Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz
angeschaut hatte. Oder der wunderbare Puppentrickfilm mit Gesang, der das Leben eines Holzmännleins namens Pinocchio beschrieb. Lauter Filme, die garantiert kindgerecht und frei von blauen Jungpionier-Halstüchern waren.
Mein Tuch hatte ich recht selten getragen, passte es doch nicht so recht zu den Maßanzügen, mit denen Mutter uns aufbrezelte. In der Schule sangen wir begeistert das Aufbau-Lied, in welchem die freie deutsche Jugend zur Wiedererrichtung der Heimat aufgefordert wurde. Wir waren die Hoffnungsträger, und wir waren uns der großen Aufgabe wohl bewusst. Schlechter als jetzt konnte es ohnehin kaum noch kommen und wir erfüllten unsere Pflicht.
Sogar die Eltern wurden unserer Aufsichtspflicht unterstellt. In der Schule und im Ferienlager hatte man uns erklärt, dass wir republikfeindliche Äußerungen der Erziehungsberechtigten, und erst recht Taten, unverzüglich den Behörden zu melden hätten. Kinder, die im Sinne der Partei handelten und ihre Angehörigen verpfiffen, wurden als Helden gefeiert und belohnt. Ich hätte mir auf diese Art gut den Besuch der höheren Schule mit anschließendem Studium ermöglichen können, denn Kinder aus der ausbeuterischen Klasse, sowie der schaffenden Intelligenzia, war normalerweise der Zugang zu höheren Weihen verwehrt. Meinem Bruder Peter, den Ärztesöhnen Gerd Schneider und Christian Globisch und mir war eine Zukunft als Angehörige der werktätigen Klasse vorherbestimmt, um der geforderten Proletarisierung der Massen Genüge zu leisten.
Peter und ich folgten diesen Anweisungen nie, dabei wäre doch so viel zu melden gewesen. Außerdem stand mein Berufswunsch fest, und ein Tänzer benötigte kein Abitur. Betrieb und Haushalt funktionierten nie ganz ohne Korruption und Schmuggelware aus dem Westen. Bei uns nicht und auch nicht bei den Anderen aus unserem Bekanntenkreis. Sogar die Ehefrauen wurden rücksichtslos bei der Ausführung von Straftaten eingesetzt, indem man sie als Schmugglerinnen missbrauchte.
Mutter erzählte später noch oft, wie sie bei einer Fahrt nach Westberlin, mit der Freundin Luise Schneider, in die Zwickmühlen des Gesetzes geriet. Fast. Sie waren noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Nach einem tagelangen Verhör hatte man sie wieder laufen lassen müssen, da sich die vermutete Westwährung nicht fand. Selbstverständlich hatten beide Damen Westgeld mit sich geführt, es war nur nicht gefunden worden. Mutter hatte das ihre so geschickt in die Dekoration ihres damenhaften Hutes eingenäht, dass es den Argusaugen des Zollbeamten, der sämtliche Nähte, auch die der Unterwäsche geprüft hatte, tatsächlich entgangen war. Ohnehin hatte sie nicht so viel mitgeführt, da sie nur nach ein Paar Schuhen oder einem Stückchen Stoff auf Berlins Prachtboulevard Ausschau halten wollte. Aber Freundin Luise war von ihrem Manne, dem Zahnarzt, beauftragt worden, dringend benötigte Medikamente und Ersatzbohrer herbeizuschaffen, wozu eine größere Summe vonnöten war. Luise hatte ihr Geld, immerhin einige Tausend, unter dem Belag der mitgeführten Butterbrote deponiert, welche sie noch im Abteil des Zuges, in welchem sie durch ihre schicke Kleidung aufgefallen waren, vor den Augen des suchenden Zöllners kaltblütig verzehrte. Auch Mutter war von einem plötzlichen Heißhungeranfall schier überwältigt worden und hatte herzhaft zugegriffen. Nur gut, dass es damals noch keine Sicherheitsfäden aus Metall gegeben hatte, die Damen hätten auf dem Röntgenschirm geleuchtet wie Christbäume - das Lametta innen!
Man hatte die Beiden gegen Abend, nachdem sie auf der Wache, wohin man sie wie Verbrecherinnen unter Polizeischutz verbracht hatte, und dortselbst ununterbrochen, aber erfolglos verhörte, unter Seufzen wieder laufen lassen. Doch sie waren fürderhin gebrandmarkt. Als Schmugglerinnen waren sie unbrauchbar geworden, bei jeder Kontrolle holte man sie aus dem Zug - sie trugen einen geheimen Vermerk im Ausweis, den sie nie entdeckten.
Ein, zwei Tipps dieser Art, bei den amtlichen Organen, hätten Brüderchen und mich zu Helden des sozialistischen Sieges gemacht, und unser hehres Denunziantentum wäre als ein Hohelied in der staatskonformen Presse gewisslich gesungen worden - doch daraus machten wir uns nichts.
Wir machten uns auch nicht viel aus dem Sommerlager der Jungpioniere, zu welchem wir nur unter sanftem Zwang erschienen. Zum Glück brauchten wir nie in den müffelnden Zelten zu nächtigen, die sich am Rande der Stadt um die großen Baracken drängten, in denen die Küche und Gemeinschaftsräume untergebracht waren. Das Essen war selbst für damalige Verhältnisse schauerlich, und wir des Abends heilfroh wieder am häuslichen Tisch zu sitzen.
