Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945. Winfried Wolf
wochenlang dauernd räuspern oder fortwährend ein Taschentuch in der Hand halten. Gegenwärtig hat sie, wie der Arzt feststellte, einen Blinzel-Tick...“ (10/75/1156).
Es folgt in der Regel eine Betroffenheitsoffenbarung des Ratsuchenden: „Sie können sich vorstellen, dass uns dieses Verhalten... unangenehm ist.“ (s. o.). Die Eltern, meist die Mutter, schildern dann ihre bisherigen erfolglosen Bemühungen das unerwünschte Verhalten ihres Kindes abzustellen. Der Brief endet häufig mit der Feststellung, dass man nun keinen Rat mehr wisse.
Die Antwort des Ratgebers beginnt fast ausnahmslos mit einer zusammenfassenden Darstellung des Problems, wobei nicht versäumt wird, Verständnis und Anteilnahme an die Adresse des Briefschreibers zu signalisieren. Die ‚guten Absichten’ des Ratsuchenden werden positiv verstärkt, die bisherigen Bemühungen um Abhilfe entsprechend gewürdigt: „Sie haben, wie Sie mir mitteilen, bisher immer darauf geachtet und verlangt, dass Ihre Tochter sich den Regeln menschlichen Zusammenlebens anpasst. Sie wollen eine sehr gut erzogene Tochter haben, die sie ja auch geworden ist. Sie wird überall für ihr gutes Benehmen gelobt, eine Eigenschaft, die heute bei vielen nicht mehr hoch im Kurs steht...“ (s. o.).
Einstieg und Ton sind in fast allen Antworten der Berater gleich. Mitarbeiter der Zeitschrift „Eltern“ bezeichnen das „Einstellen auf die Wellenlänge“ des Schreibers als den ersten und wesentlichen Teil der Arbeit eines Zeitschriftenberaters.76 Es komme darauf an, den Ratsuchenden nicht nur rational, sondern vor allem auch emotional zu erreichen.
Nach der ersten, vorwiegend emotionalen ‚Einstellung’ des Beraters auf die Leserfrage und die Person des Lesers, folgt eine sachlich-psychologische Erklärung des kindlichen Verhaltens: „Jeder Mensch verfolgt bekanntlich eigene Ziel, hat eigene Vorstellungen und auch Wünsche. So stehen Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit vielfach im Vordergrund. Bei der Erziehung werden jedoch die eigenen Triebe meist unterdrückt, was sich besonders in den ersten Lebensjahren ungünstig auf die weitere Entwicklung auswirken kann...“ (10/75/1156).
Der Berater vermeidet es jedoch die Ursachen des angesprochenen Fehlverhaltens auf bestimmte Umstände einzuschränken77, vielmehr wird oft eine ganze Palette möglicher Gründe angeführt: „Diese Umstände sind aber keineswegs die Ursache für die Nervosität vieler Heranwachsender. Vielmehr spielt hier die Veranlagung eine wesentliche Rolle... So vererben sich zum Beispiel der ‚Appetit’ auf Fingernägel, hastiges und nervöses Sprechen, unruhige Handhaltung und vieles mehr.“ (10/75/1156).
Aber auch besondere Sozialbeziehungen können als mögliche Ursache herangezogen werden: „Da auch Ihre Tochter allein aufwächst, sei hier nochmals erwähnt, dass wir Eltern dem einzigen Kind häufig mehr Aufmerksamkeit schenken, als dies bei einer größeren Familie der Fall ist. Wir geben gute Ratschläge, überwachen im Interesse des Kindes, ob sie richtig ausgeführt werden, regen (zu viel) an, greifen (zu oft) ein, was uns natürlich nicht immer bewusst ist. Obwohl wir es mit einer solchen Erziehung ernst und gut meinen, entsteht ein psychischer Druck, der sich schließlich in den von Ihnen genannten Symptomen äußern kann.“ (s. o., S. 1157).
Auffallend ist, wie sich der Ratgeber bemüht seine Antwort nicht zum Vorwurf an die Eltern geraten zu lassen. Das verbindende „Wir“ entlastet, mildert ab und bringt zum Ausdruck, dass wir alle, auch wenn wir es gut meinen, nicht vor Erziehungsfehlern gefeit sind.
