Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz

Sandburgen & Luftschlösser - Band 1 - Karl Michael Görlitz


Скачать книгу

      Coswigs größte Attraktion aber war das Schloss. Und eben dieses konnte man nie aus der Nähe betrachten. Es war zum Zuchthaus für politische Gefangene geworden und eine Hohe Mauer trennte es zur Straße hin ab. Seine vier Türme mit den breiten, vielgetreppten Renaissance-Giebeln und den behäbigen Dachhauben, die wie riesige Schlafmützen wirkten, lagen fernab und unerreichbar. Gelegentlich sah man in den vergitterten Fensterhöhlen den hellen Schemen eines Gesichts. Zu weit, um Näheres zu erkennen. Ein unheimliches Gebäude. Wie ein Märchenschloss, in dem ein grausamer Zauberer sein Unwesen trieb. Grauen sickerte aus seinen Mauern, und Dornröschen wohnte schon lange nicht mehr dort. Über seinen Dächern schienen die Wolken dunkler und tiefer, die Luft trüber, und die Vögel verwandelten sich in Raben. Auf der Elbseite, von ferne, sah es ein wenig freundlicher aus, fast konnte man sich vorstellen, wie einst frohe Feste mit Musik in seinen Mauern stattgefunden hatten. Doch in der Nähe herrschte brütendes Schweigen und Geheimnis, und die dunklen Fensterhöhlen schrien verborgenes Leid.

      Der Gifthauch, den es ausschwitzte, hatte sämtliches Grün der Umgebung ersterben lassen. So schien es jedenfalls. Kein Baum, kein Strauch füllte die große Fläche bis zur schützenden Mauer, die es umgab.

      Das Schloss besaß noch eine unheimliche Eigenschaft. Obwohl es, breit hingelagert in der Mitte der Stadt, das Flussufer unübersehbar beherrschte, konnte es sich offensichtlich unsichtbar machen. Die Bevölkerung rings umher tat so, als sei es nicht vorhanden. Niemand sprach darüber, und fragte man Jemanden tatsächlich einmal danach, erhielt man eine hastige Auskunft im Flüsterton. Jahrhundertelang war es, als Witwensitz erbaut, der Mittelpunkt der Stadt gewesen, und Coswigs Bürgerschaft hatte ihm einiges zu verdanken.

      Jetzt war es so, als sei es nicht vorhanden. Man hatte es weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt, um nicht an die Gräuel, die im Inneren der vierflügeligen Anlage stattfanden, erinnert zu werden.

      Bei uns Popigs funktionierte der Verdrängungsmechanismus leider überhaupt nicht, waren uns doch Erntehelfer aus dem Schloss für Vaters Gemüsepflanzung

      aufgezwungen worden. Mit Schaudern denke ich noch an die schwerbewachte Truppe schweigender Gefangener, die, bei Wind und Wetter, wie Sklaven Frondienste verrichteten. Für sie herrschte strengstes Redeverbot und auch wir waren angewiesen worden, keinesfalls mit ihnen zu sprechen. Als Lohn für ihre Mühe ließen die Wärter den ausgemergelten Gestalten einen Kessel Pellkartoffeln mit Salz zukommen. Man hatte uns befohlen, die zur Schweinemast aussortierten angefaulten Erdäpfel abzukochen. Das sei für diese Schwerverbrecher vollkommen ausreichend. Und so saßen oder besser standen des Abends die todmüden Gestalten, deren Augen meist leer und ausgebrannt wirkten, auf der amerikanischen Veranda hinter unserem Haus, während sie das appetitlich duftende Mahl verzehrten. Unsere pfiffige Mutter hatte tatsächlich einige faule Kartoffeln untergemischt, um die Bewacher zu täuschen, die mit Argusaugen den hohlwangigen Trupp belauerten. In ihrer Kittelschürze versteckt trug sie Speck und Wurst oder Käse, den sie in unbeobachteten Momenten den Gequälten heimlich zusteckte. Leider gelang es nicht immer, die Wärter waren zu professionell, aber immer öfter traf sie ein kurzer, dankbarer Blick.

      Ich stand meist mit vor Mitleid brennendem Blick daneben. Politische Gefangene! Was war das eigentlich?Wie Schwerverbrecher sahen sie eigentlich nicht aus, und meine Furcht vor ihnen hielt sich in Grenzen. Volksverräter waren sie - was hatten sie getan, wen verraten?Würden die Eltern ebenso behandelt, falls ich sie beiden Behörden meldete? Ein Frösteln kroch über meinen Rücken.

      Die Idee des Kommunismus mit seiner Forderung nach Gleichheit, Brüderlichkeit und Wohlstand für alle, war ja ganz schön, doch das hier stimmte doch hinten und vorne nicht. Wir saßen in einer Diktatur des Proletariats und nicht in einer Republik mit freien Wahlen. Sogar ein doofes Kind wie ich konnte das erkennen.

