Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz

Sandburgen & Luftschlösser - Band 1 - Karl Michael Görlitz


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Licht entwickele der Mensch nicht genügend Vitamin D, was zu der weitverbreiteten Mangelkrankheit Rachitis führte.

      Doktor Globisch war ein kluger Mann und er empfahl, als Freund der Eltern, die Anschaffung einer Höhensonne. So saßen Brüderchen und ich, angetan mit augenschützenden Schwarzbrillen und sonst nichts, vor den heilsamen Lichtstrahlen der flügelaltarähnlichen Lampe und entwickelten Vitamine.

      Aber unser Doktor war nicht nur ein kluger, sondern auch ewig hungriger Mann, der an den beiden Schlachttagen, die im späten Herbst stets stattfanden, als Erster erschien, wobei er meist brüllte:

      »Schon was fertig? Ich habs eilig!«

      Den Spruch kannte ich von meinem Bruder und war entsprechend erheitert. Vollends lachen musste ich aber über unsere Mutter, die einmal dem, mit vollen Backen kauendem Davoneilenden, ein Schweineschwänzchen hinten an den weißen Arztkittel geheftet hatte. Den Kittel trug er schon, weil er dringend zur Visite im Krankenhaus erwartet wurde. Der Ahnungslose hatte tatsächlich die Krankenbesuche mit geringeltem Schwanz vorgenommen und sich nur über die breit grinsenden Gesichter einiger Patienten gewundert, wie er beim anschließenden Mittagessen berichtete. Ja, er brachte das Stück sogar mit zurück, es zierte immer noch sein Hinterteil und Mutter hatte ein Einsehen, und führte es seiner eigentlichen Bestimmung zu, ungenießbarer Bestandteil einer Bratwurst zu werden.

      Beim abendlichen Schlachtefest herrschte der schöne Brauch, in einer der frischen Würste ein Schwänzchen zu verstecken, während der so Gefoppte endlos mit Messer und Gabel säbeln musste, ohne jeglichen Erfolg. Natürlich erwischte ausgerechnet der Doktor das verhexte Würstchen, welches sich trotz chirurgischer Grundkenntnisse nicht zerteilen ließ. Es muss eines der ersten Schlachtfeste im Hause Popig gewesen sein, an denen er teilnahm, denn er kannte den witzigen Brauch noch nicht und säbelte endlos an der widerspenstigen Wurst herum. Er wurde sogar regelrecht verlegen, weil alle mit ansehen konnten, wie schlecht er offensichtlich mit Messer und Gabel umzugehen wusste. Die Erwachsenen waren mit Mühe völlig ernst geblieben, bis ich vor Lachen herausplatzte und ein allgemeines Prusten und Kichern folgte. Der verwirrte Medikus war für eine Weile ernsthaft sauer, nachdem er den schnöden Grund unserer allgemeinen Erheiterung erfahren hatte, und es dauerte einige Schnäpse, bis er ebenfalls mitlachte.

      Mutter hatte ihre kleine Rache an unserem Hausarzt bekommen, den sie, seit meinem Unfall mit der Wäschemangel, gern schon als Viehdoktor bezeichnete. Der Unfall hatte sich zur Zeit der vielen Dienstmädchen ereignet. Ich war noch ziemlich klein. Auf dem Dachboden war eine große Wäschemangel installiert, und zwei der Mädchen arbeiteten an ihr. Großmutter benötigte plötzlich einen der dienstbaren Geister, und ich hatte den Speicher erklommen, um Bescheid zu geben. Die andere Magd mangelte allein weiter. Ich wollte helfen, da es schwierig war, ein größeres Wäschestück faltenlos durch die dicken Holzrollen zu drehen. Von der anderen Seite musste es jemand halten, der darauf achtete, dass es faltenfrei und glatt durch die Walzen während des Rückwärtsganges glitt. Widerspenstige Teile wurden so einige Male hin und hergewälzt. Ich hatte nicht richtig aufgepasst, als ein Geräusch hörbar wurde und erschrocken den Kopf gewendet, um nach den vermeintlichen Verursachern, vielleicht Mäusen oder Ratten, Ausschau zu halten. Tatsächlich handelte es sich leider um meine Finger, die hörbar platzten, während die Knochen zermalmt wurden, die dieses Geräusch verursacht hatten, ich hatte es nur noch nicht bemerkt. Mir war zwar plötzlich ganz heiß geworden, doch der Schmerz hatte sich noch nicht eingestellt. Der kam erst, als das Mädchen, welches ebenfalls nichts bemerkt hatte, das blutige Wäschestück, mit dem traurigen Rest von drei meiner Finger der rechten Hand, zurückgenudelt hatte. Der heftige Schmerz und der Schock, meine Finger derart malträtiert zu sehen, ließ mich aufbrüllen, und da ich ein gesundes Kind war, brüllte ich laut.

      Mutter war angerannt gekommen und hatte in der ersten Aufregung sogar dem ebenso erschrockenen Dienstmädchen für diese eklatante Verletzung der Aufsichtspflicht eine kräftige Maulschelle verpasst. Das einzige Mal, dass sie einen Dienstboten schlug, und später entschuldigte sie sich dafür.

