Veränderungen von Verhaltensstandards im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation seit 1945. Winfried Wolf
oder minder willkürlich ist die Anordnung nach Altersstufen in der senkrechten Leiste der Matrix. Keinesfalls soll hier einer Lebensaltersgebundenheit von Entwicklungsständen das Wort geredet werden. Auch hier geschieht die Einteilung aus heuristischen Gründen und soll nur dazu beitragen die Darstellung selbst zu ordnen. Wichtig erscheint mir lediglich, dass hiermit Kinder und Jugendliche erfasst werden, die im Familienverband der Stammfamilie leben und den dort geltenden Regeln und Normen des Zusammenlebens unterworfen sind. Das gegebene Beispiel einer solchen Matrix stellt in den einzelnen Feldern thematische Möglichkeiten dar und gibt kein historisches Zeitbild wieder.
Matrix zur Erfassung erziehungsrelevanter Verhaltensstandards
Die deutsche Familie im Ratgeber der 50er Jahre
Elternbild und Anforderungen an ihr Verhalten gegenüber den Kindern im Ratgeber der 50er Jahre
„Wirkliche Autorität“, schreibt der Ratgeber 1959, „wird durch Vorbild und das Setzen von Werten... erreicht. ...in diesem Aufstellen von Leitbildern... liegt unsere (der Eltern, d. V.) Autorität innerhalb der Familie.“ (6/59/547). Nimmt man den Kindern diese Autorität, „dann werden sie es einmal schwer haben, sich im Leben anzupassen.“ (9/62/937)
Mit dem Stichwort Autorität in der Familie gerät bis heute wie selbstverständlich die Rolle des Vaters als Oberhaupt der Familie ins Blickfeld, doch wird, wie der Ratgeber zu berichten weiß, „viel gesprochen über das Ende des Patriarchats“ und den Verlust der väterlichen Autorität. Fast beruhigend aber wird im gleichen Beitrag etwas weiter unten festgestellt: „Er (der Vater, d. V.) hat aber noch immer eine gewisse Vormachtstellung im Verhältnis zur Frau (und man könnte fortfahren: zu den Kindern, d. V.) und diese liegt, wenn auch nicht immer, in seiner geistigen Überlegenheit und der Geschultheit seiner Urteilskraft.“ (6/59/547)
Leitbildfunktion und Autorität der Eltern als Notwendigkeit unbestritten, bedarf jedoch beständiger Arbeit an sich selbst und überdies „setzt sich wirkliche Autorität nicht mit Grobheit oder Forderung nach Kadavergehorsam durch, sondern mit Leistungen, Würde, Konsequenz und gutem Beispiel“ und, so fährt der Ratgeber in Heft 9 vom Jahre 1954 fort, „in jedem Fall erfordert die Kunst, sich Autorität zu verschaffen, viel Selbsterziehung und Selbstbeherrschung.“ (9/54/394) Als Gewährsmann kann Theodor Fontane herangezogen werden, wenn es darum geht die Vorbildfunktion der Eltern zu begründen: „Wie die Eltern sind, wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken – das entscheidet.“ Ist einmal die „pädagogische Karre“ steckengeblieben, dann gibt es nur ein Mittel, sie wieder in Gang zu bringen: „in sich zu gehen und von nun an die eigenen Gewohnheiten ganz kritisch unter die Lupe zu nehmen.“ (4/55/254)
Die Kindererziehung verlangt von den Eltern ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Sie ist ebenso nötig wie die Liebe und die Konsequenz. „Die Ehe ist“, schreibt der Ratgeber, „ein unausgesetztes Arbeiten an sich selbst. Das gilt nicht nur für die Beziehung der Eheleute untereinander, sondern ebenso und vielleicht noch mehr von ihrem Zusammenleben mit den Kindern.“ Es bleibt den Eltern also nichts weiter übrig, als beständig auch sich „selbst zu erziehen“. (vgl. 4/55/254ff)
Selbstbeherrschung wird allenthalben als Tugend der Eltern im Verhalten untereinander und gegenüber den Kindern hoch geschätzt. Kinder und Jugendliche fordern durch trotziges Verhalten, Ungehorsam, schlechte Zeugnisse etc. stets die Eltern zu Reaktionen heraus. Hier gilt es dann „unter allen Umständen Gelassenheit und Besonnenheit“ zu bewahren. „Aufregung ist“, meint der Ratgeber, „fast immer überflüssig und sinnlos, und es ist nur eine Frage von Einteilung und Selbstbeherrschung, ob man in sie gerät oder nicht... Der Aufgeregte sagt Dinge, die er nicht verantworten kann und oft gar nicht sagen will.“ (2/58/86)
