Raju und Barbara. Wilhelm Thöring

Raju und Barbara - Wilhelm Thöring


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sieht sie zu Raju auf, und in ihrem Blick glaubt der so etwas wie Vorwurf zu erkennen.

      Barbara hat für den Schwager Tee kochen lassen, den er nicht trinken mag. Sie setzt sich mit der Tasse auf die Couch und hört zu, was gefragt und geantwortet wird. Aber das ist wenig, Rahul scheint von der Reise müde zu sein, oder gewisse Fragen einfach zu überhören und nicht antworten zu wollen.

      Seufzend ist die Mutter nach oben gegangen, und als sie wiederkommt, bringt sie das Foto ihres Mannes. Ob er wisse, dass der Vater tot sei, fragt sie ihn. Überall hätten sie nach ihm und Savita forschen lassen – vergeblich. Umsonst! Seine Pflicht wäre es gewesen, alles Notwendige für die Verbrennung des Vaters zu regeln, denn er wäre das älteste ihrer Kinder.

      Rahul zeigte keine Regung, ja, er sieht das Bild nicht einmal an, das die Mutter vor ihn auf den Tisch gestellt hat. Wahrscheinlich sei er nur müde und entkräftet, meint sie schließlich, weil Rahul wie eine Figur dasitzt und ins Leere starrt.

      „Wird deine Frau auch noch kommen“, fragt sie ihn.

      Rahul sieht sie verständnislos an und schweigt weiter.

      „Sie ist doch deine Frau und muss da sein, wo du bist! Sie hat sich um dich zu kümmern, mein Sohn.“

      Ohne Rücksicht auf den Bruder sagt Raju: „Mutter, das hat sie wohl nie getan. Egal, um welche Arbeit es sich gehandelt hat – sie hat es immer verstanden, ihr aus dem Weg zu gehen. Und das hier ...“, Raju nickt zu seinem Bruder herunter, „eine solche Last hat sie nicht tragen wollen. Das ist ihr zu schwer und zu mühselig, vielleicht auch zu verantwortungsvoll.“

      Seufzend, wie verzweifelt wirft die alte Frau ihre Arme in die Luft, sie versteht gar nichts mehr.

      Raju bringt seinen Bruder nach oben, wo die Mutter eilfertig hierhin und dorthin läuft, ohne etwas zustande zu bringen, ohne zu wissen, was sie eigentlich will.

      Rahul wird aufs Bett gelegt, das von der Mutter seit langem schon für ihn vorbereitet worden ist. Er streckt sich aus und seufzt und schließt erlöst die Augen. Wenn er niemanden sieht, ist ihm wie im Krankenhaus, da fühlte er sich trotz des Betriebs um ihn herum allein, manchmal sogar weit weg, weil er nichts sah und auf nichts zu reagieren hatte.

      Den ganzen Tag bleibt die Muter in seiner Nähe, sie geht nicht einmal zum Essen nach unten, Barbara muss ihre und Rahuls Mahlzeiten nach oben tragen.

      „Rahuls Ehe ist von den Eltern vermittelt worden“, sagt Raju zu ihr. „Und was ist daraus geworden? Beständig ist sie auch nicht! – Ich glaube fest daran, dass Savita sich abgesetzt hat. Ihr Mann ist nicht nur krank, er ist auch arm – warum soll sie mit ihm dieses Leben teilen?“

      „Was meinst du: Ist sie zu ihren Eltern zurückgegangen?“

      „Ich weiß es nicht. Früher oder später werden wir es erfahren. Vielleicht lebt sie wieder bei ihren Eltern, vielleicht lebt sie in einem Ashram.“

      Raju krault nachdenklich den Riesenschnauzer, der sich auf seine Füße gelegt hat. Er spricht mehr zum Hund, als er sagt:

      „Rahul haben wir vorerst aufgenommen, für seine Frau ist in unserem Haus kein Platz mehr, das verspreche ich dir. Du brauchst nichts zu befürchten ...“

      Barbara atmet tief auf, sie möchte ihm glauben.

      5

      Heute will sich Barbara von Kali in die Stadt zu jenem Haus fahren lassen, in dem sich europäische Frauen indischer Männer bei der Pastorin Sonnenberg treffen.

      Wartend steht Kali im Schatten der Kokospalmen, und als Barbara die Terrasse herunter kommt, öffnet er der Memsabib den Wagen, wie er es bei hochgestellten Persönlichkeiten beobachtet hat, ernst und mit einer leichten Verbeugung.

      Ashim läuft zum Tor und drückt es sperrangelweit auf, neben sich Himbeere, die sich nicht festhalten lassen will.

