Die Namenlosen. Уилки Коллинз
die Nachricht, der alte Mr. Clare sei allein zum Haus gekommen und warte in der Diele, um zu hören, was der Arzt sagte. Miss Garth war nicht in der Lage, selbst hinunterzugehen; sie schickte eine Nachricht. Er sagte zu dem Diener: „Ich werde in zwei Stunden wiederkommen und noch einmal fragen.“ Dann ging er langsam hinaus.
Er war nicht nur in allen anderen Dingen nicht wie gewöhnliche Männer, sondern auch der plötzliche Tod seines alten Freundes hatte in ihm keine erkennbare Veränderung herbeigeführt. Das Gefühl, das aus dem Erkundigungsgang sprach und ihn zu dem Haus geführt hatte, war das einzige Anzeichen menschlichen Mitgefühls, das dem schroffen, unzugänglichen Mann entschlüpfte.
Als die zwei Stunden verstrichen waren, kam er wieder; dieses Mal empfing ihn Miss Garth.
Sie schüttelten sich schweigend die Hand. Sie wartete; sie sehnte sich danach, ihn von seinem alten Freund sprechen zu hören. Nein: Er erwähnte weder den Unfall, noch spielte er auf den entsetzlichen Todesfall an. Er fragte nur: „Geht es ihr besser oder schlechter?“; mehr sagte er nicht. Verbarg sich der Tribut an seine Trauer um den Ehemann streng unterdrückt hinter dem Ausdruck seiner Sorge um die Ehefrau? Die Natur des Mannes, die das strikte Gegenteil der Welt und ihrer Gebräuche war, mochte eine solche Deutung seines Betragens rechtfertigen. Er wiederholte seine Frage: „Geht es ihr besser oder schlechter?“
Miss Garth antwortete:
„Nicht besser; wenn überhaupt, ist es eine Veränderung zum Schlechteren.“
Sie sprach diese Worte am Fenster des Frühstückszimmers, das sich zum Garten hin öffnete. Nachdem Mr. Clare die Antwort auf seine Erkundigung gehört hatte, hielt er inne, trat nach draußen auf den Weg, drehte sich dann ganz plötzlich um und sprach noch einmal:
„Hat der Doktor sie aufgegeben?“, fragte er.
„Er hat uns nicht verheimlicht, dass sie in Gefahr ist. Wir können nur für sie beten.“
Der alte Mann legte die Hand auf Miss Garth’ Arm, während sie ihm antwortete, und sah ihr eindringlich ins Gesicht.
„Sie glauben an Gebete?“, fragte er.
Mis Garth trat betrübt von ihm zurück.
„Diese Frage hätten Sie mir ersparen können, mein Herr, in so einer Zeit.“
Er nahm keine Notiz von ihrer Antwort; seine Blicke waren immer noch fest auf ihr Gesicht gerichtet.
„Beten Sie!“, sage er. „Beten Sie, wie sie noch nie gebetet haben, dass Mrs. Vanstones Leben erhalten bleibt.“
Er ging. Seine Stimme und sein Betragen deuteten auf eine unaussprechliche Angst vor der Zukunft hin, die seine Worte nicht eingestanden hatten. Miss Garth folgte ihm bis in den Garten und rief nach ihm. Er hörte sie, drehte sich aber nicht um. Vielmehr beschleunigte er seine Schritte, als wolle er ihr aus dem Weg gehen. Sie sah ihn im warmen sommerlichen Mondlicht über den Rasen gehen. Sie sah seine weißen, dürren Hände, sah sie plötzlich vor dem schwarzen Hintergrund des Strauchwerks, wie er sie hob und über seinem Kopf rang. Sie fielen wieder herunter – die Bäume hüllten ihn in Dunkelheit – er war fort.
Miss Garth ging zurück zu der leidenden Frau. Auf ihrer Seele lastete eine Befürchtung mehr.
Es war jetzt nach elf Uhr. Seit sie die Schwestern gesehen und mit ihnen gesprochen hatte, war ein wenig Zeit vergangen. Die Erkundigungen, die sie an eine Dienerin richtete, förderten nur die Information zutage, dass beide in ihren Zimmern seien. Sie schob ihre Rückkehr an das Krankenbett der Mutter hinaus, um tröstende Worte zu den Töchtern zu sprechen, bevor sie sich für die Nacht von ihnen verabschiedete. Norahs Zimmer lag am nächsten. Leise öffnete sie die Tür und sah hinein. Die kniende Gestalt am Bett war für sie ein Zeichen, dass die vaterlose Tochter in ihrer Trübsal Gottes Hilfe gefunden hatte. Als sie das sah, füllten sich ihre Augen mit dankbaren Tränen. Sanft schloss sie die Tür und ging weiter zu Magdalens Zimmer. Dort hielt der Zweifel ihren Fuß an der Schwelle fest; bevor sie hineinging, wartete sie einen Augenblick.