      Am nächsten Tage würden wir nach Berlin fahren, um Brüderchen in der Charité gründlich untersuchen zu lassen. Da ich diesbezüglich nichts zu befürchten brauchte, freute ich mich auf den hochwillkommenen Ausflug. Berlin kannten wir Kinder noch überhaupt nicht, nur bis Potsdam waren wir jemals vorgedrungen. Auch in der Nacht hatte uns ungewohntes Poltern und Stühlerücken mehrfach geweckt, die Eltern schienen aber auch besonders viel für den kurzen Ausflug zu benötigen. Abends würden wir doch zurück sein und der neuartige Kirschkuchen vielleicht schon durchgetrocknet und brennfertig.

      Als die Eltern uns im Morgengrauen geweckt hatten, waren ihre Gesichter übernächtigt und blass. Als Spielzeug für unterwegs waren uns nur ein paar kleine Modellautos zugestanden worden.

      In Griebnitzsee waren wir mit Mutter in die S-Bahn umgestiegen, da Vater noch einen anderen Termin wahrzunehmen hatte. Wir würden uns an verabredeter Stelle wieder treffen. Da der Weg zur Charité über den Westsektor führte, mussten wir mit Mutter allein durch die Grenzkontrollen. Ich erinnere mich noch gut an das bange Herzklopfen, das mich überfiel, als unsere Ausweise von schwerbewaffneten Grenzern kontrolliert wurden und wir anstandslos passieren durften.

      Mutter schien außerordentliche Angst zu haben, das kriegt man als Kind auch nonverbal mit. Doch alles war reibungslos vonstatten gegangen und wir warteten in der Bahnhofsgaststätte Wannsee auf das Erscheinen Vaters mit seinem Chauffeur, die auch bald eintrafen.

      Die nächste Ungewöhnlichkeit, die mir auffiel, war die Förmlichkeit, mit der er sich von unserem Herrn Grabowski auf dem Parkplatz vor dem Lokal verabschiedete. Durch das spitzwinklige Fenster des Art deco-Gebäudes hatte ich es mit Erstaunen registriert. Unser bebrillter Fahrer war ein netter Mann, keine Frage, doch soviel Schulterklopfen war nie. Gott! Der Mann hatte ja fast gewirkt, als würde er jeden Augenblick hernieder sinken, um Vater die Hand zu küssen.

      Wie sich später herausstellte, hatte Vater soeben das kostbare Auto dem Manne geschenkt.

      Als Vater zu uns hereinkam, wirkte er so ungewohnt still. Er setzte sich, und nachdem ein Getränk, ein hochprozentiges, den Weg durch seine Kehle genommen hatte, begann er zu erklären.

      Wir seien nun Flüchtlinge und könnten nicht mehr nach Hause zurück. Außerdem seien wir ziemlich arm, da die Zeit nicht gereicht hätte, das Barvermögen von der Bank abzuheben. Er hatte einen Tipp erhalten, dass man ihn anderntags abholen würde, deshalb der überstürzte Aufbruch. Während er redete, hatten zwei Tränen ihre feuchte Spur über die bleichen Wangen gezogen und er hatte sich umständlich geschnäuzt, um die nachdrängende Flut vor uns zu verbergen.

      Mutter hatte mit versteinertem Gesicht daneben gesessen und so zum Ausdruck gebracht, dass das Ganze wirklich kein schlechter Witz war.

      Was war das? Ein fürchterliches Krachen hatte mich aus der fassungslosen Starre erlöst, die mich bei seiner Schilderung überkommen hatte. Die Tür der glücklichen Kindheit, die nun hinter uns lag, war soeben mit einem Donnerschlag zugefallen. Oftmals sind es die kleinen Dinge, die uns unfassbare Katastrophen verdeutlichten:

      Der einsame Kinderwagen, der der erschossenen Mutter auf der Todestreppe von Odessa aus der Hand gleitet, bevor er taumelnd die Stufen hinunterpoltert. Der Haufen Schuhe oder Brillen vor den Gaskammern unseres größenwahnsinnigen Führers.

      Bei mir war es der Kirschkuchen. Der Kirschkuchen, der in einer Ecke der Rampe zu Hause vor sich hin trocknete und der nun niemals fertig gebrannt würde. Der Kuchen, der nun ewig unfertig bliebe, weil es kein Zuhause mehr gab.

      Noch einmal sah ich uns an der Ostsee, bei unserem Lieblingsspiel. Peter, Gerd Schneider und mich. Ganz vorn am Rand, wo der Sand glatt ist und Wasser aufquellt, sobald man ein wenig gräbt. Aus unseren Fäusten fließt ein stetes Rinnsal, wie bei einem Stundenglas, das sich nach und nach zu bizarren Burgen auftürmt.

      Nun gab es für uns keine Ostsee mehr. Keine neuen Kleckerburgen, keinen Gerd, keinen Udo und all die anderen Freunde mehr. Wir waren Flüchtlinge.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив


Скачать книгу