Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt

Kalter Krieg im Spiegel - Peter Schmidt


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vom plötzlichen Scheinwerferkegel des Wachturms im Ostsektor – abwehrend seine Arme hochriss …

      … und dabei schwankte, als würde er jeden Moment das Gleichgewicht verlieren …

      Ich sah, dass er beim Hinaufklettern einen seiner beiden Pantoffel verloren hatte. Dicht an der Mauer unter ihm parkte ein offener VW-Transporter mit Farbeimern und einer Anstreicherleiter, die von der Ladefläche aus gegen den Mauerkranz lehnte. Die Mauer war hier an der schräg abfallenden Straße höher als weiter hinten, aber die Leiter hatte es ihm trotzdem ermöglich, ohne Probleme auf den Mauerkranz zu steigen.

      Passanten, Frauen mit Einkaufstaschen und ein bärtiger junger Mann, der einen Kinderwagen voller leerer Bierkästen schob, ermunterten ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite mit Winken und Zurufen. Aus einem Wohnungsfenster über mir rief jemand:

      »Spring endlich, alter Narr …«

      – und eine Frauenstimme antwortete aus der Tiefe des Zimmers mit heiserem Lachen …

      Es war Herbst. Die Blätter waren gelb und fielen von den Bäumen. Passend dazu las ich gerade Willliam Smith‘s Oden an den Herbst (ein fast vergessener irischer Dichter des 17. Jahrhunderts). Aber solche Texte machten mich immer ein wenig depressiv. Trotzdem konnte ich‘s nicht lassen!

      Auf den Mann auf der Mauer war ich jedenfalls nicht gut vorbereitet. Offenbar glaubten sie im Wachturm, er käme von drüben. Es war nur natürlich, das anzunehmen. Wer überklettert schon die Mauer von West nach Ost?

      Doch das kalte grelle Scheinwerferlicht schloss jeden Zweifel für mich aus – derselbe Mann hatte mir dreißig Tage und Nächte in einer eigens für Verhöre hergerichteten Wohnung an der Luckauer Straße gegenübergesessen. Dreißig Tage und Nächte, die über sein Leben entschieden. Stunden, in denen sich ein Indiz, ein Fehler, ein Hinweis, ein Verdachtsmoment an das andere reihten.

      Ich schrieb meinen Bericht, und sein Schicksal war besiegelt.

       Ad multos annos …

      Auf welche Weise, das erfuhr ich nicht. Angeblich war er ein bulgarischer Dissident – ein Funktionär –‚ den Zweifel an der Realisierbarkeit des sozialistischen Traums befallen hatten und der im Alter von achtundsechzig Jahren (er sah älter aus) zum Kapitalismus konvertiert war.

      Eine freche Täuschung, nichts weiter. Er war ein erbärmlicher Schauspieler.

      Es verwirrte ihn schon, dass ich ihn fragte, ob ihn der Materialismus des Westens nicht anwidere.

      Nach den herübergefunkten Unterlagen bestanden Verdachtsmomente, ihn in jene Kategorie von Überläufern einzustufen, die ein Rechtsstaat zwar akzeptieren sollte, das übergeordnete Interesse der Allgemeinheit jedoch nicht akzeptieren kann (»dem Ideal nach vielleicht, aber nicht in der Wirklichkeit«),wie F. zu beteuern pflegte: jene (durchaus seltenen) Fälle, in denen ein Individuum dem Land voraussichtlich mehr schaden wird, als die moralischen Bedenken gegen seinen Tod wiegen könnten.

      Ich hatte das Problem mit F. in den vergangenen Jahren wieder und wieder diskutiert. Er war so etwas wie moralische Aufrüstung, Beichtvater und Psychotherapeut für mich.

      Doch nie hat er mich wirklich davon überzeugen können, dass dieses Verfahren durch politische oder weltanschauliche Erwägungen zu rechtfertigen ist.

      Ich halte seine Äußerungen, obwohl sie sehr überzeugend vorgetragen werden, für die obskuren Entlastungsversuche eines Schreibtischtäters, dem von höchster Stelle – die immer ungenannt bleibt – angeblich keine Wahl gelassen wird. Die Betonung liegt auf »angeblich«.

      Er versucht für mich und den Verein, den er leitet, ein guter Medizinmann zu sein, aber ich habe den Glauben an die wohlmeinenden Götter und Dämonen hinter seinem Pulverdampf und seinen Beschwörungsriten längst verloren.