      Man hatte Doktor Globisch verständigt, und dieser flickte meine Finger eilends im Coswiger Krankenhaus. Er hatte es gut gemacht, keine Frage, sie waren nur ein wenig kürzer und ohne Nägel. Jedoch die Fingernägel, deren Reste für die Operation beseitigt worden waren, würden wieder nachwachsen, wie er glaubhaft versicherte. Er war ein guter Arzt, und als ehemaliger Militärarzt mit derlei Verletzungen wohl leider allzu vertraut. Auch ging ihm eine gewisse Zimperlichkeit ab, die er vermutlich im Felde gelassen hatte, was später zum Eklat führen sollte.

      Es passierte am nächsten Tag, als Mutter mit mir zum Verbandswechsel erschien. In den ersten Jahren nach dem Krieg gab es noch kein richtiges Verbandsmaterial. Es war kein Mull dagewesen, in die man die nagellosen Fingerchen hätte betten können. Nur eine Art Küchenrolle aus Papier. Die war um die Wunden gewickelt worden und hatte sich mit dem getrockneten Blut zu einer festen Einheit verbunden. Natürlich auch mit dem rohen Fleisch der empfindlichen Fingernagelbetten. Dass die meisten Nerven in den Fingerenden sitzen, sollte ich dann auch umgehend erfahren. Nachdem unser kampferprobter Medikus ein wenig Wasserstoffsuperoxyd zum Aufweichen des Pappmachés, zu dem der Verband über Nacht geronnen war, hatte er Mutter mit den Worten instruiert:

      »Jetzt nimm ihn mal für einen Augenblick zwischen deine Knie und halt ihn tüchtig fest!«

      Wie schön, wenn ein freundliches Du Vertrauen zwischen Arzt und Patienten schafft. Mich hatte er vollkommen beruhigt, mit den Worten:

      »Jetzt musst du mal kurz die Zähne zusammenbeißen.«

      Leider verlor ich meine Gelassenheit schlagartig, nachdem er mit einem kräftigen Ruck die Finger vom hindernden Verband befreit hatte, ja, ich muss gestehen, dass ich für einen kurzen Moment völlig die Nerven verlor, und der Mutter halbohnmächtig zwischen die Knie gerutscht war. Doch ich fasste mich schnell, und brüllte mir Schmerz und Pein aus dem Hals.

      Noch lauter aber hatte Mutter geschrien, und das unschöne Wort vom „Viehdoktor“ war gefallen, gefolgt von weiteren Schmähungen, von denen der Anstand mir verbietet, sie im Einzelnen wiederzugeben. Seither herrschte zwischen Arzt und Mutter eine gewisse Spannung, die nie mehr ganz nachließ.

      Noch heute, wenn ich von Folterungen mit ausgerissenen Fingernägeln höre oder lese, zieht sich mein Sonnengeflecht schmerzhaft zusammen.

      Mutter hatte in den folgenden Tagen viel zu tun, das schwer traumatisierte Kind zum Arztbesuch zu überreden. Noch an der Praxistür riss ich mich von ihrer Hand los, um zu fliehen. Dabei war es gar nicht mehr so schlimm gewesen. Unser Doktor war Mutters Rat gefolgt. In einem lauwarmen Kamillenbad war der Verband lange aufgeweicht worden und konnte hernach fast problemlos entfernt werden. Junges Fleisch heilt schnell, und nach einiger Zeit, und vielen Kamilleanwendungen, wuchsen neue Fingernägel nach. Leider etwas krallenartig. Die Narben verheilten. Nur eines heilte nicht; die Furcht vor Schmerzen.

      Beim nächsten Unfall, der mit einem Armbruch endete, hatte ich es nicht einmal gewagt, aus lauter Furcht vor neuen schmerzhaften Prozeduren, den Eltern Mitteilung zu machen und mich still und blass in eine Sofaecke verzogen, was Mutters Argwohn erst nach geraumer Zeit erregte und sie zum Handeln trieb. Ich wurde dann auch sofort, unter größtem Protest meinerseits, von den besorgten Eltern ins Dessauer Krankenhaus gebracht.

      Oft ist die Angst davor noch schlimmer, als der eigentliche Schmerz. Und leider war ich ein Kind mit Phantasie. Beim Zahnarzt leide ich noch heute mehr unter den grässlichen Vorstellungen und Erinnerungen als notwendig. Denn meist geht ein Besuch heutzutage glimpflich ab. Doch damals ...

      Da gab es noch den Zahnarzt im Ort, einen Doktor Schneider, auf dessen Behandlungsstuhl ich allerlei Torturen ausgesetzt war. Das Zahnmaterial hinter meinen fröhlichen Lippen war nicht so besonders, wohl auch eine Folge des Krieges, mit seinen Mangelerscheinungen und der fehlenden Zahnpflegemittel. Ordentliche Zahnpasta war aus dem Lieferprogramm verschwunden, es gab lediglich eine Art rosa Seifenstein, den man mit der feuchten Zahnbürste aufschäumte, bevor man sich die Beißerchen reinigen konnte. Uns ging es ja nicht nur gut. Schlachtfeste waren feiertägliche Ausnahmen. Auch sind zwei Schweine und ein halbes Kalb für die Wurst nicht allzu viel, wenn man bedenkt, wie viele Personen ein Jahr davon zehren mussten. Oft gingen wir mit einem Grießbrei, einem Zuckerbrot oder Rübensirup ins Bett. Alles Sachen,


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