Die Namenlosen. Уилки Коллинз

Die Namenlosen - Уилки Коллинз


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Nachmittags verstrichen, und Magdalen hatte sich immer noch in ihrem Zimmer eingeschlossen. Keine unruhigen Schritte trappelten auf der Treppe; keine flinke, plappernde Zunge war hier oder dort oder irgendwo zu hören, vom Dachboden bis zur Küche. Das Haus schien kaum noch das gleiche zu sein, nachdem ihm das einzige Element, das stets den Gleichmut der Familie gestört hatte, abhanden gekommen war. Miss Garth war erpicht darauf, mit eigenen Augen den Tatbestand einer Verwandlung zu sehen, an die sie auf Grund früherer Erfahrungen nicht zu glauben geneigt war. Sie ging hinauf zu Magdalens Zimmer, klopfte zweimal an die Tür, bekam keine Antwort, öffnete und blickte hinein.

      Magdalen saß in einem Sessel vor dem hohen Spiegel; die offenen Haare fielen ihr über die Schultern. Sie war ganz in das Studium ihrer Rolle vertieft und hatte sich in ihren bequemen Morgenmantel gehüllt, bis es an der Zeit war, sich zum Abendessen anzukleiden. Hinter ihr saß ihre Kammerzofe; langsam kämmte sie die langen, schweren Locken ihrer Herrin mit der schläfrigen Ergebenheit einer Frau, die schon seit einigen Stunden der gleichen Tätigkeit nachgeht. Die Sonne schien; die grünen Fensterläden waren geschlossen. Das schwache Licht fiel sanft auf die beiden still dasitzenden Gestalten. Auf das kleine Bett, dessen Vorhänge mit Knoten aus rosafarbenem Band hochgebunden waren, und auf das helle Kleid, das darauf für das Abendessen bereit lag. Auf das fröhlich bemalte Waschgeschirr mit seinem Überzug aus rein weißem Email. Auf den Toilettentisch mit seinen glitzernden Utensilien, seinen Kristallflaschen, der silbernen Glocke mit einem Cupido als Griff, dem Flitter an kleinen Annehmlichkeiten, die den Tempel eines Frauenschlafzimmers schmücken. Die üppige Stille der ganzen Szene; der kühle Duft von Blüten und Parfüm in der Luft; die selbstvergessene Haltung der in ihre Lektüre vertieften Magdalen; die monotone Regelmäßigkeit der Bewegungen von Hand und Arm der Zofe, die den Kamm immer wieder sanft durch die Haare ihrer Herrin zog – all das vermittelte den gleichen beruhigenden Eindruck einer schläfrigen, köstlichen Stille. Auf der einen Seite der Tür waren das helle Tageslicht und die Realitäten des Familienlebens. Auf der anderen war ein Traumland von elysischer Heiterkeit, ein Zufluchtsort von unerschütterlicher Ruhe.

      Miss Garth blieb auf der Türschwelle stehen und blickte schweigend in das Zimmer.

      Magdalens seltsame Laune, sich zu allen Zeiten und zu jeder Jahreszeit die Haare kämmen zu lassen, gehörte zu jenen Eigenheiten ihres Charakters, die bei allen im Haus berüchtigt waren. Einer der Lieblingsscherze ihres Vaters war die Bemerkung, sie erinnere ihn bei solchen Gelegenheiten an eine Katze, der man den Rücken streichelt, und er rechne immer damit, dass man das Kämmen nur lange genug fortsetzen müsse, damit sie anfinge zu schnurren. So hergeholt der Vergleich auch erscheinen mochte, er war nicht ganz unzutreffend. Das leidenschaftliche Temperament des Mädchens verstärkte das zutiefst weibliche Vergnügen, den Kamm durch die eigenen Haare gleiten zu fühlen, und machte daraus einen Luxus der Empfindung, der sie so ruhig, selbstsicher, so schläfrig tief in ihrer Freude gefangen hielt, dass es unwiderstehlich an den Genuss einer Hauskatze unter der liebkosenden Hand denken ließ. So innig vertraut Miss Garth auch mit dieser Eigenheit ihrer Schülerin war, sah sie heute doch zum ersten Mal, wie sie sich in Verbindung mit irgendeiner Form der geistigen Anstrengung entfaltete. Da sie deshalb eine gewisse Neugier empfand und wissen wollte, wie lange das gleichzeitige Kämmen und Studieren schon andauerte, wagte sie es, die Frage zuerst der Herrin zu stellen; und dann (nachdem sie von dieser Seite keine Antwort bekommen hatte) der Zofe.

      „Den ganzen Nachmittag immer wieder einmal“, lautete die matte Antwort. „Miss Magdalen sagt, es besänftigt ihre Gefühle und klärt ihren Geist.“

      Da Miss Garth aus Erfahrung wusste, dass jede Einmischung unter diesen Umständen ein hoffnungsloses Unterfangen war, drehte sie sich abrupt um und verließ das Zimmer. Als sie draußen auf dem Treppenabsatz stand, lächelte sie. Der weibliche Geist eilt manchmal – allerdings nicht oft – in die Zukunft voraus. Miss Garth bedauerte prophetisch Magdalens unglückseligen Ehemann.

