Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz
hatte der potentielle Heiratskandidat, Hans Popig, noch nicht die Leitung der Firma übernommen, er arbeitete noch brav bei seinem Vater Reinhard als Angestellter.
Die Aussicht auf eine Schwiegertochter mit Afrolook hatte wiederum der Mutter von Hans nicht sonderlich gefallen. Sie wünschte sich Gesellschaft, denn im Hause hatte sie eigentlich nur die Dienstboten zum Gespräch. Das Ehepaar Popig redete nicht mehr miteinander. Sieben Jahre hatten sie nur noch über die Dienstboten Kontakt miteinander gehalten. Bei Tisch zum Beispiel wurde das aufwartende Mädchen informiert:
»Sag der mal, ich brauch die Butter!«
Falls Sie dieses Verhalten merkwürdig finden, kann ich nur gutgelaunt antworten: Ich auch.
Sieben lange Jahre hatten sie es so miteinander getrieben, bis Opa Popigs völlige Ertaubung das Problem von selbst löste. Mit dem Sohn sprachen allerdings noch beide Elternteile, doch der hatte offensichtlich noch nicht allzu viel zu vermelden.
Also - Großmutter Popig hatte eine Zuneigung zu der attraktiven, munteren Witwe mit den hübschen Kindern gefasst und beschlossen, ebendiese als Schwiegertochter zu installieren.
So wurden die Einladungen ins Haus Popig immer häufiger, und Sohn Hans verliebte sich dann auch folgsam in die Frau seines ehemaligen Todfeindes. Ich glaube, er hat sie wirklich geliebt, anders kann ich mir die lange Ehe mit der Widerspenstigen sonst nicht erklären.
Mutter war mittlerweile nicht mehr ganz unvermögend, aus Vaters Erbteil war ihr eine stattliche Summe zugeflossen, die für Juttas und meine Erziehung aufgewendet werden sollte.
So kam es, dass nach der angemessenen Trauerzeit von einem Jahr, Mutter noch vor Kriegsende ihrem Hans das Jawort gab. Selbstverständlich wurde Wohnung im Hause der Popigs genommen.
Als Baby hatte ich von dem ganzen Hin und Her nichts mitbekommen, aber meine Schwester Jutta war damals schon zehn Jahre alt und konnte vor einiger Zeit diese Wissenslücke schließen.
Meine eigenen Erinnerungen beginnen als Sohn von Hans, und für die meisten Coswiger war ich anscheinend der Große von Popigs leiblichen Söhnen. Ich hieß so, selbst meinen schönen Vornamen Karl hatte man mir unterschlagen - ich wurde mit dem Zweitnamen Michael gerufen. Oder meistens Mimi, als Kosenamen für das Kleinkind, das zum Sonnenschein für die alten, sprachlosen Großeltern wurde.
Ich war offiziell der Sohn des Kaufmanns Hans Popig, und als solcher fühlte ich mich tatsächlich. Der eigene Vater war eine ferne Geschichte, die ich vom Hörensagen kannte, und die wenigen, die mein Schicksal als Waise bedauerten, sah ich stets völlig fassungslos an. Ich besaß einen Vater und eine komplette Familie. Sogar noch ein wenig mehr. Verwandtschaft, die meine Geschwister nicht hatten. Und Geschenke, um die mich der jüngere Bruder beneidete, und die er nur allzu gern zerbrach.
Über die alten Popigs, deren Stolz ich alsbald wurde, wären vielleicht noch ein paar Worte zu sagen.
Reinhard und seine Frau waren ebenfalls deutsche Immigranten. Sie kamen aus Texas. Dort selbst hatten sie eine große Erdnussfarm nebst Wäscherei erfolgreich betrieben, bis ein Ohrenleiden, für das sich nur in Deutschland ein Spezialist fand, das Paar auf den alten Kontinent zurückführte. Pikanterweise wurde nach dem Verkauf Öl auf dem Farmgelände bei St. Antonio gefunden, was dem alten Geizkragen das restliche Leben wohl gründlich vergällt hat.
Doch immerhin hatte er für sein Anwesen gute Gold-Dollars erhalten und in Deutschland tobte gerade die Inflation nach dem ersten Weltkrieg. Für Gold-Dollars war alles zu bekommen und so gönnte er sich in Wittenberg, unweit von Coswig, das Schützenhaus der Stadt, um es fortan als Kneipe und Restaurant mit Frau und Sohn zu betreiben. Sogar für einen Spitznamen hatte das amerikanische Geld gesorgt. Wenn sich Großmutter in ihrer Kutsche zeigte, hieß es allgemein:
»Da kommt unsere Dollarprinzessin.« In kleineren Städten kennt man sich eben.
Großmutter Popig besaß Verwandtschaft in der Nähe, deshalb wohl war die Wahl auf die Lutherstadt gefallen. Beider Sohn Hans muss elf Jahre alt gewesen sein, als sie Amerika verließen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Am Wittenberger Gymnasium verbrachte er den Rest seiner Schulzeit.
