Raju und Barbara. Wilhelm Thöring
da es heraus ist, und sie es weiß, fängt Raju an zu schwitzen. Diese Aufgabe muss er übernehmen, er, der jüngere Sohn. – Wie kann er den Vater dazu bringen, von diesem Vorhaben, wie er es sich denkt, abzulassen? Raju wirkt ziemlich hilflos, und leise, beinahe verzagt sagt er:
„Ja, ich muss wohl mit ihm sprechen. Es wird nicht leicht sein, so eigensinnig wie er ist ...“
Wann Raju mit seinem Vater gesprochen hat, weiß Barbara nicht. Sie bemerkt aber, dass der alte Mann noch stiller geworden ist und mit mürrischem, hartem Gesicht herumläuft; und auch das bemerkt sie, dass Vater und Sohn darauf bedacht sind, nicht für längere Zeit allein in einem Raum sein zu müssen. Während der Mahlzeiten unterhält Raju sich nur mit ihr, der Vater schweigt. Ob die Mutter etwas weiß? Die hockt gleichmütig und abwesend dazwischen und ist ebenfalls still. Aber das ist sie ja meistens.
Ja, er hätte noch am selben Tag mit dem Vater gesprochen, sagt Raju später, als Barbara ihn danach fragt. Der habe ruhig zugehört und am Ende gemeint, wenn er in diesem Haus wohne, dann sei es wohl auch sein Haus, in dem er die Freiheit hätte zu tun, was er für richtig erachte.
„Das hat er gesagt, Raju?“
Raju wiegte den Kopf. „Ja, so sieht es der Vater. – Ich habe ihm begreiflich gemacht, dass dieses Haus nicht von mir, sondern von dir gebaut und bezahlt worden ist. Über viele, viele Jahre hätten wir deinen Verdienst dafür gespart.“
„Das hast du ihm auch gesagt?“
„Er muss es wissen, bevor er sich noch andere Verrücktheiten einfallen lässt. Ich hätte ihn früher auf diese Sachlage hinweisen sollen ...“
„Ist er böse geworden?“
„Nicht mit Worten, aber er hat mich angesehen, als wollte er mich mit seinen Blicken vernichten. Er hält mich für einen Waschlappen.“
„Hat er das gesagt?“
„Er hat es mir indirekt durch Rahul sagen lassen, und der hat mir durch die eine oder andere kränkende Bemerkung dasselbe zu verstehen gegeben.“
Es ist Juni geworden und es wird nicht lange mehr dauern, bis der Monsun beginnt. Für Doktor Sharma spielt das Wetter keine Rolle: irgendwo in einem Winkel leiden Menschen und warten darauf, dass ihnen geholfen wird.
Wenn es ihm in den Sinn kam, dann stand er in den letzten Tagen oft vor dem Tor und sprach Leute an, vor allem die herumreisenden Händler; warum er das tat, behielt er für sich.
„Jetzt ist es Zeit, dass ich mich um die Kranken kümmere“, sagt er in die aufgeschlagene Zeitung; er sitzt mit seiner Frau auf der Terrasse und liest, oder er tut nur so und beobachtet, was um ihn herum geschieht. „Mehr als einen Tisch und zwei oder drei Stühle brauche ich nicht. Die kann einer von den Leuten nach draußen vor das Tor tragen. Meine Sprechstunden halte ich nur an zwei Nachmittagen, das genügt.“
Die Mutter hat, während der Vater das sagt, ihre Zeitung zusammengefaltet und ist ins Haus gegangen.
