Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz
die Amerikaner. Sie waren für eine Nacht einmarschiert und wurden von den texanischen Großeltern begeistert aufgenommen. Es war hoch hergegangen, bei Blaubeerpfannkuchen und anderen amerikanischen Lieblingsgerichten, die die Soldaten schon lange nicht mehr auf dem Teller hatten. Mutter erzählte oft mit leicht verklärtem Lächeln, wie gut es plötzlich im ganzen Hause Popig geduftet hatte, nachdem die Herren sich frisch gemacht hatten. Über zwei splitternackte Kerle, die ungeniert mit ihrer Rasur fortfuhren, als heißes Wasser aus dem Badeofen für die Küche benötigt wurde. Ein sehnsüchtiger, verträumter Blick trat ihr jedes Mal in die Augen, wenn sie später davon erzählte.
Das Schicksal hatte aber noch eine böse Überraschung für die Besiegten parat. Die freundlichen Amerikaner zogen bei Nacht und Nebel ab, und am nächsten, grau dunstigen Morgen, holperten russische Kampftruppen mit Panje-Wagen über die Straßenpflaster. Es waren Männer, meist asiatischer Herkunft, und sie verbreiteten Angst und Schrecken in der Bevölkerung.
Frauen brachten sich um, um den Vergewaltigungen zu entgehen. Mutter überlebte im Bunkerversteck, das im Garten unseres Nachbarn unter einem Erdhügel lag. Es dauerte einige Zeit, bis Ruhe und Ordnung einigermaßen wiederhergestellt waren und die neue Macht installiert war.
Unser Haus wurde zum Quartier einiger Offiziere und zu einer Art Kasino für die höheren Ränge. Uns, die gesamte Familie samt Personal, hatte man in zwei Räume gequetscht, der Rest des Hauses wurde für die neuen Herren benötigt. Eigentlich hatten wir noch Glück im Unglück. Andere waren gänzlich aus ihren Häusern geworfen worden. Auch die Offiziere unserer siegreichen Befreier erwiesen sich leider als ausgesprochen zivilisationsfern.
Die Wasserspülung des Klosetts hielten sie tatsächlich für eine Art Ziehbrunnen, und als sie den eigentlichen Verwendungszweck begriffen, benutzten sie die Handtücher zum Arschabwischen.
Eine Marketenderin namens Matka kümmerte sich um das leibliche Wohl der Hochgestellten. Nicht nur in der Küche, sondern auch, wie die zersplitterten Schlafzimmertüren bezeugen konnten, die sie im freien Flug durchquert hatte, ganz offensichtlich in den Betten.
Vielleicht verstehen wir die russische Leidenschaft wirklich nicht richtig. Als Mutter die blau und grün Geprügelte eines morgens fassungslos befragte, warum sie sich immer wieder diesen körperlichen Ramponierungen aussetzte, lächelte sie verschmitzt aus den zugeschwollenen Augen und erwiderte: »Du Frau nix verstehn, das russisch Liebe.« Eine Antwort, die später zum geflügelten Wort in der Familie wurde.
Jene Matka, welche außerordentlich tierlieb war, versammelte einen regelrechten Zoo um sich herum. In Opas kostbarem, geschnitzten Bücherschrank mussten die Goethe und Schiller, nebst Herder und Uhland, verängstigten Eichhörnchen und herrenlosen Kätzchen weichen. Hinter der Glasscheibe des repräsentativen Schreibtisches, wo blaue Leinenbände die Olympiade von 1936 gefeiert hatten, logierten plötzlich Hamster und Igel. Oft schlich Vater Popig nächtens durchs Haus und befreite die Elenden, weniger aus Tierliebe, sondern um die Möbel zu retten. Misserfolg war ihm beschieden. Innerhalb kürzester Zeit waren die Spontanvolieren wieder mit allerlei Getier gefüllt, und die Möbel gingen zum Kuckuck.
Unser umtriebiger Ernährer und Erziehungsberechtigter handelte und schacherte schon bald mit den neuen Freunden. Ein Kanister Sprit, den die sowjetischen Befreier im Nu ausgesoffen hatten, wurde gegen ein veritables Pferdchen eingetauscht.
Die neuen Machthaber, wohl vom Spritkonsum auf geistige Hochtouren gebracht, waren daraufhin auf die glorreiche Idee verfallen, unsere Schweine mitten im Sommer zu schlachten, um sich mit allerlei Wurstsorten zu bevorraten. Ein eilig requirierter Schlachter besorgte dies auch und hängte die fertigen Dauerwürste zum Trocknen auf den Dachboden, wie das damals so üblich war.
Nach einigen Tagen zog ein pestilenzartiger Gestank durchs ganze Haus und Großmama entdeckte schnüffelnd die Ursache. Nicht nur die Russen waren hungrig gewesen, sondern auch die Fliegen. In den ohnehin durch die Sommerhitze verdorbenen Würsten wimmelte ein Riesenheer zukünftiger Flugkünstler, so dass sämtliche Delikatessen ein Eigenleben bekommen hatten und kurz davor standen, selbst die ersten Schritte zu machen.
