Raju und Barbara. Wilhelm Thöring
sagt sie mit abgewandtem Gesicht. „Raju, bitte, glaube mir: Dieser Jasbir ist kein guter Umgang für dich. Der Jasbir ist ein schlechter Kerl. Mag er früher ein anderer Mensch gewesen sein – jetzt ist er das nicht mehr, das spüre ich!“
Wieder streckt Raju die Hände nach ihr aus, will sie zu sich herabziehen und sie besänftigen, doch Barbara läuft aus dem Zimmer.
Spät in der Nacht trägt sie ihr Kopfkissen und eine Decke herunter, um sich auf der Couch ihr Bett zu machen. Es ist das erste Mal in den vielen Jahren, die sie an Rajus Seite lebt, dass sie nicht neben ihm, sondern allein schläft.
Am nächsten Morgen wirkt Raju zerknirscht, ja, er gibt sich Mühe, sie aufzuheitern und milde zu stimmen, obwohl sie ihm nicht mehr böse ist; denn was gestern war, das hat dieser Brief verdrängt. Nur er spukt in ihrem Kopf herum, der Brief, den die Schwiegermutter immer wieder betrachten musste und von dem für Barbara, sofort als sie ihn sah, etwas Ungutes ausging. Als Raju sich an den Frühstückstisch setzt, liegt dieser Brief auf seinem Teller.
„Woher kommt das“, fragt er.
„Wie soll ich das lesen können? Er ist gestern abgegeben worden.“
Raju liest die Adresse, er sucht nach einem Absender, befühlt ihn, dann legt er ihn beiseite, als interessiere er ihn nicht. Doch bis nach dem Frühstück kann er nicht warten; mit dem Stiel des Kaffeelöffels öffnet er ihn und liest. Heimlich beobachtet Barbara ihn; er verrät nichts, es ist, als lese er irgendeine belanglose Zeitungsmeldung. Sorgfältig legt er den Brief in den Umschlag zurück und steckt ihn in die Hosentasche. Sie fragt nicht, und er lässt sie warten.
Als sie mit Ashim später die beiden Hunde bürstet, kommt Raju dazu. Eine Weile schaut er zu, dann sagt er:
„Der Brief, das ist ein Lebenszeichen von Rahul. Er braucht Hilfe ...“
Barbara lässt den Hund laufen, sie setzt sich auf den Rand eines Blumentrogs.
„Hilfe? Welche Hilfe braucht er denn? Ist er krank geworden? Hat er einen Unfall? Ist es schlimm?“
„Ja, sehr schlimm. Rahul ist krank ...“
Raju stellt sich so, dass er nicht von der Sonne geblendet wird, dann erzählt er, was in dem Brief steht: Rahul sei von einer tödlichen Krankheit befallen, Krebs, und liege in Delhi in einem Krankenhaus. Er brauche dringend Hilfe und Pflege, und es gebe niemanden außer ihm, dem jüngeren Bruder und den Eltern, die sich seiner annehmen können. Rahuls Geld sei aufgebraucht, ja, das hätten sie auch geschrieben, er müsse das Krankenhaus verlassen und habe gebeten, dass man an ihn, den jüngeren und gut gestellten Bruder schreibe.
„Wie soll er von Delhi herkommen“, fragt Barbara.
„Mit dem Flugzeug. Wenn er darin nicht liegen kann, dann wird er mit der Bahn reisen müssen. Vielleicht schreiben sie uns auch das noch.“
„Raju, und wenn er hier ist – wo soll er bleiben?“
Raju sieht nach unten und murmelt:
„Erst einmal hier, in unserem Haus ... Er denkt, der Vater lebt noch.“
Barbara fährt sich über die Stirn, als könnte sie nicht begreifen, worum es hier geht. Und, als wäre ihr eine Lösung in den Sinn gekommen, fragt sie:
„Und seine Frau?“
„Ich weiß nichts über sie. Über Savita steht nichts in dem Brief.“
Barbara ist aufgestanden, sich die Haare raufend läuft sie ein paar Schritte auf und ab.
„O Gott, wie soll das gehen, der Mann braucht Pflege ...“ seufzt sie. „Intensive Pflege.“
„Bärbel, es wird nur vorübergehend sein. Wenn er hier ist, müssen wir uns nach einer anderen Lösung für ihn umsehen. Ganz bestimmt wird sich eine finden lassen. Wo soll er fürs erste unterkommen, wenn nicht bei uns?“
Barbara sitzt vor ihrem Essen, sie wird es nicht herunterbringen; ihr Herz hat angefangen zu jagen und in ihrem Hals wächst ein Kloß, der ihr die Luft abdrückt. Später wird sie ihren Teller nach draußen zu Himbeere tragen.