      Außerhalb des Zentrums fährt Kali so, wie auch Raju den Wagen fährt – ruhig und gleichmäßig und besonnen. Er schweigt und auch Barbara schweigt, sie können sich nicht unterhalten. Sobald er sich dem Gewühl des Zentrums mit den breiten Straßen und unzähligen Ampeln nähert, verspannt er sich. Leicht über das Lenkrad gebeugt, knurrt er leise vor sich hin und hupt, wenn er warten muss. Kommt ein anderer Wagen ihm zu nahe, dann streckt er seinen Arm aus dem Fenster, um ihn auf Abstand zu halten. Ihn ärgern die Ochsenkarren und Rikschas, aber wenn vor ihm eine Kuh über die Straße trottet, dann ist das normal und Kali bringt für sie erstaunlich viel Langmut auf.

      Barbaras Ziel liegt abseits in einer ruhigen Seitenstraße; es ist ein altes, ein großes und sehr dunkles Haus, in dem sich in der ersten Etage die Frauen um die Pastorin versammeln.

      Vollendet wie bei ihrem Einstieg, lässt Kali sie wieder aus dem Wagen steigen, dann fährt er nach Hause. Gegen Abend, so hat Raju es mit ihm besprochen, wird er die Memsabib wieder abholen.

      Ein Mädchen, fast ein Kind, öffnet Barbara und begrüßt sie nach Landessitte mit aneinander gelegten Händen. Es öffnet eine seitliche Tür, und Barbara befindet sich in einem großen Raum, an dessen Wänden ringsum Stühle stehen, die an der Fensterseite von ein paar Damen besetzt sind. Das Gespräch der Frauen verstummt schlagartig, sie betrachten den neuen Gast ungeniert, bis eine Frau mittleren Alters auf sie zukommt und sich als Rita Gopal vorstellt, die Schriftführerin dieses Kränzchens. Barbara wird von ihr in diesem Kreis willkommen geheißen, von ihr herumgeführt und mit den anwesenden Damen bekannt gemacht.

      Lachend und verschwitzt platzt die Pastorin in den Raum. Von ihr wird Barbara herzlich und etwas zu laut – wie eine Vertraute – begrüßt. Heute würde es zwanglos zugehen, sagt sie, ohne das vorgesehene Programm, denn die Referentin, die Witwe eines indischen Professors für Geschichte, die die Pflege deutscher Kultur bei den Deutschen in Indien darstellen wollte, wäre erkrankt.

      In einem Nebenraum wird von dem Mädchen, das Barbara die Tür geöffnet hat, Tee und Kaffee und Gebäck serviert.

      Die Fenster gehen in einen weitläufigen Garten, sie sind alle geöffnet, doch wegen der Affen vergittert, die manchmal in Scharen heranfluteten und lästig und böse würden, erklärt Rita Gopal.

      Barbara ist erstaunt über die Stille. Vom Lärm dieser schrillen, dröhnenden Stadt ist in diesem Garten nichts zu hören. Später setzt sich eine beleibte ältere Frau zu ihr, Frau Mamtani, die sie zuerst ein wenig aushorcht, ganz so, wie es die Pastorin bei ihrem Besuch getan hat: wo sie herkomme und wohne, wie lange sie in Indien und mit wem sie verheiratet sei ... Es sind die Fragen, die auch die Pastorin damals gestellt hat. Frau Mamtani fragt alles, was eine ältere Frau interessiert und was sie über einen Neuling wissen muss. Dann jedoch nutzt sie die Gelegenheit, um aus ihrem langen Leben mit einem indischen Richter zu erzählen.

      Das, was sie über Barbara in Erfahrung gebracht und das, was sie ihr anvertraut hat, das verbindet, findet Frau Mamtani, und so gehört Barbara Sharma für diesen Nachmittag an ihre Seite, sie lässt sie nicht mehr los, sie hat das Vorrecht gepachtet, sich um den Neuling kümmern zu dürfen.

      Frau Mamtani muss in ihrem langen Leben an der Seite ihres Mannes und in diesem Land viel beobachtet und erfahren haben; sie macht sich über vieles Gedanken, vor allem über die indischen Männer. Bei ihnen wäre eine westliche Frau, wenn sie dazu noch blass und blond ist, meistens gut und sicher aufgehoben, weiß sie. Von solcher Frau ließe sich der Inder gerne bereitwillig leiten, er beachte alles, was sie sagt und für richtig befindet.

      „Wissen Sie, die Inder haben eine uralte Kultur – was ist unsere dagegen, auf die wir so stolz sind? Doch die Zeit mit all ihrem Fortschritt hat uns in ihren Augen in eine bessere und vorteilhaftere Lage gebracht – nicht wenige Inder fühlen sich uns unterlegen, glauben Sie mir das“, sagt Frau Mamtani überzeugt, und sie fährt fort, dass die Andersartigkeit der westlichen Frau dem indischen Mann gegenüber eine beachtliche Stärke sei; das würde sie selbst doch ganz gewiss auch schon erfahren haben, nicht wahr?

      Frau Mamtani analysiert dieses und jenes, und dazwischen gibt sie Ratschläge und weist auf alles Mögliche hin, was eine Neubürgerin dieses Landes wissen sollte und zu beachten hat.


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