Magische Bande. Dennis Blesinger
Ahnung, was es war. Sicher war nur, dass ihr diese Vorahnungen bereits mehrfach das Leben gerettet hatten. Und so nützlich wie sie waren, genauso unangenehm waren sie. Sie kam sich vor, als ob irgendetwas, das sie nicht kontrollieren konnte, kurz Besitz von ihr ergriff. Sie hasste das Gefühl. Und doch auch wieder nicht. Jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, bekam sie Kopfschmerzen.
Langsam ging sie den Flur entlang. Im Wohnzimmer waren bereits weitere Beamte und hatten damit angefangen, das dortige Chaos zu analysieren. Die Blicke der vier Personen fuhren herum, als sie im Türrahmen stehenblieb und die Szenerie in sich aufnahm.
Nein, dachte sie bei sich. Nicht hier.
Sie drehte sich zur Seite, machte einen Schritt zurück und blickte die Treppe hinunter, die zum Keller führte. Ein Schnauben erklang von einem der Kollegen.
»Unglaublich«, meinte der junge Mann. »Wie machen Sie das?« Nicole blickte ihn verwundert an. Jetzt erkannte sie ihn. Er war neu im Revier und hatte wie alle Frischlinge den undankbaren Bereitschaftsdienst. Tibert? Nein. Irgendwas mit Vögeln.
»Was?«, fragte sie, während sie nach dem Namen des Kollegen suchte.
»Woher wissen Sie, dass …« Er nickte in Richtung Keller.
Sie zuckte mit den Schultern. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war neues Futter für den Flurfunk. Dann registrierte sie etwas, das ihr bisher entgangen war.
»Der Geruch«, meinte sie schließlich. »Eisen. Kommt von da.« Sie zeigte die Treppe hinunter. »Und wo wir gerade bei Geruch sind.« Sie zog die Nase kraus, während sie sich umblickte. »Was ist das für ein Gestank?«
»Bleiche«, erklang die Antwort neben ihr. Eine der in weißgekleideten Gestalten kam aus der Küche. Er zeigte auf den Fleck am Fuße der Treppe, die in den ersten Stock führte. »Irgendwer hat sauber gemacht. Ziemlich gründlich.«
Nicole betrachtete den Fleck, der, anders als der Rest des Zimmers, tatsächlich sehr sauber war. Keinerlei Staub oder andere Teilchen waren auf dem knappen Quadratmeter zu sehen. Der Rest des Zimmers hingegen sah aus wie ein Schlachtfeld. Sie blickte sich kurz um, jedoch erregte nichts ihre unmittelbare Aufmerksamkeit.
»Schon unten gewesen?«, fragte sie den Kollegen der Spurensicherung.
»Eine unglaubliche Sauerei«, lautete die Antwort. »Ich hoffe, Sie haben noch nichts gegessen.«
Sie nickte ihm zu und wandte sich an den Kollegen, der sie nach wie vor abschätzend musterte.
»Sie heißen Taubert, richtig?«, fragte sie. Der Kollege nickte. »Bevor ich da runtergehe und mir die Laune endgültig vergeht«, meinte sie, »haben Sie vielleicht noch was zu sagen?« Sie registrierte, dass sie unnötig schroff war und setzte einen freundlicheren Blick auf.
»Äh ja.« Taubert nestelte einen kleinen Notizblock hervor. »Wir haben die Nachbarn befragt. Die eine Hälfte meint, der Typ, der hier wohnt, opfert Katzen in seinem Keller, die andere Hälfte hält ihn für das Paradebeispiel eines unauffälligen Nachbarn, wenn auch ein wenig düster.« Er blätterte um. »Das Kennzeichen eines Wagens. Der Typ von gegenüber meinte, irgendwas wäre ihm komisch daran vorgekommen.«
»Komisch 'Haha' oder komisch 'Merkwürdig'?«
Die Stille zog sich wie Kaugummi, als der Kollege nach einer Antwort suchte. Nicole seufzte innerlich. »Das war ein Witz. Also komisch 'Haha'«, meinte sie letztendlich. »Gut. Sorgen Sie dafür, dass ich die Sachen morgen auf dem Tisch habe, okay?« Sie lächelte dem Kollegen zu, wandte sich ab und stieg langsam aber sicher die Treppe hinunter. Als sie dreißig Sekunden später das Haus verließ, fragte sie der Beamte an der Tür erstaunt: »Schon fertig?«
Nicole verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. »Nein«, meinte sie. »Aber ich habe keine Lust, mir meine Schuhe zu versauen.«
Sie überbrückte den kurzen Weg zu ihrem Wagen, öffnete den Kofferraum, holte ein Paar Gummistiefel hervor, setzte sich auf die Stoßstange, wechselte die Schuhe, nahm ein Paar Einweg-Überzieher aus dem kleinen Kasten mit und ging wieder ins Haus.