Die Schwiegermutter ist zuerst über die Nachricht erschreckt, die sie von Raju hört, dann jedoch freut sie sich, beide Söhne, auch ihren Ältesten, bei sich zu haben. In Vaters Zimmer stehe noch immer sein Charpoy, schwatzt sie, da könnte Rahul schlafen, und sie wäre ihm gleich bei der Hand, wenn er Hilfe brauche. So schlimm könne seine Krankheit nicht sein, wenn er noch von Delhi herreisen kann! Die besten Ärzte werde Raju für ihn kommen lassen, die werden Rahul wieder gesund machen ...
Raju lässt sie schwatzen, denn Barbara versteht ja kein Wort von dem, was sie ihm erzählt.
„Hat dein Bruder Geld für den Flug oder die Bahn“, fragt sie ihn.
„Ich glaube nicht. Sie schreiben doch, er wäre mittellos. Ich werde mit dem Krankenhaus telefonieren.“
Barbara schweigt. Dann wird Raju ihm helfen müssen. Ihr graut vor der Zeit, die der Bruder bei ihnen sein wird, der Bruder, der sie ganz unverhohlen ablehnt. Für alle in diesem Haus werden schwierige Zeiten anbrechen.
3
Überall auf den Märkten sind Berge von Farben aufgetürmt, rote, gelbe, blaue, grüne – denn Holi, das Frühlingsfest der Hindus, wird erwartet. Barbara mag es nicht, seitdem sie und Raju vor Jahren während einer Indienfahrt in eine Horde Jugendlicher geraten waren, die sie mit Farben bewarfen, unter die irgendwelche Giftstoffe gemischt waren, so dass sie am ganzen Körper Pusteln und juckenden Ausschlag bekamen und einen Arzt aufsuchen mussten. Der ertrug es nicht, von Barbara während der Untersuchung angeschaut zu werden. Die Schwester, die ihm assistierte, wurde angewiesen, ihren Kopf wegzudrehen, ihr Gesicht sogar mit einem Tuch zu bedecken. Seitdem graut ihr vor den Ärzten und vor Holi. Sie mag nicht die ausgelassenen Menschen, nicht ihr Treiben, ja, sie fürchtet sich; und darum warnt sie alle im Haus, während des Feiertags nicht aus dem Haus zu gehen. Sie bitte Raju, darauf zu achten, dass Ashim das Tor verschlossen hält. Ihren Leuten lässt sie durch Raju sagen, sie sollen nur ganz kleine Farbmengen mitbringen, mit denen sie einander Arme und Stirn bestreichen, nicht mehr! Denn von Raju weiß sie, dass die Menschen sich vor lauter Übermut Flaschen, sogar Eimer mit Farben über den Körper gießen, und dass sie in letzter Zeit dazu nicht nur Naturfarben, sondern auch Industrieprodukte nehmen, die nicht mehr abzuwaschen sind. Er selbst habe sich dabei immer zurückgehalten, erzählt er, und sei dem wüsten Treiben aus dem Weg gegangen. Ja, auch er wünsche es nicht, mit Farbe begossen oder mit Farbbeuteln beworfen zu werden.
„Ihr habt es gehört: Das Tor bleibt zu!“
Die Leute stehen aufgereiht vor der Terrasse. Raju sieht einen nach dem anderen drohend an, und die Leute wackeln mit dem Kopf: Ja, sie haben verstanden: Keiner wird das Tor öffnen! Obwohl niemand versteht, warum Spaß und Freude an Holi draußen vor dem Tor bleiben sollen.
Mit der alten Mutter sitzen sie auf der Terrasse, um sie herum, hinter der Mauer, quieken und kreischen die Leute, die an dem gegenseitigen Einfärben ihre Freude haben. Beide Hunde jagen aufgebracht bellend von einem Ende des Gartens zum anderen und sind durch nichts zu beruhigen.
Barbara liest, oder sie tut so, denn das Johlen hinter der Mauer lenkt sie ab und lässt Erlebtes wieder lebendig werden. Raju zeichnet, es sieht aus, als sollte es eine Brücke werden. Barbara freut sich, dass er sich damit beschäftigt und sie möchte ihn fragen, was ihm vorschwebt und ob es eine Brücke über einen Fluss oder ein Tal werden soll. Manchmal hebt er den Kopf und lauscht, dann vertieft er sich wieder in die Arbeit.
Die Mutter legt, wie meistens, Patiencen. Damit verbringt sie viele Stunden am Tag, jetzt, da sie allein ist und nicht mehr den Vater zu bedienen hat. Manchmal sucht sie das Gespräch mit dem Sohn, doch dem steht nicht immer der Sinn danach, er hört sie schweigend an, dann geht er. Und mit den Leuten mag sie auch nicht reden, die sind zurückhaltend und antworten nur, sie erzählen nichts, denn sie ist die Memsahib. Sie würde gerne einmal durch das Tor spähen, aber das gäbe Ärger. Sie hat den Sohn am Morgen gefragt, warum er Holi aussperre; alle Welt freue sich auf diesen Tag, sie