      Trotzdem ist und bleibt er eine beeindruckende Erscheinung, eine mächtige, knapp zwei Meter hohe Gestalt mit kreisrunder, randloser starker Brille und völlig kahlem Kopf, an dem selbst die Spur eines Härchens oder Flaumes fehlt – nicht einmal Augenbrauen besitzt er, und seine Augenlider sind wimpernlos.

      Sein Gesicht ist auf eine ungewöhnliche Weise leer, unbestimmt, als gehe die teigige Haut der Wangen konturlos in das Kinn über. Und doch vergisst man es nicht, wenn man es einmal gesehen hat. Er spricht bedächtig, beinahe gesetzt:

      »In allen Staaten – vor und hinter dem Eisernen Vorhang – gibt es Institutionen wie die unsrige, die ein Schattendasein führen, von deren Existenz niemand auch nur ahnen darf. Nicht einmal dem Geheimdienst ist die wirkliche Rolle seines Ablegers bekannt.

      Ihre Aufgabe ist es, Aufträge von höchstem Staatsinteresse in einer Weise zu lösen, die sich mit rechtsstaatlichen Mitteln nicht erreichen ließen. Glauben Sie denn, Bolijar wäre durch ein ordentliches Gericht verurteilt worden?«

      Er erwähnte Bolijar, einen meiner Fälle aus dem ersten Jahr, als ein besonders krasses Beispiel!

      »Nein, mit Sicherheit nicht! Und ich schwöre Ihnen in die Hand«, sagte er und legte seine große weiche, ebenso gestaltlose Hand auf die meine, »der Schaden durch ihn wäre so immens gewesen, dass jene Richter, die ihn freisprechen mussten, bei genauerer Kenntnis der Lage die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätten.«

      »Schieben Sie ihn ab«, sagte ich, » – zurück über die Grenze.«

      Aber er schüttelte nur unwillig seinen glänzenden Schädel. »Sie wissen so gut wie ich, dass es nur ein Hinauszögern wäre. Wenig später kommen sie mit neuen Leuten und ausgeklügelteren Tricks zurück – nur ihre Ziele bleiben die alten. Herrgott noch mal, Sie waren doch selbst Staatsanwalt und wissen, wie wenig Handhabe wir gegen diese Burschen hätten – in der gewöhnlichen Rechtsfindung zählen Gefühle und Intuitionen nicht.«

      Ein Warnschuss knallte herüber … und ich schreckte aus meinen Gedanken auf.

      Ich sah das Mündungsfeuer in der Schwärze unter dem Scheinwerfer des Wachturms.

      Es war ein trockener, kaum nachhallender Knall, wie von einem frisch geölten Karabiner mit gerade gereinigtem Lauf.

      Der Alte auf der Mauer kümmerte sich nicht darum. Nur einmal blickte er – argwöhnisch – in den Westsektor zurück, als ein schweres Motorrad hinter uns durch die Parallelstraße fuhr.

      Ich musterte die graue Straße mit ihren hohen alten Häusern – in einigen Fenstern war Licht, und Leute lehnten heraus und sahen zu uns hinunter –, dann überquerte ich mit schnellen Schritten die Fahrbahn, zog mich ein Stück an der Ladefläche des Transporters hoch und versuchte einen Zipfel seines Hosenbeins zu fassen. Ich musste mich recken, um von der Stoßstange aus den Mauerkranz zu erreichen. Er entzog mir sein Bein.

      »Um Gottes willen, lassen Sie doch den Unsinn … erkennen Sie mich denn nicht mehr?«

      Er warf mir einen unsagbar traurigen Blick zu … melancholischer als Smith‘s Herbst-Oden …

      Noch vor wenigen Tagen hatten wir zahllose Gespräche miteinander geführt. An seiner Schuld gab es keinen Zweifel, und er wusste es.

      Als habe er meine Gedanken gelesen, hob er nun auch das andere Bein auf die östliche Seite der Mauer. Dann sah er zögernd an der hohen Wand hinunter.

      Aus der Richtung des Fahrwegs jenseits des Todesstreifens war das Aufheulen schwerer Motoren zu hören – von Militärfahrzeugen, die dort Stellung bezogen.

      Eine Stimme brüllte etwas über Megaphon herüber, das im Lärm unterging.

      Ich war nicht einmal sicher, ob sie sich völlig klar darüber waren, in welche Richtung er klettern wollte – in den Osten oder Westen? – und ob er das eine Bein vielleicht nur wieder herübergenommen hatte, weil er zögerte …

      Noch mehr Bogenlampen flammten auf und erleuchteten taghell den Himmel über uns. Von fern heulte eine Sirene auf und verstummte wieder.

      Der Bulgare wandte langsam den Kopf nach mir … an seinem Blick erkannte ich, dass er zum Sprung entschlossen war.


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