Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz
Wochenende erschien. Jutta arbeitete ja schon fleißig. An sich und am Leipziger Opernhaus, dessen Wiederaufbau vom Ensemble tatkräftig und mit körperlichem Einsatz unterstützt wurde. Trotz aller Mängel war es eine wunderbare Zeit.
Ich blättere gern im Album der im Kopf gespeicherten Erinnerungsbilder. Sie stehen noch klar vor dem geistigen Auge. Manchmal ist auch noch der Originalton dazu vorhanden, doch meist sind diese Bilder oft klarer und schöner, als es ein vergilbtes Erinnerungsfoto je sein kann. Vor allem wirken sie nicht so lächerlich unmodern, wie es meist alte Lichtbilder tun. Sogar meine Hochzeit später habe ich nicht fotografieren lassen, um die Bilder im Kopf nicht zu verlieren. In der Erinnerung bleiben wir schön.
Mir steigen die Bilder aus dem letzten, allerschönsten Urlaub in Kölpinsee in den Sinn. Ich sehe meinen Bruder und mich, behängt mit riesigen, schwarzen Schwimmreifen. Diese Reifen waren eigentlich für Flugzeuge bestimmt, unser Vater hatte sie vermutlich vom Fliegerhorst in Dessau. Sie waren wunderbar.
Ich sehe mich an einem der vielen kleinen Priele sitzen. Der fast flüssige Sand rinnt mir durch die Finger. Ich habe ihn aus dem Priel vor mir. Die Sand-Wasser-Pampe tröpfelt auf einen Stalagmit, der unter meinen Fingern emporwächst. Jeder sandige Tropfen lässt ihn noch etwas bizarrer werden. Eine Kleckerburg entsteht. Ein Spiel, das wir immer wieder spielen. Die zufällig entstehenden Formen sind aber auch zu interessant. Ich sehe Gerd, Sabine, Peter und mich, bewaffnet mit Eimerchen, in denen sich Glasaale tummeln. Erbettelt von den heimkehrenden Fischern.
Ich erinnere mich an die Aufregung, die in unseren zusammengestellten Strandkörben entstand, als wir mit hochroten Öhrchen mitteilten:
»Oh, da hinten baden sie nackig.«
Mutter, Luise Schneider, ihr Mann der Zahnarzt, Vater Popig, Gerd, Sabine, Peter und ich brechen auf, um das verschwiegene Plätzchen, weit ab vom Textilstrand, aufzusuchen. Eine Sensation damals, echte Nackte! Vater Schneider hat eine Filmkamera dabei, über Mutters Schulter muss er das filmen. Zu Hause wird er viel Erfolg mit dem Erotik-Streifen haben. Wir wandern am Strand entlang. Lange. Vater Schneider wird schon ganz ungeduldig. Vor uns geht ein alter Mann. Seine Schritte sind bedächtig. Auch er muss uns Deckung geben. Mutter flüstert dem Filmkünstler zu. Sie flüstert sächsisch.
»Nu passe ma uff, wenn där de Hose fallen lässt, isses soweid.«
Tatsächlich, nach einer Weile entledigt sich der Mann vor uns seiner Hose. Ein faltiger Männerarsch wird sichtbar. Es ist soweit. Heinz Schneider lässt die Kamera surren. Wir sind am Nacktbadestrand. Ein paar hübsche, junge Körper hüpfen über den Strand. Sie spielen Ball.
Männlein und Weiblein, splitternackt. Mir fällt eine besonders fette Frau auf. Sie hat sich auf einem großen Stein am Wasser ausgebreitet. Sie quillt förmlich über den Stein, an den Seiten hängt sie schon fast herunter, in der Mitte seltsam flach. Ich bin enttäuscht. Irgendwie habe ich mir nackte Frauen anders vorgestellt. Noch bin ich unschuldig.
Ich blättere weiter in meinem Gedächtnis. Ich sehe Gerd und mich auf einem Steg am Kölpinsee sitzen, das Schilf raschelt. Unter uns im klaren Wasser flitzen dicke Rotfedern hin und her. Unsere neuen Angeln sind mit weichen Brotkrumen beködert, die wir den Fischen direkt vor die Nase hängen. Sie mögen kein Brot. Keiner beißt. Hinter uns, im trockenen Schilf steht Gerds Vater, der uns Anweisungen zuflüstert, über allem brütet die heiße Mittagssonne. Es wird das Bild werden, das immer zuerst auftaucht, wenn ich an meine Kindheit an der See denke. Das und jenes, das meinen Bruder und mich auf den Armen eines Eisbärendarstellers zeigt.
Noch ein Bild kehrt immer wieder. Es zeigt uns Brüder mit einem Rettungsring. Ich halte den Ring aufrecht, ein verschmitztes Kerlchen, mit einer lustigen Lücke zwischen den Vorderzähnen. Durch den Ring lugt mein Bruder, viel niedlicher und zarter, eine Käthe Kruse Puppe. Auf dem Ring steht stolz: Seebad- Bansin.
