Raju und Barbara. Wilhelm Thöring
sie wohl öfter kommen. Bärbel, ich kann sie nicht daran hindern. Und das Tor absperren, das geht auch nicht ...“
Barbara ist still geworden. Ja, das haben sie sich bis in die letzte Konsequenz nicht recht überlegt. Er, Raju, hat ausdrücklich nicht in diesen Flecken Indiens ziehen wollen, weil hier seine Eltern und viele alte Freunde leben. Die Freunde haben ihn bis jetzt in Ruhe gelassen, aber wie lange noch? Früher oder später werden die Studienkameraden, werden auch Freunde kommen, um dem Herrn dieses Hauses und seiner Frau ihre Aufwartung zu machen und sich darin umzusehen und die fremde Frau kennen zu lernen. Und danach, das weiß Raju, werden sie wiederkommen, immer öfter, sie werden lästig werden, denn so sind die Menschen hier. Er hätte Bärbel eindringlicher auf diese Schwierigkeiten hinweisen sollen, als sie darauf bestand, nach Kolkata zu ziehen.
Weil sie immer noch schweigt, tastet seine Hand nach ihr. Sie hat sich in ihre Decke fest eingerollt, als wollte sie sich einmauern und ihn aussperren. Behutsam streichelt er ihren eingepackten Körper, der mit einem Male leicht zu zittern anfängt. Raju deutet dieses Zittern falsch – er will zupacken, aber die Frau an seiner Seite weint still in ihr Kissen.
„Ich will mich bemühen, alles so zu halten, Bärbel, wie wir es in Deutschland gehalten haben.“ Und nachdem er nachgedacht hat, fügt er hinzu: „Es wird nicht leicht sein, und es wird mir auch nicht gleich gelingen – aber ich will mir Mühe geben und es immer wieder versuchen. Du musst mir vertrauen und ein wenig Geduld aufbringen. Es wird seine Zeit brauchen, aber alles wird gut werden. Wenn es besonders schwierig wird, dann sollten wir es einmal mit Brombeere versuchen: Der Hund mag Savita nicht. Wenn der wie zufällig in die Wohnung gestürmt kommt, sie ankläfft, vielleicht anspringt, dass sie Angst bekommt – dann werden sie so schnell wie es ihnen möglich ist verschwinden wollen und hier nicht wieder aufkreuzen ...“
Die Frau in ihrer Verpuppung bebt plötzlich noch stärker; sie bebt, weil sie sich bei der Vorstellung, wie der Hund über die Schwägerin herfällt, vor Lachen ausschütten kann.
6
Nach diesem Besuch wird Rahul lange nichts mehr von sich hören lassen, so dass Raju ihn wieder auf Reisen vermutet, irgendwo im weiten Indien oder in einem anderen Land.
Der alte Doktor Sharma ist eines Tages ausgegangen, und als er wiederkam, verkündete er, dass er die eitrige Wunde einer Frau behandelt hätte, und weil es weit und breit keinen Arzt gebe, werde er sich hier einen Patientenkreis aufbauen. Die Wunde, die sich quer über das Gesäß der Frau hinzieht, müsste öfter behandelt werden; dazu könne die Frau nicht bis in die Stadt laufen. Hier wäre ein Arzt unerlässlich; auch wenn er alt sei – solche Arbeit könne er durchaus noch tun, sagte er zum Sohn, denn sein ganzes Leben lang hätte er ja nichts anderes gemacht, als die unterschiedlichsten Krankheiten geheilt. In diesem Bereich, wo sie wohnen, da wäre er in die richtige Ecke gekommen. Und ein wenig Geld, das könne er auch gebrauchen.
„Willst du regelmäßig zu den Menschen gehen?“
„Zu ihnen gehen? Der Arzt geht nicht zu den Kranken – die kommen zu ihm!“
„Aber wo willst du sie behandeln, Vater?“
„Hier im Hof.“
Raju verschlägt es die Sprache. Fassungslos hebt er abwehrend die Hände, will etwas entgegnen; und als der alte Mann das bemerkt, blickt er ihn entrüstet und strafend an und lässt ihn stehen, schnippt mit den Fingern gegen die Kübelpflanzen an der Terrasse, und lässt sich wie zum Trotz krachend in einen Sessel fallen.
Hoffentlich kann der Vater den Plan noch eine Weile für sich behalten und posaunt ihn nicht gleich ins Haus hinein, dass Barbara es hört. Unruhig geworden, wandert Raju durch den Garten, ängstlich von Ashim beobachtet, weil der befürchtet, etwas falsch gemacht zu haben. Raju grübelt, wie er den Vater von diesem Einfall mit den Patienten abbringen kann; es darf nicht sein, dass Barbara es durch ihn erfährt, er muss dem Vater zuvorkommen.