      Beim Abendessen bot die hübsche Studierende den Blicken der Familie den gleichen geistesabwesenden Anblick. Unter allen gewöhnlichen Umständen hätte Magdalens Appetit all jene schwächlichen Gemütsdusler mit Entsetzen erfüllt, die es vorziehen, jenen überragend wichtigen Einfluss zu ignorieren, den die Ernährung einer Frau auf ihre Schönheit ausübt. Dieses Mal jedoch lehnte sie ein Gericht nach dem anderen mit einer Entschlossenheit ab, die auf das außerordentlichste aller modernen Matyrien schließen ließ: auf das Martyrium des Magens. „Ich habe die Rolle der Lucy erfasst“, erklärte sie mit gesitteter Ernsthaftigkeit. „Die nächste Schwierigkeit besteht darin, Frank dazu zu bringen, dass er die Rolle des Falkland begreift. Da gibt es nichts zu lachen – ihr wärt alle ganz ernst, wenn ihr meine Verantwortung hättet. Nein, Papa, keinen Wein heute, vielen Dank. Ich muss eine klare Intelligenz behalten. Wasser, Thomas – und noch etwas Gelee, denke ich, bevor Sie es wegräumen.“

      Als Frank am Abend zu Besuch kam, ohne die ersten Teile seiner Rolle zu kennen, nahm sie ihn an die Hand, wie eine Schulmeisterin mittleren Alters vielleicht einen kleinen zurückgebliebenen Jungen an die Hand genommen hätte. Seine wenigen Versuche, die nüchtern-praktische Natur der abendlichen Beschäftigung abzuwandeln, indem er in Komplimente verfiel, wischte sie mit der verächtlichen Selbstbeherrschung einer Frau des doppelten Alters beiseite. Sie zwang ihn buchstäblich in seine Rolle. Ihr Vater schlief in seinem Sessel ein. Mrs. Vanstone und Miss Garth verloren das Interesse an dem Geschehen, zogen sich ans andere Ende des Zimmers zurück und sprachen im Flüsterton miteinander. Es wurde später und später; immer noch entzog sich Magdalen ihrer Aufgabe nicht – und mit der gleichen Hartnäckigkeit blieb Norah, die schon den ganzen Abend Wache gehalten hatte, wachsam bis zum Ende. Das Misstrauen verdüsterte und verdüsterte ihr Gesicht, als sie ihre Schwester und Frank ansah; als sie sah, wie dicht die beiden zusammensaßen, sich dem gleichen Interesse widmeten und auf das gleiche Ziel hinarbeiteten. Die Uhr auf dem Kaminsims hatte schon halb zwölf geschlagen, als Lucy die Resolute Falkland dem Hilflosen gestattete, sein Buch für heute zuzuschlagen. „Sie ist wunderbar klug, oder?“, sagte Frank, als er sich an der Haustür von Mr. Vanstone verabschiedete. „Ich werde morgen wiederkommen und mehr von ihren Ansichten hören – wenn Sie keine Einwände haben. Ich werde es nie schaffen; aber erzählen Sie ihr nicht, dass ich das gesagt habe. So schnell sie mir den einen Text beigebracht hat, so schnell verschwindet der andere wieder aus meinem Kopf. Das ist doch entmutigend, oder? Gute Nacht!“

      Der übernächste Tag war der Termin der ersten Hauptprobe. Am Abend zuvor war Mrs. Vanstone in einem traurig niedergeschlagenen Geisteszustand. In einem Vieraugengespräch mit Miss Garth war sie von sich aus wieder auf das Thema des Briefes aus London zu sprechen gekommen und hatte voller Selbstvorwürfe ihre Schwäche erwähnt, weil sie Captain Wragges unverschämte Behauptung, er stehe in einer familiären Bindung zu ihr, zugelassen hatte. Dann war sie wieder auf ihren Gesundheitszustand zu sprechen gekommen und auf die zweifelhaften Aussichten, die sie im kommenden Sommer erwarteten. Dabei hatte sie einen Ton der Verzagtheit an den Tag gelegt, den zu hören sehr erschütternd war. In dem Bemühen, sie aufzumuntern, hatte Miss Garth das Thema so schnell wie möglich gewechselt und auf die bevorstehende Theateraufführung angespielt. Dabei hatte sie Mrs. Vanstone alle diesbezüglichen Befürchtungen genommen, indem sie ihre Absicht kundgetan hatte, Magdalen zu allen Proben zu begleiten und sie nicht aus den Augen zu lassen, bis sie unversehrt ins Haus ihres Vaters zurückgekehrt war. Entsprechend stand Miss Garth – in der metaphorischen Gestalt eines Argus – bereit, als Frank am Morgen der Ereignisse in Combe-Raven vorsprach, und begleitete Lucy und Falkland zu Schauplatz des Geschehens. Die Eisenbahn brachte alle drei mit hervorragender Pünktlichkeit zur Evergreen Lodge, und um ein Uhr mittags begann die Probe.

      Ich hoffe, Miss Vanstone kennt ihre Rolle?“, flüsterte Mrs. Marrable, ängstlich an Miss Garth gewandt, in einer Ecke des Theaters.

      „Wenn Allüren eine Schauspielerin ausmachen, Ma’am, wird Magdalens Leistung uns alle in Erstaunen versetzen.“ Mit dieser Antwort holte Miss Garth ihre Handarbeit heraus und setzte sich auf ihren Wachposten in der Mitte des Zuschauerraumes.

      Der Schauspieldirektor hockte sich mit dem Buch in der Hand auf einen Stuhl ganz vorn vor der Bühne. Er war ein lebhafter kleiner Mann mit liebenswürdigem, fröhlichem Temperament; das Signal zum Beginn gab er mit einem so geduldigen Interesse an dem Ablauf, als hätte er ihm in der Vergangenheit


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