Für die Kinder ein nachahmenswertes Vorbild zu sein, Leitbilder setzen und Selbstdisziplin im eigenen Verhalten zu bewahren – das alles sind Anforderungen an die Eltern, deren Erfüllung die Gewähr für ein „glückliches Familienleben“ bietet. Das Leitbild der „glücklichen Familie“ steht jedoch in Gefahr unter die Räder der „neuen Zeit“ zu geraten. Anfechtungen aller Art stürmen auf die Familie ein und drohen die Gemeinschaft von Eltern und Kindern zu zerbrechen. „Feste, abgegrenzte Grundsätze“ (vgl. 6/59/546) erleichtern nicht mehr wie noch vor dem Krieg die Erziehung; „Genusssucht“ und „materialistisches Gewinnstreben“ unterminieren den emotionalen Unterbau der Familien; die „neuen“ Medien Film, Funk, Comic und Groschenheft, in ihrer Gefährdung für Kinder oftmals als „Schmutz und Schund“ zusammengefasst, hintertreiben die Erziehungsbemühungen der Eltern. Das Verhalten vieler Eltern und Erzieher tut ein Übriges und wird in seiner Auswirkung auf die Kinder kritisch unter die Lupe genommen. „In Europa“, schreibt der Ratgeber in Heft 1 vom Jahre 1957, „ist man auf dem besten Wege, den Lebensstandard auf Kosten der Familie hochzutreiben... rastlos wird die Woche ‚durchgeschuftet’, und selbst der Sonntag existiert nur noch dem Namen nach... An den um die familiäre Nestwärme gebrachten Kindern erweist sich, dass sich die Familie nun einmal nicht ersetzen lässt... Die Familie, das sind Vater und Mutter. Fehlt der eine Teil (etwa die Mutter durch Berufstätigkeit, d. V.), so fehlt der seelischen Entwicklung das bergende Gegenufer... Lernen, Maß zu halten und einzusehen, dass die Erstgeburt der Familie durch das Linsengericht des ‚Fortschritts’ niemals ersetzt werden kann.“ (1/57/2ff)
Gegen das „gemeinsame ‚keine-Zeit-mehr-Haben’, das gemeinsame ‚Nervös- und Gereiztsein’ (3/58/220) setzt der Ratgeber die „Nestwärme“ vermittelnde Familie. Welches Bild dem Ratgeber von einer intakten Familie vorschwebt, können wir seinen Empfehlungen zur Pflege des Familienlebens entnehmen: „Unsere Kinder brauchen eine ‚Wohnstubenerziehung’ mit all dem, was dieses Wort an Heimeligkeit, Gemütlichkeit, Zusammenrücken, Wärme und Geborgenheit in sich birgt... Gespräche am Familientisch sind etwas sehr Schönes und vor allem ein wunderbares Erziehungsmittel. Wie viel interessante Dinge weiß der Vater... Die Kinder erzählen aus der Schule, von ihren Kameraden, was sie auf der Straße gesehen haben: auch die Kleinsten dürfen etwas sagen... Mit den Größeren bespricht man Tagesthemen, das Weltgeschehen... und bildet so unmerklich ihre Urteilskraft, ihre Weltanschauung, die eigene Meinung... So lernt die Jugend gute Manieren, höflich sein, Rücksicht nehmen, zuhören, eingehen auf andere, sich mitteilen... An langen Winterabenden... Das hält zusammen, formt eine Gemeinschaft.“ (11/55/686ff)
Exkurs zum Männerbild der 50er Jahre
Das Frauenbild der Männer: Idealbild der Frau ist für den deutschen Mann der fünfziger Jahre „die Ehefrau und Mutter“, die für ihre Familie lebt und den Inhalt ihres Lebens in ihr seiht. Was er nicht mag sind Frauen, die sich extravagant kleiden, unbedingt originell sein wollen, allzu ungezwungen auftreten, es mit der Ordentlichkeit zu genau nehmen (immer den Putzlappen in der Hand und das Kopftuch umgebunden, d. V.). Unsympathisch sind ihm Frauen, die sich ungeschickt verhalten, keinen Spaß verstehen, sich zur Salonschlange aufspielen und sich immer krampfhaft bemühen eine andere zu sein, als sie wirklich sind (vgl. 4/58/252)
„Richtige Männer schätzen nun einmal das Hausmütterchen, das kochen und wirtschaften kann, mehr als die zwar eleganter erscheinende, aber auch meist anspruchsvollere und selbständigere (berufstätige, d. V.) Frau.“ (11/56/693)
Sie, die berufstätige Ehefrau, ist daher oft die Sorge des Mannes und – wie der Ratgeber findet – „Anlass für seine schlechte Laune“. Er muss dann nämlich befürchten, „dass berufliche Interessen seine Frau mehr erfüllen könnten, als die Gedanken an das eigene Heim.“ (8/55/486) Das in jedem Manne schlummernde „Bedürfnis zu beschützen... fühlt sich gekränkt, wenn er merkt, dass dieses ‚schutzbedürftige’ Wesen seinen Schutz gar nicht braucht.“ (8/55/487)
Eine Frau darf „niemals vergessen, dass ihr Mann das Recht hat, nicht nur mit einer tüchtigen Berufsfrau, sondern vor allem auch mit einem sehr anziehenden weiblichen Wesen verheiratet zu sein.“ (6/59/547)
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