Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz

Sandburgen & Luftschlösser - Band 1 - Karl Michael Görlitz


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sehr viel Verspätung hatte der Bruder eigentlich nicht.

      Peter war ein zartes, schwächliches Kind, das sämtliche Kinderkrankheiten hintereinander bekam. So schien es mir immer. Er benötigte fast die gesamte Aufmerksamkeit der jungen Eltern. Ich hingegen galt als unheilbar gesund. Zwar bekam ich auch so einige Wehwehchen, doch dank der glänzenden Konstitution überwand ich sie schnell. Bei Peter schien es immer eine Frage von Leben und Tod und oft saßen die besorgten Eltern am Bettchen des Kranken, der leider auch nicht recht essen wollte.

      So wurden allerlei Maßnahmen notwendig, um das Kind einigermaßen durchzubringen. Eine Ziege wurde angeschafft, die in einer Ecke des Pferdestalls vor sich hin meckerte. Tagsüber wurde die olle Zicke mit einer Gerte von einem der Mädchen zu Opas Grundstück getrieben, wo sie, auf der großen Brachfläche hinter den Gärten angepflockt, grasend ihre Kreise zog.

      Wir ekelten uns vor der streng schmeckenden Ziegenmilch, also wurde eine Kuh angeschafft. Am leckersten war natürlich die von einer Zentrifuge ausgeschleuderte Sahne. Ein Hochgenuss, dessen ich allerdings selten teilhaftig wurde, war sie doch zumeist für den Bruder bestimmt, der sie nicht einmal mochte.

      Hier entstand ein gewisser Interessenkonflikt und ich fürchte, dass ich damals ein wenig fressneidisch gewesen bin. Echte Sahne war ein ungeheurer Luxus, den es nirgendwo zu kaufen gab. Im Milchgeschäft war sogar der Behälter für Vollmilch meist leer und in den blechernen Milchkannen transportierte die Bevölkerung ausschließlich Magermilch, die mit ein wenig Wasser auf Trinkstärke gebracht worden war. Es gab keine Sahnetorten, und das Höchste der Gefühle bestand aus Gebäck, welches mit Buttercreme gefüllt war. Natürlich bestand die Buttercreme aus Margarine, die mit farbenfrohen, künstlichen Puddings aufs äußerste gestreckt war und auch so schmeckte, als hätte man bei der IG-Farben alle Reste zusammengekehrt.

      Der Konditor, der diese Festtagstorten zusammenrühren ließ, sah oft ganz traurig aus. Der reinste Mehlancholiker.

      Noch etwas neidete ich dem Bruder. Wiederum eine ungeheuer seltene Köstlichkeit. Peter litt an Kalkmangel. Mit einem alten Hausrezept versuchte man den Schaden zu beheben. Eier wurden in Zitronensaft gelegt, um die kalkige Schale aufzulösen. Das restliche Ei wurde dann nur noch von seinem Häutchen zusammengehalten. Dieses wurde auch noch entfernt, und das Ganze mit reichlich Zucker aufgeschlagen, was einen gar köstlichen Eierpunsch hergab, der dem Kind als abendlicher Löffel in kleinen Portionen zugeführt wurde. Das Zeug schmeckte so verdammt gut und leider gelang es mir selten, ein Löffelchen zu erbetteln. Zu schwierig und zu kostspielig war die Beschaffung der Zitrusfrüchte, die in Westberlin erstanden werden mussten.

      Doch das war im Grunde schon alles, worauf ich neidisch war. Ich amüsierte mich genauso wie die Eltern über die ersten Sprechversuche des Kleinen, und lachte mit ihnen entzückt, wenn er vergeblich die Konsonanten GL hintereinander auszusprechen versuchte, was jedes Mal zu einem GR wurde. Wenn er mehrmals die vorgesprochene Glasglocke in eine Grasgrocke verwandelte, nahmen Freude und Lachen im Hause Popig kein Ende und alle waren glücklich. Von Rivalität konnte wirklich noch nicht die Rede sein. Das sollte erst im Westen beginnen.

      Ich ging brav in den Kindergarten und später zur Vorschule, die in den Klostergebäuden, nahe der Kirche untergebracht war. Dort selbst verzehrte ich mit Wonne die Quarkbrötchen aus dunklem Roggenmehl, die ich zuhause empört von mir gewiesen hätte. Quark und Käse waren überhaupt nicht mein Ding und der selbstgemachte Harzer, der überdies mit Gänseschmalz die Stulle zierte, ein echtes Gräuel. Doch im Kreise Gleichaltriger hätte ich vermutlich auch diesen begeistert gefuttert.

      Wir wurden im Frühherbst eingeschult, im Gegensatz zum Westen, der diesen Termin im Frühjahr wahrnahm. An den ersten Schultag erinnere ich mich noch genau, nicht nur wegen der gewaltigen Schultüte mit Zuckerwerk, die, wie bei fast Allen, zur Hälfte mit Seidenpapier ausgestopft, Fülle vortäuschen musste, wo keine war. Nein - eher wegen der Gluthitze, die an diesem Spätsommertag den mitgekommenen Müttern fast den Atem raubte.

