein empfindlich stören.
Zusammenfassung:
Das CASS (Corona-assoziierte Stress-Syndrom) wirkt auf vielen Ebenen und stört psychische Funktionen erheblich. Es ist insofern ein neuartiges Syndrom, da gleichzeitig das individuelle Vertrauen (und Urvertrauen) und die körperliche sowie seelische Unversehrtheit angegriffen werden. Zudem versagen die in uns angelegten Regulationsmechanismen, und grundlegende, soziale Normen werden in Frage gestellt. Das CASS bezieht einen Teil seiner Wirkkraft aus den (für die Psyche) unlösbaren Paradoxien, die es selbst verursacht.
1.2 Chaos im Kopf
Belastungen führen immer zu Anpassungsreaktionen. Auch die Seele versucht, das Erlebte einzuordnen. Corona wird als bedrohende Erkrankung erlebt. Was also fühlen wir? Warum reagieren wir auf eine (für uns) so typische Weise? Wahrscheinlich kennen Sie das Phänomen. Die eine kaut Nägel, der andere wippt mit den Füßen oder nestelt an Hemdknöpfen herum. Was wir da beobachten, sind Entlastungsreaktionen, die bei kleineren oder größeren Belastungen auftreten können. Solche Stress-Erlebnisse können ganz alltäglich sein: Ärger mit Kollegen, Streit mit dem Partner, Zeitdruck. Es ist jedoch auch denkbar, dass wir in eine Situation massiver Bedrohung und Hilflosigkeit geraten. Traumatische Erlebnisse sind für den Organismus – Körper und Geist – immer ein maximaler Stress. Es kommt zu einem Gefühlschaos in uns. Da wir Chaos nicht verstehen können, reift in uns schnell der Wunsch, sich „über etwas klar zu werden“. In den Schilderungen der Patienten fallen dann oft die Worte „Chaos“, „unklar“, „Durcheinander“ und „Ordnung“:
Diese Corona-Sache hat ein totales Durcheinander in meinem Kopf verursacht. Ich habe große Schwierigkeiten, mir über meine Empfindungen klar zu werden. Eben denke ich noch daran, was ich einkaufen sollte, dann mache ich mir Sorgen über meine Eltern, die im Pflegeheim betreut werden. Dann kommen die Kinder, und ich werde wütend, weil sie mich beim Putzen stören. Nachdem ich laut wurde, habe ich sofort Schuldgefühle. Und nach einer Stunde ist die Einkaufsliste immer noch nicht fertig. Noch nie war es in mir so chaotisch.
Leider treten bei vielen Menschen, die seelisch belastet sind, auch körperliche Symptome hinzu. Die Psyche wälzt quasi einen Teil ihrer Last auf den Körper ab. Ein solches Warnzeichen müssen Sie unbedingt ernst nehmen. Später verselbständigen sich Körperzustände oft. Sie sind dann eine Art Sondermülldeponie. Und schwer zu entsorgen.
Ich bin jetzt im Home Office. Ich kann aber nur die Hälfte meiner Arbeit auf diese Weise machen. Also habe ich viel Zeit. Ich dachte, dass ich endlich dazu komme, Schuppen und Garage aufzuräumen. Garten und Tapezieren wären auch noch dran. Und plötzlich bekomme ich Magenschmerzen, fühle mich schlapp und müde. Mein Hausarzt sagt, es ist eine Stressgastritis. Dabei habe ich doch gar keinen Stress, ich wollte nur aufräumen.
Dieser Patient zeigt gleich zwei typische Mechanismen, die während starker Belastungen auftreten können. Erstens ist er in einer Situation, in der er mehr Zeit hat. Vielleicht für sich? Aber dann sucht er sich gleich neue (ablenkende) Beschäftigungen. Zweitens zieht seine Seele die Notbremse, als es zu viel wird. Der Stress (den er gar nicht bewusst wahrnimmt) führt zu einer schmerzhaften Entzündung an der Magenschleimhaut, die den Patienten zur Ruhe zwingen soll. Leider führte dies zu weiteren Sorgen. Er befürchtete „etwas Schlimmes“ und ließ weitere Untersuchungen durchführen. Als die Befunde negativ waren, wollte er „es erst einmal nicht glauben.“ Eine solche Verkörperlichung seelischer Symptome nennen die Fachleute Somatisierung. Nach der Corona-Krise werden wahrscheinlich sehr viele Menschen an derartigen Störungen leiden.
