Psychodysphagiologie. Jörn Döhnert

Psychodysphagiologie - Jörn Döhnert


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       Vorworte

      In Anlehnung an einen großen Künstler möchte ich eröffnen mit den Worten:

      Noch ‘n Buch!

      Heinz Erhardt (1909-1979) war ein Künstler, dessen Werkzeug die Sprache war. Durch einen Schlaganfall hat er dieses Werkzeug am Ende seines Lebens verloren und damit noch mehrere Jahre gelebt – oder leben müssen? Wie groß muss die psychische Belastung für ihn und seine Familie gewesen sein?

      Und wie groß muss die psychische Belastung für Menschen sein, die gar nicht mehr oder nicht mehr richtig essen können? Essen ist eine Tätigkeit, die wir alle ausführen, meist täglich, häufig sogar mehrmals täglich und manchmal sogar mit Genuss. Ist diese Fähigkeit gestört, gibt es ein reichhaltiges Therapieangebot, das sie so gut und schnell wie möglich wiederherstellen soll.

      Und trotzdem funktioniert nicht immer alles so, wie sich die Beteiligten das vorstellen. Und schon gar nicht so schnell. Wie frustrierend! Wie beängstigend! Wie furchtbar!

      Mit diesen Gefühlen werden alle Beteiligten relativ allein gelassen. Es gibt Therapien für sämtliche Funktionen, es gibt Gespräche, Selbsthilfegruppen und Teamsitzungen – doch die Psyche wird nicht direkt behandelt. Auch im Rahmen einer Schluckstörung treten Probleme auf, die nicht „nur“ durch die herkömmlich angewandten Therapieformen (Ergo-, Physio- und Sprachtherapie/Logopädie) gelöst werden können. Betroffene, Angehörige und das medizinische Personal brauchen im Leben und ihrer Arbeit psychologische Unterstützung, damit sie weitermachen können.

      In der Psychodysphagiologie soll aufgezeigt werden, wie eine solche Hilfe aussehen könnte.

      Hierzu werden therapeutische, primär sprachtherapeutisch/logopädische Themen (Dysphagie, Trachealkanülenmanagement) mit psychotherapeutischen Themen (Psychotraumatologie, psychotherapeutische Methoden) in Verbindung gebracht. Schnittmengen der Themen werden dargestellt, um einen Ansatz zur Optimierung des medizinischen Arbeitens zu erarbeiten. Dies soll aufgrund meiner eigenen beruflichen Herkunft vor allem auf therapeutischer, aber auch auf pflegerischer und ärztlicher Ebene geschehen. So wird ein Konzept zum Umgang mit Dysphagien erstellt, das die bereits existierenden – und größtenteils funktionierenden – Konzepte ergänzen und damit bereichern kann: Die Psychodysphagiologie!

      Deshalb noch ‘n Buch!

      Dieses Buch soll für alle sein. Betroffene, Angehörige, Personen aus medizinischen Berufen – alle sollen das Buch verstehen und es als Bereicherung erkennen können. Aus diesem Grund wurde vor allem auf die Lesbarkeit geachtet, was bedeutet, dass zum einen auf Fußnoten o. Ä. verzichtet, zum anderen geschlechtsunspezifisch die männliche Form gewählt wurde. Alle anderen Geschlechter sind stets auch gemeint – je nach Inhalt wird somit der eine oder die andere an der jeweiligen Stelle bevorzugt behandelt.

      In diesem Sinne: Viel Freude und alles Gute!

      Kapitel 1: Dysphagie

      In diesem Kapitel werden zunächst grundlegende Aspekte der Dysphagie geklärt:

       Was heißt eigentlich „Dysphagie“?

       Was bedeutet „Dysphagie“?

       Woher kommt eine Dysphagie?

       Was ist bei einer Dysphagie zu tun?

       Wie kann eine Dysphagie therapiert werden?

       Wie stehen die Heilungschancen bei einer Dysphagie?

      Diese Fragen sind in unterschiedlichem Maße zu beantworten – sowohl im Umfang als auch vom Inhalt her. Beginnen wir also mit einer Begriffsklärung.