Der arme Fleischer! Dieser Sabotageakt hätte ihm fast das Leben gekostet. Sibirien lag damals ganz nah bei Coswig. In seiner Todesangst hatte unser Metzger eine rettende Idee.
Er warf alle Würste in den Kessel und kochte sie auf, so dass all die ungeborenen Fliegen zu einer zusätzlichen Proteineinlage verwandelt wurden. Danach hing er sie in die Räucherkammer unter dem Dach des Hauses und gab ordentlich Späne. So scharf geräuchert briet Matka dann allmorgendlich die köstlichen Scheiben für ihre Vorgesetzten. Was bei Allen in der Familie, allein vom Duft, zu starken Anfällen von Brechreiz führte. Sagte ich Allen? Nein, ein tapferes Kind widerstand und aß fröhlich mit.
Irgendwie reagierte ich ohnehin wie eine Ziege auf die Salzlecke. Nachdem ich die ersten zwei Jahre noch mit den Artikeln eines bekannten Herstellers für Babynahrung, sogenannter Friedensware, aufgepäppelt worden war, stellten sich nach Beendigung der Kampfhandlungen gewisse Ernährungsprobleme ein. Das Kind wollte die Ersatznahrung nicht zu sich nehmen. All die unter Mühe hergestellten süßen Breichen verweigerte ich oder spie sie im hohen Bogen wieder aus.
Bis die zunehmend verzweifelnde Mutter auf die Idee kam, Knochen zu einer salzigen Brühe zu verkochen, um daraus einen gut gewürzten Grießbrei herzustellen.
Damit war das Problem beseitigt. Das Kind fraß alles. Nur salzig musste es sein. Das ging soweit, dass ich sogar Brühwürfel lutschte und in eine fatale Abhängigkeit von der Flasche geriet. Gemeint ist natürlich das braune Fläschchen mit der bekömmlichen Suppenwürze, die ich in größeren Mengen verzehrte.
Bino-Brühwürfel und Aiga-Speisewürze wurden lange Zeit Höhepunkte meines jungen Lebens. Sogar noch als Schüler bedurfte ich ihrer. An einer Ecke des Schulweges betrieb eine Bekannte der Eltern mit ihrem Manne, einem ehemaligen Major unserer nicht ganz so siegreichen Truppen, einen Kolonialwaren-Laden. In Tante Weinerts Sortiment befanden sich, außer Spirituosen und Bonbons, auch besagte Maggi-Ersatzartikel. Damit wurde sie zur täglichen Anlaufstelle für mich und später auch für den Bruder, nachdem dieser eingeschult war. Beider Söhne waren auf dem Feld der Ehre geblieben, und wir boten reichlich Gelegenheit, die restliche Mutterliebe der Trauernden zu verarbeiten.
Sie hat es später oft erzählt. Peter stürmte jeden Morgen mit dem Ruf: »Tante Weinert, ich habs eilig, sonst komm ich zu spät!« in den Verkaufsraum, um seine gewohnten zwei Bonbons einzufordern. Ich dagegen scharwenzelte ein wenig diplomatischer und zeitraubender erst nach dem Schulbesuch um sie herum. Zwar war ich nicht täglich erfolgreich, beileibe nicht, doch mindestens einmal pro Woche hatte ich sie weich geknetet und sie schob mir grinsend ein Fläschchen des begehrten Stoffs über die Ladentheke.
Oftmals würzte ich auch die faden Mehlsuppen der Schulspeisung, die im roten Igelit-Schüsselchen nach Hause geschleppt worden waren, und die bei den Eltern oft ungläubiges Kopfschütteln hervorriefen. Wie kam ein Kind, das Zuhause alles hatte, nur auf die verwegene Idee, die erbärmliche Schulspeise mitzubringen? Sie ahnten nicht, welchen Hochgenuss es mir bereitete, die mit den köstlichen braunen Tropfen dunkel verfärbte Suppe zu löffeln. Aß ich doch wochentags ohnehin allein und unbeaufsichtigt, da der Schulschluss erst gegen vierzehn Uhr lag, in der Zeit des allgemeinen Mittagsschläfchen der Erziehungsberechtigten. So konnte ich gelegentlich alle Tischsitten vergessen und manschte mit beiden Händen Kartoffel und Soße zu Brei, um ihn verträumt von der Hand zu lecken.
Der Arzt, unser Doktor Globisch, ebenfalls ein Freund der Familie, den die besorgte Mutter konsultierte, nachdem mein kleiner Bruder ähnliche Suchtsymptome mit der Essigflasche gezeitigt hatte, beruhigte die Aufgeregte, die schon das Allerschlimmste für die Kinder befürchtet hatte.
Ein kluger Rat, möchte ich meinen, und so ließ man uns gewähren. Dabei herrschte gerade an Mangel kein Mangel, und der kleine Bruder war tatsächlich ein wenig schwächlich geraten. Oft lag er im Dessauer Krankenhaus und rang mit einer Krankheit.
Schon seine Zeugung war anscheinend nicht ohne Mühe vonstatten gegangen. Mutter erzählte in späteren Jahren einmal kichernd davon. Ein klitzekleines Phimöschen (Vorhautverengung) hatte in der Hochzeitsnacht den Gatten gehindert, sein eheliches Recht wahrzunehmen. Erst eine kleine Operation