      Die meisten hatten sich ächzend in die viel zu kleinen Schulbänke gequetscht, einige standen an den Fenstern und fächelten sich mit den Schiefertafeln ihrer I-Dötzchen Kühlung zu. Eine besonders Dicke, die unbedingt neben ihrem Sohn sitzen wollte, hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Dick war zu jener Zeit kaum jemand, und die Ärmste schnaufte gewaltig in dem beengenden Schulmöbel mit den eingeritzten Namen und gewaltigen Tintenflecken auf der Schreibplatte, die unverrückbar mit der Sitzbank verbunden war.

      Ich war gespannt und ein wenig ängstlich ob der Dinge, die nun passieren würden. Hatten doch alle Erwachsenen unisono vom beginnenden Ernst des Lebens geunkt.

      Es war gar nicht so schlimm. Ein nettes Fräulein mit Damenbart hatte sich als unsere Lehrerin vorgestellt und eine hübsche kleine Rede gehalten. Danach fragte sie uns mit auffordernder Miene:

      »Na, wer von euch kann denn schon ein Gedicht?«

      Ich kannte schon eins und meldete mich begeistert. Zwar war es ein Weihnachtsgedicht, das vor der Bescherung aufgesagt werden musste, doch es war zweifelsfrei ein Gedicht. Kein anderes Kind hatte sich gemeldet und auf ihr Zeichen hin erhob ich mich stolz und deklamierte mit schönster Betonung:

      »Hu, wie ist es kalt - wer stapft da durch den Wald?Knecht Ru.....«

      Weiter kam ich nicht. Ein tumultöses Gelächter hatte sich erhoben und die dicke Frau war vor Lachen aus der Bank gefallen. Was dem Ernst der Übrigen auch nicht gerade zuträglich war.

      Ich hatte mich wieder hingesetzt, verwirrt, aber auch erfreut, dass Dichtkunst zu solchen Gefühlsausbrüchen führen konnte. Oh, welche Macht war doch die Poesie!

      Unsere Lehrerin war ein freundliches Wesen und ich lernte gern bei ihr, auch wenn sie stets unrasiert zum Unterricht erschien. Hingebungsvoll malte ich am frühen Abend, beim traulichen Schein der Petroleumlampe, die die dunklen Stunden ohne Strom überbrücken half, mit quietschendem Griffel eine Reihe Buchstaben nach der anderen auf der linierten Seite der Schiefertafel. Die karierte Rückseite war den Rechenhausaufgaben vorbehalten, die nicht ganz so großes Interesse in mir erregten.

      Gelegentlich lernte ich ein wenig schwer, um nicht zu sagen, ein kleines bisschen begriffsstutzig gewesen zu sein. Doch hatte ich endlich begriffen, konnte ich immer besonders viel mit dem neuerworbenem Wissen anfangen, wie mir schien. Besonders nachdem ich die Buchstaben zu Worten zu reihen verstand und diese auch zu lesen vermochte, entdeckte ich ungeheures Vergnügen an Geschriebenem. Lesen war ja viel schöner, als stundenlang den Handwerkern zuzuschauen. Ich wurde zur Leseratte und verschlang, was mir unter die Finger kam.

      Andersens Märchen mit den Illustrationen von Ruth Koser-Michaelis, Trotzköpfchen und die Kasperleromane einer gewissen Josephine Siebe, wurden so die Grundpfeiler meiner Bildung. Und bald schrieb ich mein erstes Gedicht. Ein Gedicht, das sich in psychologisch ausgefeilter Weise mit dem Problem der Vorfreude auseinandersetzt, und dessen zwei Strophen, die mir noch erinnerlich sind, ich keinesfalls vorenthalten möchte. Es ging so:

      »Hurra, hurra, der Sonnabend ist da,

      der Sonntag ist nun nicht mehr fern,

      den haben alle Kinder gern.’

      Refrain: Hurra, hurra, der Sonnabend....usw.«

      Die zweite Strophe war ganz in zartem Kontrast gehalten. Sie lautete:

      »Oh je, oh je, der Sonntag tut fast weh.

      Nun steht der Montag vor der Tür,

      und leider kann er nichts dafür.

      Refrain: ...«

      Jeder Wochentag war mit ähnlich tiefsinnigen Aphorismen abgehandelt worden und ich schrieb alle sieben Strophen mit meiner schönsten Schönschrift auf ein großes Blatt Papier, welches ich stolz an das schwarze Brett der Schule heftete, wie weiland Luther seine Thesen an das Portal der Schlosskirche nebenan.

      Selbstverständlich war das Werk signiert und damit auch ja kein Zweifel an meiner Autorenschaft aufkamen, fügte ich noch in schöner Bescheidenheit hinzu:

      »Selbstgedichtet von Michael Popig«.

      Danach verschonte ich mein Publikum bis heute mit weiteren Reimen.

      Das


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