      Das Wort Dysphagie kommt aus dem Griechischen, wo die Vorsilbe „dys-, -“ immer etwas Negatives, Schlechtes bezeichnet, und das Verb „phagein, “ auf Deutsch „schlucken“ heißt. Übersetzt heißt Dysphagie also ungefähr „etwas Schlechtes beim Schlucken“. Da wir uns im medizinischen Kontext bewegen, geht es hierbei sicherlich nicht um die Qualität des Essens. Vielmehr geht es um die Qualität des Schluckens, womit vor allem die Fähigkeit zu schlucken gemeint ist. Ist bei einer Fähigkeit „etwas Schlechtes“ vorhanden, sprechen wir von einer Störung. So können wir als Übersetzung von Dysphagie also von „Störung beim Schlucken“ oder kurz Schluckstörung sprechen – was in der Regel auch gemacht wird.

      Begrifflich geht es um die Teile Schlucken und Störung. Beide Begriffe bedürfen einer genaueren Klärung, damit wir wissen, worüber geredet wird. Dies wird im folgenden Kapitel erledigt.

      1. Das Schlucken

      Jeder Mensch schluckt täglich mehrere Hundert bis Tausend Male. Die wenigsten Menschen müssen darüber nachdenken – es passiert einfach. Grund dafür ist die Tatsache, dass ein Großteil des Schluckens reflektorisch abläuft. Dies bedeutet, dass in unserem Körper ein bestimmter Reflex ausgelöst wird, der eine bestimmte Aktion zur Folge hat. In diesem Fall das Schlucken – wir sprechen vom Schluckreflex. Dieser bezeichnet aber nur einen Teil des komplexen Vorgangs, der in unserem Kontext unter Schlucken verstanden wird – aus diesem Grund wird auch meist nicht „nur“ von Schlucken, sondern vom Schluckakt gesprochen. Dies weist schon darauf hin, dass es sich um einen größeren, komplexeren Vorgang handelt – einen „Akt“, nicht nur eine „Szene“. Der Schluckakt ist in einzelne Szenen bzw. Phasen unterteilt, die wir nun im Einzelnen betrachten.

      Stellen Sie sich zunächst noch ein sehr leckeres Essen vor – und beobachten Sie jetzt, was mit und in ihrem Körper geschieht:

       Wahrscheinlich sammeln Sie Speichel im Mund.

       Vielleicht bewegt sich die Zunge etwas.

       Vielleicht auch der Unterkiefer.

       Sie müssen schlucken …

       Die orale Phase

      In einigen Schriften wird die orale Phase des Schluckaktes weitergehend in zwei Phasen unterteilt: die orale Vorbereitungsphase und die orale Phase. Wir fassen die beiden zusammen, weil sie sich beide im Mund (oral) abspielen.

      Als Sie sich gerade vorstellten, zu essen, haben sich drei der vier von mir aufgezählten Reaktionen im Mundbereich abgespielt: die Speichelsammlung und die Bewegungen von Zunge und Kiefer. Dies sind wichtige Aspekte der oralen Phase des Schluckaktes:

      Wir bekommen Nahrung in den Mund, im Idealfall nehmen wir sie sogar freiwillig auf. In der Regel befindet sich das Nahrungsstück in diesem Moment nicht in einer solchen Form, dass wir es direkt schlucken möchten – weil es zu groß oder zu „unförmig“ ist. Diese beiden Probleme können wir beheben, indem wir die Nahrung durch Kauen zerkleinern und durch die Zugabe von Speichel geschmeidig machen. Beim Kauen bewegt sich der Unterkiefer seitlich ungefähr kreisförmig, sodass die Nahrung zwischen den Zahnreihen zerdrückt und gemahlen wird. Der Speichelfluss wird durch unterschiedliche Faktoren angeregt: durch die reine Vorstellung des Geschmackes, durch den Geruch der Nahrung, durch den tatsächlichen Geschmack und rein mechanisch durch die Bewegung des Unterkiefers. (Auch dies können Sie ausprobieren: Bewegen Sie den Kiefer einfach auf und ab und Sie merken, wie der Speichel in Ihrem Mund immer mehr wird.)

      Während des Kauens bleibt die Nahrung nicht an einem Ort des Mundes, da wir sie durch die seitlichen Bewegungen des Kiefers ständig bewegen. Damit die Nahrung aber weiter zerkleinert werden kann, muss sie zwischen den Zähnen bleiben. Hier helfen die Muskeln des Mundraumes aus: Die Wangen und Lippen sorgen dafür, dass die Nahrung nicht aus dem Mund fällt und auch nicht in den Wangentaschen gesammelt wird, die Zunge sorgt dafür, dass die Nahrung nicht im Innenraum gesammelt wird und zu groß zum Schlucken


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