Raju und Barbara. Wilhelm Thöring
blickt von seiner Arbeit auf, als hätte er ihre Gedanken erraten. Eine Weile sieht er sie mit abwesendem Blick an, schiebt die Unterlippe vor, dann vertieft er sich wieder in die Skizze.
Die Hitze hat nachgelassen und das Treiben hinter der Mauer zugenommen, als mit einem harten Gegenstand ans Eisentor geschlagen wird. Raju will es überhören und nicht nachsehen, aber beide Hund gebärden sich wie wild, sie springen am Tor hoch, sie geifern und überschlagen sich und sind wie von einem Tobsuchtsanfall gepackt und wissen sich nicht zu lassen.
Der Gärtner kommt mit einer Latte bewaffnet an die Terrasse gelaufen, Raju nickt ihm zu:
„Geh, sieh nach!“
Das Tor wird von außen aufgestoßen, als er den Riegel zurückgeschoben hat und Jasbir und Arun drängen, mit unterschiedlichen Plastikflaschen beladen, in den Hof, vom Kopf bis zu den Sandalen sind sie mit dunklem Farbwasser übergossen, so dass sie zuerst nicht zu erkennen sind. Beide sind stark angetrunken. Sie wären gekommen, um mit dem alten Freund und seiner blonden Frau Holi zu feiern, grölen sie und begießen sich gegenseitig noch einmal mit Farbe. Ashim hat die Hunde am Halsband weggeführt, Barbara ist aufgesprungen und ins Haus gelaufen, und die Tür hat sie hinter sich verschlossen. Hinter der Scheibe sieht sie, wie Raju versucht, sie loszuwerden, wie er auf sie einredet und, unterstützt von Ashim, sie auf die Straße zu drängen. Jasbir hat zwei Flaschen entkorkt, deren Inhalt er über den verärgerten und schimpfenden Raju ausgießt. Die alte Mutter, die einschreiten und den Sohn und seine Freunde beruhigen will, bekommt auch ihr Teil ab, aber sie lacht nur darüber und wringt ihren Sari aus. Jetzt möchte sich Jasbir Barbara vornehmen. Er versucht, ins Haus einzudringen, obwohl Raju sich an ihn klammert, um ihn daran zu hindern.
„Bärbel, komm heraus“, ruft Raju. „Lass es hier draußen über dich ergehen. Komm heraus!“
In alten Kleidern, die sie schnell angezogen hat, kommt sie auf die Terrasse, wo die beiden unter großem Hallo alles, was sie mitgebracht haben, über ihr ausgießen.
„Die Dreckskerle hätten es auch in der Wohnung getan“, meint Raju. „Sie sagen, die Farben wären sauber, keine Chemie ... Ich habe ihnen angedroht, dass sie für die Arztkosten aufkommen müssten, wenn einer von uns krank würde.“
Ninu, die Haushilfe, muss den beiden einen Whisky einschütten, dann drängen Raju und Ashim sie, zu gehen. Raju hakt sich bei beiden unter und führt sie auf die Straße.
Die Schwiegermutter lacht wieder, sie ist vergnügt wie ein Kind, verreibt das farbige Wasser auf ihrem Körper und klatscht in die Hände und brabbelt ununterbrochen vor sich hin.
Als Raju hinter ihnen das Tor verriegelt, tritt er dagegen und ruft ihnen nach: „Sala! Toba! (Mistkerl! Tu es nie wieder!)“.
Er tritt noch einmal, als hätte er einen von beiden vor sich.
Barbara wischt mit ihrer Kleidung die Farbe vom Gesicht und aus den Haaren.
„Wenn die das im Haus gemacht hätten! Glaube mir, mir wären die Nerven durchgegangen, Raju! Weiß der Kuckuck, was ich denen angetan hätte ... Wer hat denn diesen Einfall gehabt?“
„Wer? Natürlich der Jasbir. Arun sagte mir, zuerst hätte er nicht mitkommen und Jasbir davon abhalten wollen, dann, nach etlichen Whisky, wäre er mitgegangen.“
Sie selbst ist wohl ebenso unkenntlich geworden wie Raju, glaubt Barbara, denn er ist über und über blau, grünlich und lila; seine Kleidung wird sie wegwerfen müssen, und ihre auch. Beinahe flüsternd sagt sie zu ihm:
„Und mit solchen Leuten triffst du dich! Und du trinkst mit ihnen ...“
Dann macht sie kehrt, und noch während sie geht, reißt sie sich die nassen und verfärbten Kleider vom Leibe.
Die alte Mutter sieht ihr verständnislos nach, und kichert, nicht nur aus Schadenfreude, sondern auch darüber, dass sie dennoch zu ihrer Holifreude gekommen ist.
