Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt
Rau, aber herzlich. Auf mich können Sie rechnen. Würde Sie persönlich aus dem Todesstreifen retten, wenn Sie sich im Stacheldraht verheddert hätten. Aber Sie legen‘s ja wohl kaum darauf an, die Seiten zu wechseln, oder? Und vergessen Sie nicht – wir waren es, die Sie aus der Gosse geholt haben. Keiner von Ihren sogenannten Freunden. Ihr Mädchen hat Sie wegen dieses Türken verlassen. Ohne uns würden Sie jetzt mit einer Rotweinflasche im Arm unter den Großmarktständen liegen …«
Nach dieser Unverschämtheit legte ich auf …
Draußen vor der Telefonzelle hatte ich mit einem Male das Gefühl, nicht zurückgehen zu müssen.
Ich bog in die Bergfriedstraße ein. Ein Mädchen mit langen Haaren und einem safrangelben Kattunkleid fütterte von ihrem Fenster aus Tauben auf dem Garagendach; einige Körner rollten herab, und die Tauben flatterten vor meine Füße.
Das Lächeln des Mädchens erinnerte mich an Valessa, sie war die Tochter eines im Rheinland stationierten englischen Offiziers und ihr Frohsinn hatte seine griesgrämige Soldatenart bei weitem aufgewogen. – Nicht wegen des Türken, dachte ich. Er war nur eine Gelegenheitsbekanntschaft und eine Chance, problemlos den Standort zu wechseln. Izmir oder Kairo – völlig gleichgültig. Sie hätte sich auch einem Hottentotten an den Hals geworfen. Nur weg aus dieser Stadt, weg von ihren Zweifeln, ihrem Misstrauen, ihrem schlechten Gewissen. (Als wenn ein paar tausend Kilometer daran etwas ändern könnten.) Ohne viel von dem Prozess gegen Pysik zu verstehen, hatte sie mit sicherem Instinkt erkannt, was der Grund für seine übereilte Verurteilung gewesen war.
Die Sonne schien, eine niedrig stehende Herbstsonne. Immer noch warm genug, um im Wannsee schwimmen zu gehen. Das Licht auf dem glatten gelben Verputz der Hauswände schien von einer Freiheit zu reden, die ich lange nicht verspürt hatte.
Was, zum Teufel, gingen mich F.s Probleme an?
Sicher: ohne ihn würde ich unter den Marktständen faule Äpfel sammeln. Ich hatte schon immer ein Faible für die für die Gosse und die unteren Gesellschaftsschichten besessen. Neben der Fähigkeit zu unbegrenzter Melancholie vielleicht meine bemerkenswerteste Eigenschaft, wie Valessa zu spötteln pflegte.
Es fiel mir leicht, mich in den Unrat zu Fischabfällen und leeren Obstkisten zu legen.
Meine Leber würde durch billigsten Alkohol verhärten, das Gesicht rotäderig und von der Sonne gegerbt werden, und womöglich würde ich dank meiner Bildung und der Fähigkeit, besser als sie mit Worten umzugehen, zu einem ihrer Anführer werden. Falls es so etwas unter diesen Leuten überhaupt gab? Ich glaube, bei ihnen hat die Hierarchie endlich ein Ende.
Und wenn ich nicht in die Wohnung zurückkehrte, mir irgendwo eine Reisetasche, eine Zahnbürste und ein paar andere Kleinigkeiten besorgte und verschwand? Es war, als braue sich etwas über mir zusammen, als könne ich ihm ausweichen, indem ich jetzt einfach geradeaus ging, immer weiter geradeaus.
Ich hatte noch ein wenig Geld auf dem Konto. Die Mädchen, die mir entgegenkamen, sahen hübsch aus. Etwas von einer beneidenswerten Ausgelassenheit und Unbekümmertheit war in der Art, wie sie gingen, den Arm um die Schultern einer Freundin legten oder mit der dicken Frau schwatzten, die im Hauseingang die Stufen wischte.
Ich dagegen erledigte für F. die Drecksarbeit, die moralische Drecksarbeit, ich bewahrte ihn vor den Anfechtungen seines schlechten Gewissens: ein »Spezialist« hatte schließlich über ihre Schuld befunden, ein Fachmann im Aufdecken dunkler Machenschaften. Er segnete die Todesurteile ab, die sie ohnehin längst beschlossen hatten. Aber konnte nicht noch mehr dahinterstecken?
Und während ich die sonnenüberflutete Straße überquerte, wurde mir plötzlich klar – zum ersten Mal klar seit zweieinhalb Jahren –, dass es noch einen weiteren Grund für meine Arbeit geben konnte:
Wenn sie es darauf anlegten, sich im Ernstfall der Verantwortung zu entziehen, würden sie mich womöglich als Verantwortlichen ausgeben …?