Peter, als zwei Jahre jüngerer Pimpf, hatte ohnehin die besseren Ausreden für sein Nichterscheinen. Oftmals musste ich allein hingehen, um der politischen Schulung teilhaftig zu werden, bevor wir in den Wald zogen, in welchem unsere Gruppenspiele stattfanden.
Zugegeben - manche Spiele, wie zum Beispiel Schnitzeljagd waren spannend, sieht man einmal davon ab, dass dem Sieger kein Schnitzel winkte. Wir waren Besseres gewohnt. Wir spielten lieber zu Hause mit unseren Freunden, die nach und nach zahlreicher wurden.
Ich war auf die Idee gekommen, den Leuten etwas nicht Alltägliches zu bieten, als Werbemaßnahme sozusagen. Ich brauchte Freunde und ich bekam sie.
Das beste Lockmittel war natürlich unsere elektrische Eisenbahn, die einzig Funktionierende der ganzen Stadt. Sie war im Laufe der Jahre mächtig gewachsen, und, weiß der Teufel, woher der Alte die ganzen Einzelteile ergattert hatte, ausgesprochen ansehnlich geworden. So groß, dass sie auf eine riesige Platte montiert wurde, und ganzjährig, nach Großvaters Tod, in dessen verwaistem Büro mit dem altmodischen Eisentresor im Parterre des Hauses, zu stehen kam. Bis auf die Weihnachtsfeiertage, die Vater mit seinen Freunden meist auf einer gemütlichen Decke unter der Platte verbrachte, während der Duft des Gänsebratens durchs ganze Haus zog, um irgendwelche gebrochenen Kabel, in dieser kupferlosen Zeit, wo leitende Metalllegierungen brüchig wie Glas waren, zu reparieren, oder um die Neuheiten vom Fest zu installieren.
Mir war das egal - spielte ich doch ohnehin nicht so gern mit dem technischen Kram wie der Bruder, sondern verschönerte lieber die Oberfläche der Anlage mit selbstgebastelten Häusern der damals so beliebten Papierbastelbögen, aus denen sich die wunderbarsten Architekturen ausschneiden, falzen und kleben ließen. Doch waren die Feiertage wieder vorbei, blieb uns Brüdern das Feld im alten Büro überlassen, und die mit uns befreundeten Kinder schlüpften meist ungesehen durch den Vorderflur, der zum Treppenhaus mit einer Glastüre aus Riffelglas abgeschottet war, zu uns herein.
In diesem Flur, der eigentlich eher ein gekachelter, leerer Vorderraum war, fanden auch die vielen Kasperle-Vorstellungen für die Nachbarschaftskinder statt, besonders bejubelt, wenn Vater das große Theater vom Speicher anschleppte, hinter dem er selbst stehen konnte und selbst eine Vorstellung gab. Was nur leider viel zu selten geschah.
Es gab drei Puppentheater im Haus Popig. Das große von Hans stammte noch aus Übersee. Es gab für mich ein kleines, wackliges Tischmodell, und ein mittelgroßes, das ich aus dem begehbaren Kaufmannsladen geschaffen hatte. Der Kaufmannsladen hatte als solcher mein Interesse verloren. Es war auf Dauer ein wenig langweilig geworden, mit nutzlosen Dingen, wie Steinchen, Sand oder Tonmurmeln, zu handeln. Es musste etwas Besseres her, etwas, das man wirklich verkaufen konnte. Die Wahl war auf den halbvergammelten Blumenkohlhaufen von der Plantage gefallen, der aussortiert noch im Hof herumlag und ich hatte die noch genießbaren Teile herausgebrochen und mein Warenlager damit gefüllt. Vorm Haus aufgestellt hatte das neue Geschäft, welches Blumenkohl zu Pfennigspreisen offerierte, ausgesprochen floriert, bis die erschütterten Eltern, angelockt vom Trubel, merkten, was ihr blondes Kind da wieder trieb.
Die zweite strenge Ermahnung meines Lebens war fällig geworden. (Die erste kassierte ich nach dem Ver schönerungsversuch mit Tuschfarben auf der hässlichen dunklen Holztäfelung des Esszimmers.) Und sogar Tante Weinert hatte mir empört erklärt:
»Mit Gottes Gaben spielt man nicht!«
Gerade von ihr, die selbst den ganzen Tag mit Wein und Spirituosen ihr Geld verdiente, hatte ich mehr Verständnis erwartet, schließlich war es nicht nur ein Spiel gewesen. Ich hatte meinen Beitrag zur Versorgung geleistet und auch das eingenommene Geld war echt gewesen. Wirklich, Undank ist der Welt Lohn. Nicht einmal die spektakuläre Summe von vierundneunzig Pfennigen, die nach Kassensturz verblieben, hatte ihr Interesse geweckt. Dieses Spiel war mir schlichtweg verboten worden.
Danach hatte ich die gesamte Inneneinrichtung des Ladens dem Bruder überlassen, der einen sonderbaren Zerstörungstrieb entwickelte und getreulich all die Schubkästen und Vitrinen in Trümmer