Ein Chaos in unserer Psyche ist die normale Reaktion auf übermäßige Belastungen. Denken Sie an einen Verkehrsunfall. Dem Knall und dem ersten Schrecken folgen Unruhe, Geschrei und kopfloses Agitieren. Natürlich ist das von Fall zu Fall verschieden. Verbogene Stoßstangen werden noch recht „cool“ genommen, aber drei blutende Verletzte bringen doch viele Beteiligte an den Rand ihrer Möglichkeiten. Manche Menschen können dann einen „kühlen Kopf“ bewahren, andere hingegen sind völlig „kopflos“ und „ohne Plan“.
Wir werden versuchen, Lösungen zu erarbeiten, um mit dem inneren Chaos kreativ umzugehen. Viele Wege führen nach Rom, und jeder Mensch braucht einen individuellen Ansatz. Im Moment ist es nur wichtig zu wissen, dass es normal ist, wenn es in einer Situation wie der Corona-Krise auch im Inneren „drunter und drüber“ geht.
CASS - Akutzeichen
Gefühllosigkeit
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Unklare Unruhe
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Schreckhaftigkeit
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Mangelnde Impulskontrolle
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"Schreckliche" Gedanken
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Schlafstörungen
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Wegdriften von Gedanken
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Konzentrationsstörungen
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1.3 Seelentrümmer
Ein Trauma ist wie eine Abrissbirne, die unser Seelenhaus zertrümmert, ein riesiger Hammer, der auf unsere psychische Stabilität einschlägt. Einige Menschen sind robust und können – zumindest die ersten – Schläge relativ unbeschadet wegstecken. Aber für viele ist die Wucht zu groß. Bleiben wir ruhig einen Moment bei dem Bild. Übermäßige Belastungen werden als Schicksalsschläge erlebt. Sie wirken zerstörend. Sie bringen etwas in den Betroffenen zum Einsturz. Nicht von ungefähr hat der französische Präsident recht frühzeitig von einem Krieg gesprochen, den wir gegen das Coronavirus führen.
Nach wissenschaftlichen Schätzungen hinterlässt ein starkes, traumatisches Erlebnis bei etwa einem Drittel der Betroffenen einen seelischen Schaden. Es ist, als zerbreche bei diesen Menschen ein Teil ihrer Seele, im schlimmsten Fall fällt die Psyche sogar in Trümmer. Oft heilen diese Störungen spontan aus. Die Menschen sind meistens ein halbes Jahr lang in der einen oder anderen Art „verändert“. Aber Schlaf, Denken und Fühlen regulieren sich bei stabiler, sicherer Umgebung. Etwa zehn Prozent der Traumatisierten bleibt jedoch dauerhaft krank. Leider müssen wir beim CASS befürchten, dass die Zahl dieser chronisch Betroffenen eher größer ist. Die Selbstheilungskräfte der Seele sind nämlich auf liebevolle Annahme und eine sichere Umgebung angewiesen, um zu wirken. Die Verhältnisse nach der Pandemie werden jedoch eher konfus, verwirrend und unsicher sein.
Ich kann nicht richtig schlafen, habe Alpträume, die immer damit enden, dass ich versinke oder falle. Tagsüber bin ich unkonzentriert, kann mich über nichts freuen. Ständig horche ich auf die Nachrichten oder suche im Internet nach Neuigkeiten zu Corona. Ich bin sehr schreckhaft geworden. Sogar Anrufe und Post machen mir Angst. Außerdem weiß ich nicht, ob ich allein sein will oder in Gesellschaft. Allein bin ich unruhig und habe Angst. In Gegenwart meiner Familie werde ich oft ungerecht. Ich möchte ganz weit weg sein.
Was diese Klientin erlebt, ist durchaus