Dazu führte man mich einfach in jenen Unterlagen, die irgendwo über die Hierarchie der Organisation existieren mussten, als den maßgeblichen Mann. Dieser simple Trick erlaubte es zumindest, den größeren Teil der Schuld abzuwälzen.
Nicht ich hatte von F. die Anweisungen bekommen, sondern er sie von mir!
Es gab schließlich genügend Untersuchungsberichte, die meine Arbeit bestätigten. Natürlich würde ich, wenn es soweit war, meine Verantwortlichkeit leugnen: gegenseitige Beschuldigungen, Ausflüchte … die übliche Prozedur.
Niemand erwartete ernsthaft ein Geständnis von mir. Und weder F. noch seine Hintermänner und Helfershelfer würde an einer derart gefährlichen Zuspitzung der Ereignisse interessiert sein, sondern alles tun, um es zu verhindern. Sie sorgten nur für Eventualitäten vor.
Sie hatten die Lehre des Schreibtischtäters aus den Nürnberger Prozessen gezogen, sie hatten – auf ihre Weise – aus der Geschichte gelernt und für den Tag vorgearbeitet, an dem ihre Tätigkeit mehr Publizität erfuhr, als ihnen lieb sein konnte. Selbst ein Regimewechsel war nicht undenkbar, besonders in Berlin, dieser ungeliebten Enklave des Kapitalismus (wer glaubte schon daran, dass die Amerikaner für Berlin einen Atomkrieg riskieren würden?). Bei einem Machtwechsel waren sie die ersten, an denen ein Exempel statuiert wurde.
Der Gedanke erschreckte mich. Sicher war es nicht mehr als ein Verdacht. Dass eine derartige Institution auch ohne diesen Hintergrund in den Augen F.s und seiner Leute ihre Notwendigkeit besaß, daran bestand kein Zweifel.
Es gab genügend Fälle, bei denen man sich in der Tat fragen konnte, ob Mord nicht die einfachste und sicherste Lösung war. Beispielsweise wäre Wolters, ein Österreicher, der mit Ostgeldern ein Motorenwerk in Bayern aufkaufte, dann die Konkurrenz bei der Vergabe von militärischen Aufträgen unterbot und so die Entwicklung eines leichten Kampfpanzers um zwei Jahre zurückwarf – er hatte systematisch Konstruktionsfehler in das Aggregat geschmuggelt –, mit Sicherheit F.s Opfer geworden. Seine Leute hatten ihn nur zu spät enttarnt.
Da die Finanzierung des Projektes durch Moskau kaum schlüssig nachzuweisen war, hätte kein Gericht der Welt ihn verurteilen können. Erst seine Flucht nach Ost-Berlin bestätigte unseren Verdacht.
Weniger unbefriedigend war der Fall Balkowski ausgegangen. Balkowski war gebürtiger Schlesier und arbeitete im Brüsseler Sekretariat. Man hatte ihn unschädlich gemacht, weil er in dem Verdacht stand, geheime NATO-Berichte an den Osten verkauft zu haben. In der Amtshierarchie galt er als Senkrechtstarter mit eindeutiger politischer Haltung und untadeliger Vergangenheit.
Ehe man ihn kaltstellte, waren vier Berichte des Military Committee, des obersten militärischen Organs, aus der Standing Group weitergegeben worden.
Es gab nur drei Personen, die Zugang zu dem Safe besaßen, und wir verhörten sie der Reihe nach und kamen zu dem Schluss, dass es Balkowski sein musste. Doch die Indizien reichten nicht aus für eine Verhaftung. Man hätte ihn zwar von dem Posten entfernen können, aber dann wäre er höchstwahrscheinlich mit seinem Wissen in den Osten gegangen.
Das Dilemma, in dem sich auch wohlmeinende Mitarbeiter der betroffenen Organisationen in so einem Fall befanden, war offenkundig:
Die Gesetze ließen wenig Raum für Spürsinn und Intuitionen. Im Zweifelsfalle für den Angeklagten; was der sogenannte gesunde Menschenverstand sagte, interessierte nicht.
Man hätte ein Geständnis aus ihnen herausprügeln können – doch das wäre lediglich eine Bestätigung dessen gewesen, was wir ohnehin schon wussten und hätte vor Gericht keinerlei Beweiskraft gehabt. Insofern gab es keinen Zweifel an den praktischen Vorteilen, die F.s Methode boten.
Es waren dreizehn Fälle bisher, und nach seiner Überzeugung befand sich kein Unschuldiger darunter.
»Glauben Sie mir«, versicherte er bei jeder Gelegenheit, »wenn auch nur die geringste Chance besteht, sie durch ein ordentliches Gerichtsverfahren aus dem Verkehr zu ziehen, dann wählen wir diesen Weg …«
Bevor ich in die Wohnung zurückkehrte, warf ich einen Blick in den Eingang des ehemaligen Fahrradgeschäftes, dessen Schaufensterauslagen mit Packpapier verhängt