In seinen amerikanischen Blondie-Comicalben blätterte ich später gern, auch wenn ich die Texte nicht verstand. Ei, was wären die wohl heute wert?
Schon seltener durfte ich mit seiner Münzsammlung spielen. Am faszinierendsten fand ich allerdings die elektrische Eisenbahn, die er aus den Staaten mitgebracht hatte. Die Dächer der ziemlich großen Blechwaggons ließen sich abheben. Innen waren die Personenwagen mit allerliebsten Bänken nebst Zubehör ausgestattet. Leider sauste die Elektrolok so schnell um die Kurven, dass der ganze Zug ständig entgleiste. Deshalb hatte man sie auf den Dachboden verbannt, wo ich sie nur selten in die Hand bekam.
Doch zurück zu den alten Popigs und deren Zuneigung füreinander.
Als Oma Popig nach einer, selbstverständlich allein verbrachten, Urlaubsreise zurückkehrte, fand sie Ehemann und Sohn nicht mehr- das Anwesen war verkauft. Der Gute hatte in Coswig, einem Ort in der Nähe Wittenbergs, einen Getreide-, Futtermittel- und Kohlenhandel erworben und war bereits mit Sohnemann und Maus umgezogen. Er hatte vergessen, seiner lieben Frau Mitteilung zu machen. So weit ging die gegenseitige Sprachlosigkeit.
Oft sah ich meinen Großvater des Abends im Kassenraum mit der großen Glasscheibe sitzen. Glatzköpfig, mit gichtig gekrümmten Fingern, zählte er die Tageseinnahmen und warf den Vorbeigehenden scheele und bedrohliche Blicke zu. Wie der alte Scrooge aus Dickens Weihnachtserzählung.
Einzig ich hatte keine Angst vor ihm. Alle Anderen der Hausgemeinschaft lebten in gewisser Furcht vor ihm. Ich liebte ihn geradezu und hatte seltsamerweise Narrenfreiheit bei dem Tyrannen. Schon als Kleinkind kletterte ich mit Vorliebe auf seiner Glatze herum und schrie ihm mit Begeisterung meine Mitteilungen ins Ohr. Voller Stolz holte ich ihn Sonntags aus der Kneipe ab, wo er in sein Schachspiel vertieft saß. Bevor wir gingen, prosteten wir uns noch feierlich mit unseren Schnapsgläsern zu, deren eines mit saccharinsüßer, roter Limonade gefüllt war.
Auch durfte ich mir in seinem Garten, der unmittelbar an Omas Garten grenzte, nach Herzenslust ungestraft den Bauch vollschlagen. Sogar ihre Gärten hatten sie getrennt, zwar ohne Zaun, doch mit jeweils einer Laube versehen, in der jeder für sich allein saß.
Andere hatten nicht so viel Glück wie ich. Jutta erzählte jüngst, wie sie einmal kurz davor stand, gelyncht zu werden, nachdem sie in der irrigen Annahme, dem Alten zu helfen, einen ganzen Baum völlig unreifer Birnen abgeerntet hatte. Das arme Stadtkind, das sich mit solchen unreifen Früchtchen nicht auskannte.
Es steht zu befürchten, dass meiner Schwester Jutta ohnehin nicht solch ein Erfolg im Hause Popig beschieden wurde, wie er mir zugefallen war. Das gemeinsame Zusammenleben mit ihr in Coswig ist völlig in den Tiefen meines Unterbewusstsein verschollen. Meine Erinnerung setzt erst ein, als Jutta bereits in Leipzig bei der anderen Großmutter logierte, die unserer Mutter das Leben geschenkt hatte. Meine Schwester kenne ich nur als Besuch. Ich galt als ihr Liebling und sie war mein Augenstern. Ich liebte sie fast wie die eigene Mutter. Es waren meine Festtage, wenn sie erschien. Selbstverständlich brachte sie ihren jüngeren Brüdern stets etwas mit, was unsere Zuneigung noch mächtig verstärkte.
Jutta war nach Leipzig gegangen, um am dortigen Opernhaus Ballerina zu werden, sie galt als begabt. Unsere Mutter hatte die Berufswahl der Tochter mehr als missbilligt, doch die Großmutter hatte das Berufsverbot hintertrieben und ihr Enkelkind heimlich beim Ballett angemeldet.
In meiner Erinnerung klaffte hier jahrelang ein merkwürdiges Loch. Wenn Mutter von ihren Nächten im Bunker erzählte, in denen sie mit dem vor Furcht mäuschenstillen Baby Schutz vor den Vergewaltigungen durch die russische Siegermacht suchte, kam Jutta praktisch nicht vor. So sah ich mich stets allein mit der Mutter, die Ärmchen ängstlich um ihren Hals geklammert, während Jutta ausgeblendet blieb. Ich vergaß diese erste gemeinsame Zeit vollkommen, wie ich so viel aus der Coswiger Zeit vergaß. Für mich war mein großes Vorbild Jutta immer in Leipzig und studierte Tanz.
Ein Studium war für Vater Popig nicht vorgesehen. Er trat folgsam seine Stellung als Nachfolger in der Firma des Vaters an, der sein