12
Es war dunkel. Nicht die Dunkelheit der Nacht, auch nicht die des Alls, sondern Schwärze, die das absolute Gegenteil von Helligkeit verkörperte. Es tat den Augen weh, sich auf eine derartige Finsternis zu konzentrieren. Allerdings … nach ein paar Sekunden war er sich nicht mehr sicher. Vielleicht war es auch ein sehr dunkles Rot.
Trotz der Dunkelheit erkannte er, dass Bewegungen da waren. Welcher Art sie waren, konnte er nicht erkennen, aber er konnte sie fühlen. Er wartete eine Weile, um zu testen, ob sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen würden. Schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es schien, sah er etwas. Ein blassblaues Leuchten hing in der Schwärze und trieb hin her, wie ein Faden, an dem ein Gewicht zog. Er ging auf den Faden zu.
Kein Boden war zu spüren, auch keine sonstigen Gegenstände oder Formen, die auf die Beschaffenheit der Umgebung hingedeutet hätten. Es war warm, fast schon heiß. Woher diese Empfindung kam, wusste er nicht, aber er war sich sicher, dass das Gefühl der Wärme nichts mit seiner Haut zu tun hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er welche hatte.
Der Faden hing nun deutlich in der Luft vor ihm. Es fiel ihm immer noch schwer, Einzelheiten zu erkennen, aber er glaubte Schemen an den beiden Enden der Linie erkennen zu können.
»Niemals!«
Das Wort hing in der Luft, hallte in seinen Ohren und ließ ihn hektisch hin und her blicken. Er erkannte die Stimme. Wo war sie?
Der Faden zuckte hin und her, hing straff gespannt in der Luft, bis er wieder in sich zusammenfiel. Er trat etwas näher. Noch immer konnte er außer der blassblauen Linie nichts erkennen. Was auch immer an den Enden des Fadens hing, es entzog sich nach wie vor seiner Wahrnehmung.
Er blieb stehen, nur wenige Meter von dem zuckenden Faden entfernt. Etwas sagte ihm, dass keine Gefahr davon ausging, im Gegenteil. Dies war das, weshalb er hier war, das, wonach er suchte. Er war sich zwar nicht sicher, wonach er suchte, aber das war es. Gleichzeitig jedoch meldete sich ein anderer Sinn, der ihm zurief, dass sich die Gefahr, die definitiv um ihn herum lauerte, in unmittelbarer Nähe des Fadens aufhielt. Er würde das, wonach er suchte, nicht finden, ohne sich zu zeigen.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Seine Augen waren, wie seine Haut, nicht hier. Etwas zu sehen, hieß nicht, die Augen zu öffnen. Es bedeutete, wahrzunehmen, was da war. Allerdings bedeutete dies auch, Dinge wahrzunehmen, die man eigentlich nicht wahrnehmen wollte. Es war schwierig, nur einen Teil der Wahrnehmungen zuzulassen. Er konzentrierte sich, wappnete sich gegen das, was gleich kommen würde und öffnete seinen Verstand.
Die Hitzewelle, die auf ihn einschlug, raubte ihm fast den Atem, bevor er sich darauf besann, keine Lunge zu haben, die verbrannt werden konnte. Ebenso wenig Haut oder andere Organe, die Schaden nehmen konnten. Er blickte sich um.
Der Faden hing nun gleißend hell in der Luft, dicker als vorher und an jedem Ende hing … Nadja.
Es brauchte einen Augenblick, bis Marc die Unterschiede klar wurden. Er sah nicht die selbe Person doppelt, sondern zwei verschiedene Facetten seiner Schwester. Die eine lag mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht auf der Erde, inmitten einer viel zu großen dunklen Blutlache, während die Nadja am anderen Ende des Fadens einen halben Meter über dem Boden schwebte und etwas anblickte, das sich nach wie vor jenseits seiner Wahrnehmung befand.
»Niemals!«
Auf dem Gesicht der schwebenden Nadja lag ein grimmiger Ausdruck, den Marc nur zu gut kannte. Trotz, gepaart mit einem eisernen Willen, lag in ihren Augen.
Etwas peitschte durch die Luft, landete mit einem hässlichen Klatschen dort, wo Nadja lag und hinterließ eine tiefe Wunde auf ihrem Arm. Blut spritzte und vergrößerte die Lache, in der der Körper lag, noch ein wenig. Der Schrei, der seiner Schwester entfuhr, tat Marc in der Seele weh. Er blickte sich zunehmend hektisch um, um herauszufinden, was er tun könnte.
»Wenn ich sterbe, wirst du