Mit einem Buch in der Hand tritt Barbara aus der Tür. Doch weil der Vater, der sich auf der Terrasse niedergelassen hat, es nicht leiden kann, dass eine Frau sich länger mit Büchern beschäftigt, überlegt sie es sich anders und wandert lesend durch die Blumenbeete, bis sie bei Raju ist.
„Wenn der Vater auf der Terrasse sitzt, dann lässt er mich nicht lesen. Sonst spricht er kaum mit mir – dann aber hat er mir allerlei zu erzählen.“
Wenn Raju mit ihr allein ist, sprechen sie Deutsch; ist der Vater bei ihnen, dann wird Englisch gesprochen. Barbara achtet darauf, dass beim Vater nicht der Verdacht aufkommt, er würde ausgeschlossen oder als hätten sie etwas über ihn oder die Mutter zu besprechen. Raju legt seinen Arm um sie und führt sie wie ein Verliebter durch den Garten, so dass der Vater auf der Terrasse darüber die Stirn runzelt, denn ein indischer Mann zeigt für seine Frau keine Gefühle in Gegenwart anderer, es schickt sich nicht; noch weniger schickt es sich, wenn eine Frau ihre Gefühle zeigt; und diese Frau, die der Sohn geheiratet hat, kennt darin überhaupt keine Hemmungen.
„Ja, es ist für dich nicht leicht mit den beiden“, beginnt er. „Ich glaube, sie hätten auch in jungen Jahren nichts zugelassen, was vom Gewohnten abgewichen wäre. Ich frage mich manchmal, wie es für ihn während seiner Studienjahre in London gewesen ist. Er erzählte oft, dass er nicht nur Umgang mit Indern hatte; er ist sogar in englische Familien eingeladen worden und hat sehen können, dass sie anders leben. Und das scheint ihn sogar beeindruckt zu haben, so habe ich ihn damals verstanden. Vielleicht wäre er im Westen auch ein Westler geworden, wie ich einer geworden bin. Aber hier – da ist er ganz schnell wieder zu einem Inder geworden, durch und durch Inder ...“
„Und du?“
Raju lacht auf. „Ja, ich bin Inder, aber in der umgekrempelten Jacke fühle ich mich wohl, sehr wohl, Bärbel.“
Aneinandergelehnt betrachten sie ihr Haus. Wie es zwischen den Palmen und Büschen, den Bäumen und vielen Blumen leuchtet! Barbara versteht, dass die wenigen Freunde Rajus, die bis jetzt hergekommen sind, ihren Besitz nicht nur bewundern, sondern sie auch deswegen beneiden. Und mit Rahul und seiner bequemen, seiner faulen Savita ist es wohl ebenso. Irgendwo in einem südlichen Bezirk Kolkatas haben beide vor nicht langer Zeit eine bescheidene, mehr eine kümmerliche Wohnung bezogen, wie der Vater Raju erzählt hat. Aber so etwas wäre nicht von Bedeutung, sagte er, dafür reisten sie viel und würden sich bilden.
„Es ist doch ein Paradies, in dem wir wohnen, findest du nicht auch, Bärbel?“
Sie sieht ihn von der Seite an und schweigt dazu. Ja, von außen betrachtet, ein Paradies, möchte sie ihm antworten – im Innern aber geht es zu, wie in jedem anderen Haus, da gibt es Fremdheit zwischen den Menschen und Missverständnisse, auch Machtgedanken und offene Reibereien ...
„Ja, der Vater“, beginnt Raju. „Was der nur manchmal für Einfälle hat!“
„Was hat er denn für Einfälle?“
„Er möchte, weil es hier keinen Arzt gibt, wieder Kranke behandeln.“
„Das ist kein schlechter Einfall, Raju. Er ist geistig auf der Höhe, ist rüstig ... Wenn er sich unten bei den Händlern eine kleine, einfache Praxis einrichtet, nur einen Raum, der würde genügen ...“
„Barbara, er will es hier machen!“
„In unserem Haus?“
„Im Hof.“
Sie macht sich aus seiner Umarmung frei, lässt den Kopf sinken. Gegen den Boden spricht sie schließlich: „Hat er dich gefragt?“
„Nein.“
„Und wie denkst du darüber?“
„Ich denke, Barbara, wir müssen es verhindern. So etwas bringt nicht nur Unruhe ins Haus, es bringt auch Ärger. Du weißt, wie einfache Leute sein können: Die öffnen jede Tür, kriechen vor Neugier in jeden Winkel, müssen alles befummeln und stecken auch schon einmal etwas ein!“
Bärbel lässt noch immer den Kopf hängen. Der Vater auf der Terrasse hat sich aufgerichtet, um besser sehen zu können, was die beiden hinter den Büschen machen.