In der Haltungsanalyse der elterlichen Aussagen werden also positive Formulierungen und Verständnis für Fehler besonders wichtig genommen, um die Eltern und potentielle Ratsuchende nicht zu verprellen. Der Briefschreiber soll ja nicht verärgert, sondern nachdenklich gemacht werden. „Formulierungen in der Möglichkeitsform und der Frageform sind dazu oft am besten geeignet.“78
Gegen Ende einer Antwort wird der Ratgeber nicht umhin können den fragenden Eltern eine Empfehlung zu geben. Ihr gilt in dieser Untersuchung ja vor allem unser Interesse. Im oben angeführten Fall aus dem „Ratgeber“ fällt die Antwort so aus: „Sie sollten also den Mut finden, mehr auf die Vorschläge und Initiativen des Kindes einzugehen, auch wenn am Anfang vielleicht manches danebengehen wird. Da Ihre Tochter ja keine schlechte Schülerin ist, sollten Sie ihr mehr freie Hand lassen, weniger Kontrolle ausüben, nicht dauernd fragen und bohren. Damit geben Sie ihr die Möglichkeit, Vertrauen zu sich selbst zu finden, sicherer zu werden, die eigene Persönlichkeit zu entfalten. Dies dürfte im Endeffekt zu einer sichtbaren inneren und äußeren Ruhe führen. Im übrigen wäre es gut, künftig das, was Sie an Ihrer Tochter auszusetzen haben, für sich zu behalten.“ (s. o., S. 1157).
Die Eltern brauchen also an ihrem erwünschten Verhaltensziel, ‚innere und äußere Ruhe der Tochter’, keine Abstriche zu machen; geändert werden sollten jedoch Einstellung und Verhalten. Für Eltern und Tochter lassen sich im angeführten Fall im einzelnen folgende Normen des Verhaltens abstrahieren:
für die Eltern:
Akzeptanz und Empathie (Kinder annehmen wie sie sind, auf Vorschläge und Initiativen der Kinder eingehen)
Zurücknahme von Überwachungs- und Kontrollfunktionen (den Kindern freie Hand lassen, weniger Kontrolle ausüben)
Zurückhaltung in erziehlicher Hinsicht (nicht dauernd fragen und bohren, für sich behalten, was man auszusetzen hat)
für die Tochter:
Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung (Vorschläge machen, Initiativen ergreifen, den Wert der eigenen Person erfahren)
Freiheit durch Leistung (sich Freiheiten durch gute Schulleistungen verdienen)
Mitunter kommt es vor, dass der besprochene Problemfall für so schwerwiegend angesehen wird, dass eine ‚Lösung’ allein durch die Zeitschriftenberatung nicht möglich ist. Problematische Briefschreiber und solche, bei denen die Probleme der Kinder vermutlich neurotisch sind, werden dann an Erziehungsberatungsstellen verwiesen.
Begründung für die gewählte Art der deskriptiven Darstellung
Die Darstellung dessen, was in der familiären Sozialisation und Erziehung gelten soll, stützt sich vornehmlich auf die Familienzeitschrift „Ratgeber – Frau und Familie“ als Quelle. Zur Veranschaulichung einzelner Beiträge, die aus dem genannten Quellenmaterial selbst nicht hinreichend verständlich werden, können Texte aus anderen Publikationen ähnlicher Art herangezogen werden.
Die Gliederung der Darstellung orientiert sich zeitlich gesehen nach Jahrzehnten, inhaltlich gesehen lehnt sie sich im Wesentlichen an das vorgefundene Material im „Ratgeber“ an, d. h. es wird nicht versucht bei stofflich unterrepräsentierten Themenbereichen „künstlich aufzufüllen, um den Eindruck von „Ausgewogenheit“ zu vermitteln. Problematisch ist allerdings eine Gliederung nach Jahrzehnten, weil damit wie bei jeder Phaseneinteilung, das Entwicklungsgeschehen weit einheitlicher erscheint, als es tatsächlich ist. Die Übergänge von Jahrzehnt zu Jahrzehnt täuschen Einschnitte vor, die bei umfassenderer Betrachtung verschwinden würden. Um aber Veränderungen in den Verhaltensstandards hinreichend deutlich machen zu können, bedarf es großer Zeitspannen; eine „feinere“ Einteilung nach Jahren oder jahresgruppen stellt also keine Alternative dar. Ich werde in Berücksichtigung der genannten Schwierigkeiten daher im Kommentar und in der vergleichenden Interpretation des Materials an geeigneter Stelle auf Sprünge und beschleunigte Veränderungsprozesse aufmerksam machen.
Die einzelnen Kapitel zur Darstellung der Verhaltensstandards im Bereich familiärer Sozialisation und Erziehung folgen einem im Wesentlichen einheitlichen Schema: Darstellung der allgemeinen Familiensituation im jeweiligen Zeitabschnitt; Darstellung der geltenden Standards in einzelnen Verhaltensbereichen; Kommentar und Skizzierung der makrosoziologischen Rahmenbedingungen; eine vergleichende Interpretation des Quellenmaterials; die Herausarbeitung gerichteter Veränderungsprozesse bildet den Abschluss des deskriptiven Teils.
Aus heuristischen Gründen wurde für die Darstellung der geltenden Standards in einzelnen Verhaltensbereichen eine Matrix erstellt, die sich auch in der Gliederung der jeweiligen Unterkapitel wiederfinden wird. Die aufgeführten Verhaltensbereiche in der waagerechten Leiste stellen den Versuch thematischer