Noch ein Bild, ein letztes!? Vater Popig und Mutter im Strandkorb. Ein untersetzter, kleiner Mann im schwarzen Badeanzug, der die schweren Biertitten nur notdürftig verdeckt. Neben ihm die schöne junge Frau, auf die er so stolz ist. Oft überfällt mich tiefe Sehnsucht nach dieser Zeit
Anfangs reisten wir nach Binz auf Rügen, doch die Verstaatlichung der Hotels machte es bald unmöglich. Für einige Jahre wichen wir nach Bansin auf der Insel Usedom aus, wo wir im Hotel Zur Post logierten. Sogar den Namen weiß ich noch, war es doch mein Lieblingshotel. Als selten kontaktfreudiges Kind gab ich nicht eher Ruhe, bis ich sämtliche Gäste kennengelernt hatte.
Ich tat es wohl mit gewissem Charme und die meisten waren entzückt von dem herzigen Blondschopf, der so ungeniert um ihre Aufmerksamkeit buhlte. Doch wenn ich es heute so recht überlege, so war auch immer ein Teil Angst dabei, der mich so handeln ließ. Ich musste immer erst abklären, ob mir jemand gefährlich sein könnte. Erst wenn alle abgeschätzt und für harmlos befunden waren, verzog ich mich zu meinen wahren Freunden in der Küche. Die lieben Eltern kannten das schon. Blieb ich für längere Zeit verschwunden, brauchten sie nur beim Küchenpersonal anzufragen. Meist saß ihr reizendes Kind in einer Ecke und löffelte vergnügt eine Tasse Suppe, die es dem Koch abgeschwatzt hatte.
Auch Vater Popig verschwand des öfteren mit einer leeren Aktentasche. Meist am frühen Morgen, wenn die anderen Hotelgäste noch schliefen. Was er zum Tausch den örtlichen Fischern anbot, vermag ich nicht zu sagen, doch stets brachte er seine Tasche wohlgefüllt zurück. So bereicherte unser (im wahrsten Sinne des Wortes) Ernährer den eintönigen Frühstückstisch mit frischer Butter, Schinken und Wurst. Delikatessen wie Räucheraal und Flundern wurden allerdings diskret in den Zimmern verzehrt, um keinen Neid zu erregen, denn es war die Zeit der Lebensmittelkarten. Selbst im Hotelrestaurant wurden täglich die Zuteilungsmarken für Fett und Fleisch sorgfältig vom Kellner mit der Schere vom Bogen geschnippelt.
Auch wenn die Sonne einmal nicht schien, kam keine Langeweile auf. Bei schlechtem Wetter unternahmen wir lange Spaziergänge im Wald. Besonders ein Ausflugsziel war mir lieb. Das Forsthaus Fangel am großen und kleinen Krebssee.
Offiziell gab es in dem meist leeren Lokal kaum etwas zum Verzehr und ich weiß wirklich nicht, wie Vater Popig es immer anstellte. Doch jedes Mal landete eine mit Krebsen im Sud wohl gefüllte Terrine auf dem Tisch der überdachten Veranda, auf der wir meist Platz genommen hatten. Damit begann das schönste und seltenste aller Urlaubsvergnügen - Krebsessen im Forsthaus.
Noch heute steigen sofort die Erinnerungsbilder an den unvergesslichen Tag am feinsandigen Strand empor. Ich sehe Brüderchen und mich auf dem Rücken des Miet- Eselchens, das munter durch den Badeort trabte. Ich sehe uns vor dem Warmbad, das einmal wöchentlich besucht wurde, um ein Wannenbad von exakt zwanzig Minuten zu nehmen. Obwohl wir uns immer sauber fühlten von den ausdauernden Bädern im Meer, bestanden die Eltern auf einer gründlichen Säuberung mit heißem Wasser und Seife. Taten sie es doch ebenfalls.
Es war immer ein bisschen unheimlich in einer fremden Wanne unter der Fuchtel der gestrengen Schließerin, die mit eherner Miene Handtuch und Seife aushändigte und sofort mahnte, wenn die Zeit überschritten war. Längst war es nicht so wie heute, wo ein Bad zu fast jedem Hotelzimmer gehört. Selbst die Toiletten lagen meist außerhalb der Fremdenzimmer, und fließendes Wasser und Waschbecken in den Unterkünften galten als ausgesprochen luxuriös.
Ich sehe den dunklen Wald, der sich geheimnisvoll über den weißen Strand erhebt. Die sanft geschwungenen Dünen, in denen zäher Strandhafer wurzelt, dessen lange Blätter sich in der Sommerbrise neigen. Die Priele, deren glitzernde Oberfläche das Licht der Abendsonne spiegelt, die ein viel bewundertes Spektakel am Horizont veranstaltet.
Die Flanade auf der Promenade, Kür der feingemachten Kurgäste, die Gesichter noch gezeichnet vom Krieg. Eindrücke, unauslöschlich.
Unauslöschlich auch, wie Vater bei der letzten Abreise ahnungsvoll zu uns sprach:
»Kinder, seht euch noch einmal alles ganz genau an. Vielleicht seht ihr es nie wieder.«
Er sollte für lange Zeit Recht behalten.
Die erste und schlimmste Zeit der russischen Besatzung habe ich bewusst noch nicht mitgekriegt. Glücklicherweise. Die Vergewaltigungen und Plünderungen, mit denen sich unsere Befreier für das erlittene Unrecht rächten. Sie bildeten einen schier