„Als Arzt, der großes Ansehen genoss, willst du dich herabwürdigen und draußen vorm Haus im Straßenstaub wie ein Quacksalber sitzen“, empört sich Raju. „Heruntergekommen wie Schuhflicker, wie Frisöre und primitive Zahnzieher, die an jeder Ecke der Stadt herumlungern?“
„Wenn ihr mir nicht einen besseren Platz gebt, dann behandle ich eben auf der Straße! Dürfen die Leute nicht sehen, dass für meine Arbeit in diesem Haus kein Platz ist?“
„Vater, ich habe versucht, dir klarzumachen, warum wir die Leute nicht im Hof, schon gar nicht am Haus haben wollen. Als du noch praktiziert hast, Vater, da hast du auch niemanden in die Wohnung gelassen. Der Mutter hast du gesagt: Unterstehe dich, jemanden einzulassen, es ist mancher Spitzbube darunter. – Außerdem setzt bald der Monsun ein, da kannst du lange auf deine Patienten warten.“
Barbara, die Pflanzen in Schalen umtopfte, bekam mit, wie Raju dem Vater in Bengali, erregt und heftig geworden, widersprach; jetzt erzählt er ihr von dem Wortwechsel, und Barbara hört zu, als spräche er davon, etwas im Garten zu ändern oder einen Busch umzupflanzen. Ganz bei der Arbeit, die ihre volle Aufmerksamkeit verlangt, lässt sie keine Regung erkennen; ohne eine Bemerkung einzuwerfen, pflanzt Barbara einen kleinen Trieb nach dem anderen in die Schalen und Töpfe und begutachtet sie sehr genau. Aber sie drückt die kleinen Pflänzchen fester in die Erde als nötig. Nach einem langen Schweigen meint sie:
„Raju, der Monsun wird es nicht zulassen, dass er stundenlang vor dem Tor sitzt, und hinterher hat er die ganze Sache vergessen. Er hat uns schon öfter mit den verrücktesten Einfällen überrascht, die er nicht in die Tat umgesetzt hat, weil sie ihm aus dem Gedächtnis gefallen sind. Lassen wir ihn. Du hast ihm gesagt, wie wir darüber denken. Jetzt hat er Zeit, sich alles noch mal durch den Kopf gehen zu lassen.“
„Ja, ich hoffe, dass er noch mal darüber nachdenkt. – Eigensinnig ist er schon immer gewesen, auch in jungen Jahren, erzählt meine Mutter. Er sorgte dafür, dass sie alle möglichen Annehmlichkeiten hatte – aber dafür erwartete er von ihr völlige Selbstaufgabe. Es durfte nur das getan werden, wozu er Ja und Amen gesagt hat.“
Raju zögerte, unschlüssig und wartend lehnte er gegen den Stamm der Kokospalme, er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben.
„Er ist heftig geworden, geradezu böse“, fängt Raju an. „Es ärgere ihn, sagte er, dass er in einem Haus leben müsste, das nicht sein Sohn gebaut hat, sondern du, die ausländische Frau. Aber es wäre trotzdem das Haus seines Sohnes, denn ich wäre dein Mann. Und weil er mein Vater ist, wäre das Haus auch sein Haus. Daran ließe sich nichts drehen und biegen. Er ließe sich nicht vorschreiben, was er tun dürfe oder zu lassen hätte. Ich hätte alle alten und bewährten Ordnungen vergessen, wäre im Ausland verdorben worden und ließe allen Respekt ihm, dem Vater gegenüber, fehlen. Mit unserem Haus würden wir etwas vortäuschen, was keiner von uns in seinem Herzen besäße: Wärme und Demut! Es täusche nur Glanz und Würde vor! Er werde die Kranken behandeln, daran könne ihn niemand hindern. Er werde sie auch in den Hof holen ... Er schimpfte geradezu und warf die Tür zu und ließ mich stehen.“
Barbara wischte die Hände an der Schürze ab. „Ach, wie schrecklich! Wird er das wirklich tun, Raju?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht wird er es versuchen ...“
„Ich habe mein Leben hinter mir, Raju ... Ich bin hergekommen, um es in Ruhe und Frieden beschließen zu können, mit dir, Raju, mit dir! Dass es das eine oder andere Problem geben wird, wenn wir die Eltern zu uns holen, das war vorauszusehen. Aber so etwas ...“
Sie wandte sich plötzlich ihm zu, als hätte sie einen wilden Entschluss gefasst:
„Ich möchte ihn nicht daran erinnern müssen“, stieß sie hervor, „wie wir zu diesem Haus gekommen sind.“
„Ich habe ihn noch einmal daran erinnert, dass das Haus von dir gebaut worden ist, Bärbel, und dass du dein Haus in Deutschland verkauft hast. Dieses Haus gehört dir! – Wie soll der alte starre Mann das begreifen. Er denkt indisch, nicht europäisch ...“
Doktor Sharma hat nicht mehr von seinen Absichten gesprochen. Hatte er sie jetzt schon vergessen? – Als endlich der Monsun kam, saß er lange Zeit auf der Terrasse und betrachtete den sich verändernden Himmel, genoss die Schauer und freute sich, dass sie von allem den Staub wuschen.
Nein, das, was er sich vorgenommen hatte, das war dem alten Doktor Sharma nicht aus dem Gedächtnis gefallen. Gegen Ende eines angenehmen Tages musste Ashim ein kleines Tischchen und zwei Stühle auf die Straße tragen. Da saß Doktor Sharma, seinen Arztkoffer neben sich auf dem zweiten Stuhl und sah zu, wie Ashim eine Papptafel gleich neben das Eisentor an die Mauer nagelte, auf die Doktor Sharma in englischer Sprache mit großen fetten Buchstaben geschrieben hatte:
Doktor Sharma, Arzt für alle Krankheiten,
Behandlung hier
Die Leute, die vorübergingen, blieben stehen und rätselten, was das zu bedeuten hat, denn das Schild konnten sie nicht lesen.