4
Seit diesem Überfall am Holifest fährt Raju nicht mehr so häufig in die Stadt. Vielleicht ist er auch mehr mit den Gedanken bei seinem Bruder Rahul, den sie jeden Tag erwarten. Sie fragen sich, ob Savita, seine Frau, ihn begleiten und bei ihm bleiben wird. Hier könnte es ihr gefallen, sie hätte alle Annehmlichkeiten und ließe sich von der Schwägerin und ihrem Personal bedienen, wie sie es von den Hotels kennt, in denen sie viele Male gewohnt hat.
Jeder Tag, der vergeht, lässt die Anspannung wachsen. Sie horchen auf, wenn ein Auto durch die Straße fährt, wenn jemand etwas ruft oder irgendeine laute Stimme zu hören ist.
Sogar die alte Mutter hat sich anstecken lassen, aber bei ihr ist es nicht Furcht vor diesem Besuch, sondern Freude.
Unbemerkt hat sie mit Ninus Hilfe Kleidung für ihren kranken Ältesten nähen lassen und alles unter ihrem Bett versteckt und der Ninu eingeschärft, keinen Karton beim Putzen hervorzuholen, denn es dürfe niemand etwas davon erfahren, schon gar nicht die Memsabib.
Einmal, nachdem Barbara prüfend durch alle Zimmer gegangen ist, versteckte sie die Kartons in ihrem Schrank. Sie möchte gerne mit Raju über seinen älteren Bruder sprechen, aber der reagiert mürrisch, ja, manchmal hört er sie nicht einmal an, vergisst alle Höflichkeit und lässt sie leise schimpfend sitzen.
Dann setzt sie sich der Fotografie ihres Mannes gegenüber und schüttet vor ihm alles aus, was sie bedrückt und bekümmert. Es kommt auch vor, dass sie das Bild die Nacht über neben ihrem Bett stehen hat. Wenn sie nicht schlafen kann, dann zündet sie sogar ein Licht an und spricht solange mit ihm, bis sie darüber müde wird und am Ende einschläft.
Plötzlich ist Rahul da; niemand hat seine Taxe gehört, kein Rufen, nichts. Zaghaft klopft er zuerst mit dem Finger ans Tor, aber das hört nicht einmal der Hund, bis er einen Stein nimmt. Augenblicklich kläfft Himbeere los und springt am Tor hoch.
Die alte Frau geht entschlossen hinter Raju her, sie scheint zu wissen: da klopft ihr erstgeborener Sohn ans Tor, der, auf den sie seit langem wartet. Nach Raju begrüßt sie ihn, und wie es die Sitte verlangt, versucht Rahul ihre Füße mit der Hand zu berühren, dabei taumelt er und droht hinzuschlagen, so dass Raju ihn halten und aufrichten muss. Erst als das Tor geschlossen ist, streichelt und befingert sie ihn und will ihn nicht mehr loslassen.
Raju, der die Taxe bezahlte, weil Rahul nicht einmal mehr dafür Geld hat, ist über den Anblick des Bruders erschreckt. Rahul ist abgemagert und aschgrau im Gesicht, er ist einem Tier ähnlich geworden, einem halbverhungerten, vernachlässigten Tier. Die Augen liegen tief in seinem haarlosen Schädel, und während er langsam auf das Haus zugeht, sieht er sich verwundert um, als wäre er das erste Mal in diesem Hof. Immer noch hängt die Mutter an seinem Arm und behindert ihn beim Gehen, und mit dem Gehen hat Rahul Mühe: Er tappt wie ein Greis, unsicher und stolpernd und ist darauf bedacht, schnell irgendwo Halt zu finden.
Vor der Terrasse muss er einen Augenblick warten, bevor er die wenigen Stufen zum Haus hinaufsteigt. Durch ihren Griff schiebt die Mutter die Haut seines Armes zusammen, als hielte sie einen schlaffen Luftballon. Sie sieht das nicht, ihre Augen hängen an seinem eingefallenen Gesicht, aus dem Kinn und Wangenknochen hervorspringen und das jetzt schon dem eines Toten gleicht. Rahul holt mehrmals tief Luft, dann müht er sich die Stufen hinauf. Er lässt sich auf den nächsten Stuhl fallen.
Raju steht vor ihm und blickt auf seinen herabgekommenen, halbtoten Bruder hinab.
„Bist du den weiten Weg allein, ohne Begleitung gekommen?“, fragt er.
„Ja“, sagt Rahul, „ganz allein, von Delhi bis hierher.“
Und vorsichtig, mit verzerrtem Gesicht, streckt er sich etwas in die Höhe. Im Sessel dürfe er nicht mehr sitzen, erklärt er, da würden die Schmerzen in seinem Innern bis ins Unerträglich steigen, und ohne Hilfe käme er da nicht heraus. Alle umstehen ihn, als erwarteten sie etwas Besonderes von ihm. Rahul lächelt dünn zu ihnen auf, und weil keiner spricht, sagt er, die letzten Monate hätten er und Savita wieder in Nepal verbracht, das Klima wäre ihm gut bekommen.
„Da wäre ich gerne bis zu meinem