Aus dem Zimmer drang ein Geräusch an ihr Ohr – das eintönige Rascheln eines Frauenkleides, jetzt fern, jetzt nah, unaufhörlich wandernd von einem Ende des Fußbodens zum anderen. Das Geräusch teilte ihr mit, dass Magdalen in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers hin und her ging. Miss Garth klopfte. Das Rascheln hörte auf; die Tür wurde geöffnet, und das traurige junge Gesicht sah sie an, festgefroren in kalter Verzweiflung; die großen, hellen Augen blickten mechanisch in die ihren, so leer und tränenlos wie zuvor.
Der Anblick traf die treue Frau, die das Mädchen von Kindheit an erzogen und geliebt hatte, mitten ins Herz. Sie nahm Magdalen zärtlich in die Arme.
„Ach, mein Liebes“, sagte sie, „immer noch keine Tränen! Könnte ich dich doch sehen, wie ich Norah gesehen habe! Sprich mit mir, Magdalen – versuche, ob du mit mir sprechen kannst.“
Sie versuchte es und sprach:
„Norah“, sagte sie, „hat keine Gewissensbisse. Er hat nicht Norahs Interessen gedient, als er in den Tod ging: Er hat meinen gedient.“
Mit dieser entsetzlichen Antwort drückte sie ihre kalten Lippen auf Miss Garth’ Wange.
„Lassen Sie es mich allein tragen“, sagte sie und schloss sanft die Tür.
Wieder wartete Miss Garth auf der Schwelle, und wieder ging das raschelnde Geräusch des Kleides hin und her – einmal nahe, einmal fern, hin und her mit einer grausamen, mechanischen Regelmäßigkeit, die noch die wärmste Sympathie frösteln ließ und noch die kühnste Hoffnung einschüchterte.
Die Nacht ging vorüber. Wenn am Morgen noch keine Besserung eintrat, darauf hatte man sich geeinigt, sollte am nächsten Tag der Londoner Arzt gerufen werden, den Mrs. Vanstone vor einigen Monaten konsultiert hatte. Es war keine Veränderung zum Besseren zu erkennen, und man schickte nach dem Arzt.
Als der Vormittag voranschritt, kam Frank vom Cottage und holte Erkundigungen ein. Hatte Mr. Clare seinen Sohn mit der Pflicht betraut, die er tags zuvor selbst erfüllt hatte, weil er nicht willens war, nach dem, was er zu Miss Garth gesagt hatte, noch einmal mit ihr zusammenzutreffen? Es mochte so sein. Frank konnte kein Licht in die Frage bringen. Er sah blass und bestürzt aus. Seine ersten Fragen nach Magdalen zeigten, wie sehr seine schwache Natur durch die Katastrophe erschüttert worden war. Er war nicht fähig, seine eigenen Fragen zu formulieren. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, und die Tränen traten ihm aus freien Stücken in die Augen. Zum ersten Mal wurde Miss Garth seinetwegen warm ums Herz. Kummer trägt etwas Edles in sich – er nimmt jedes Mitgefühl an, ganz gleich, woher es kommt. Sie munterte den jungen Mann mit einigen freundlichen Worten auf und nahm zum Abschied seine Hand.
Noch vor dem Mittag kam Frank mit einer zweiten Nachricht zurück. Sein Vater wünschte zu wissen, ob Mr. Pendril nicht an diesem Tag in Combe-Raven erwartet wurde. Wenn man mit der Ankunft des Anwalts rechnete, habe Frank die Anweisung, am Bahnhof bereitzustehen und ihn zum Cottage zu bringen, wo ein Bett zu seiner Verfügung stehen werde. Die Nachricht war für Miss Garth eine Überraschung. Sie zeigte, dass Mr. Clare mit den Absichten vertraut war, deretwegen sein verstorbener Freund nach Mr. Pendril geschickt hatte. War das umsichtige Angebot der Gastfreundschaft von Seiten des alten Mannes ein weiterer indirekter Ausdruck des menschlichen Kummers, den er auf so unnatürliche Weise verheimlichte? Oder war er sich einer geheimen Notwendigkeit für Mr. Pendrils Gegenwart bewusst, über die man die hinterbliebene Familie in vollkommener Unkenntnis gelassen hatte? Miss Garth war zu betrübt und hoffnungslos, als dass sie sich bei einer dieser Fragen hätte aufhalten können. Sie sagte zu Frank, Mr. Pendril werde um drei Uhr erwartet, und schickte ihn mit dankenden Worten wieder weg.
Kurz nachdem er gegangen war, wurden die Ängste um Magdalen, die ihr Geist jetzt zu empfinden in der Lage war, durch eine Nachricht gelindert, die besser war als ihr Erlebnis in der letzten Nacht sie zu hoffen geneigt gemacht hatte. Norahs Einfluss hatte ihre Schwester aufgerichtet, und Norahs geduldiges Mitgefühl hatte den eingeschlossenen Kummer befreit. Magdalen hatte in der Anstrengung, die sie erleichtert hatte, schwer gelitten – zwangsläufig gelitten angesichts einer Natur wie der ihren. Die heilenden Tränen waren nicht sanft gekommen; sie waren mit quälender, leidenschaftlicher