Die Namenlosen. Уилки Коллинз
Leere des Schweigens. Mr. Pendril schob die Anweisungen wieder in seine Tasche, dachte ein wenig nach, wandte sich dann an Norah und Miss Garth und lenkte ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die Gegenwart als auch auf die drängenden Notwendigkeiten der nächsten Zeit.
„Unsere Beratung hat sich durch schmerzliche Erwähnungen der Vergangenheit unnötig in die Länge gezogen“, sagte er. „Wir hätten uns besser damit beschäftigt, unsere Regelungen für die Zukunft zu treffen. Ich bin genötigt, noch heute Abend nach London zurückzukehren. Bitte lassen Sie mich hören, wie ich Sie am besten unterstützen kann; bitte sagen Sie mir, welche Mühen und Verantwortlichkeiten ich Ihnen abnehmen kann.“
Für den Augenblick war anscheinend weder Norah noch Miss Garth in der Lage, ihm zu antworten. Beiden waren gleichermaßen fassungslos und bestürzt über Magdalens Reaktion auf die Nachrichten, die die Heiratsaussichten zunichte machten, welche ihr Vater ihr vor noch nicht einem Monat eröffnet hatte. Sie hatten allen Mut zusammengenommen, um dem Schreck ihrer leidenschaftlichen Trauer zu begegnen oder sich der noch härteren Prüfung zu stellen und Zeugen ihrer sprachlosen Verzweiflung zu werden. Aber auf ihre unerschütterliche Entschlossenheit, die Anweisungen zu lesen, waren sie ebenso wenig vorbereitet gewesen wie auf die schrecklichen Fragen, die sie dem Anwalt gestellt hatte, oder auf ihre unnachgiebige Entschlossenheit, in ihrem Kopf alle Umstände festzuhalten, unter denen Michael Vanstones Entscheidung getroffen worden war. So stand sie am Fenster: ein undurchschaubares Rätsel für ihre Schwester, die unzertrennlich mit ihr gewesen war, und für die Gouvernante, die sie von Kindesbeinen an erzogen hatte. Miss Garth erinnerte sich daran, welche düsteren Zweifel ihr an dem Tag durch den Sinn gegangen waren, als sie Magdalen im Garten getroffen hatte. Norah blickte nach vorn auf die kommende Zeit, und das wegen ihrer Schwester mit der ersten ernsten Furcht, die sie in ihrem Leben empfunden hatte. Beide waren bisher passiv geblieben, weil sie in ihrer Verzweiflung nicht wussten, was sie tun sollten. Beide schwiegen jetzt, weil sie in ihrer Verzweiflung nicht wussten, was sie sagen sollten.
Geduldig und freundlich half ihnen Mr. Pendril, indem er zum zweiten Mal auf das Thema ihrer Zukunftspläne zu sprechen kam.
„Ich bedaure, Sie mit geschäftlichen Angelegenheiten bedrängen zu müssen“, sagte er, „obwohl Sie zwangsläufig nicht in der Lage sind, sich damit zu befassen. Aber ich muss meine Anweisungen heute Abend mit nach London nehmen. Dies betrifft an erster Stelle das schäbige finanzielle Angebot, auf das ich bereits angespielt habe. Die jüngere Miss Vanstone hat die Anweisungen gelesen und braucht keine weitere Unterrichtung aus meinem Mund. Die ältere wird mir, so hoffe ich, verzeihen, wenn ich ihr sage (was ich mich eigentlich schämen sollte, ihr zu sagen, aber es ist eine Frage der Notwendigkeit), dass die Versorgung von Mr. Michael Vanstone mit einem Angebot von einhundert Pfund für jede von ihnen beginnt und endet.“
Norahs Gesicht wurde vor Empörung dunkelrot. Sie sprang auf die Füße, als ob Michael Vanstone im Zimmer wäre und sie persönlich beleidigt hätte.
„Ich weiß“, sagte der Anwalt in dem Wunsch, sie zu schonen; „ich könnte Mr. Michael Vanstone mitteilen, dass Sie das Geld ablehnen.“
„Teilen Sie ihm mit“, brach es leidenschaftlich aus ihr heraus, „dass ich selbst dann, wenn ich am Straßenrand verhungern müsste, keinen Farthing davon anrühren würde!“
„Soll ich auch Ihre Ablehnung übermitteln?“, fragte Mr. Pendril, der sich dabei als Nächstes an Magdalen gewandt hatte.
Sie drehte sich am Fenster um, hielt aber ihr Gesicht im Schatten, indem sie dicht daneben mit dem Rücken zum Licht stand.
„Teilen Sie ihm von meiner Seite mit“, sagte sie, „dass er noch einmal nachdenken soll, bevor er mich mit hundert Pfund ins Leben entlässt. Ich werde ihm Bedenkzeit geben.“ Diese eigenartigen Worte sprach sie mit ausgeprägtem Nachdruck, und indem sie sich schnell wieder zum Fenster wandte, verbarg sie ihr Gesicht vor der Beobachtung aller, die im Zimmer waren.
„Sie lehnen also beide das Angebot ab“, sagte Mr. Pendril, zog seinen Bleistift heraus und machte sich seine offizielle Notiz über die Entscheidung. Als er sein Notizbuch zuschlug, blickte er zweifelnd zu Magdalen. Sie hatte in ihm das versteckte Misstrauen geweckt, das die zweite Natur eines Anwalts ist: Er hatte seine Vermutungen über ihre Blicke; er hatte seine Vermutungen über ihre Sprache. Ihre Schwester schien mehr Einfluss auf sie zu haben als Miss Garth. Er entschloss sich, unter vier Augen mit Norah zu sprechen, bevor er ging.
Während ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, beanspruchte eine weitere Frage von Magdalen seine Aufmerksamkeit.
„Ist er ein alter Mann?“, fragte sie plötzlich, ohne sich vom Fenster anzuwenden.
„Wenn Sie Mr. Michael Vanstone meinen – er ist fünfundsiebzig oder sechsundsiebzig Jahre alt.“
„Sie haben vor einiger Zeit von seinem Sohn gesprochen. Hat er noch andere Söhne – oder Töchter?“
„Nein, keine.“
„Wissen Sie irgendetwas über seine Frau?“
„Sie ist schon seit vielen Jahren tot.“
Eine Pause trat ein. „Warum stellst du solche Fragen?“, sagte Norah.
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte Magdalen leise; „ich werde nichts mehr fragen.“
Mr. Pendril kam zum dritten Mal auf die geschäftliche Seite des Gesprächs zurück.
„Man darf die Dienstboten nicht vergessen“, sagte er. „Sie müssen ausgezahlt und entlassen werden. Ich werde ihnen die notwendigen Erklärungen geben, bevor ich gehe. Was das Haus angeht, brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen. Die Kutschen und Pferde, Möbel und Geschirr müssen einfach an Ort und Stelle bleiben, bis Mr. Michael Vanstone weitere Anweisungen gibt. Aber über alle Besitztümer, Miss Vanstone, die Ihnen oder Ihrer Schwester persönlich gehören – Schmuck und Kleidung, aber auch kleine Geschenke, die man Ihnen gemacht hat – können Sie in vollem Umfang verfügen. Was den Zeitpunkt Ihrer Abreise angeht, so wird nach meiner Kenntnis mindestens ein Monat vergehen, bis Mr. Michael Vanstone Zürich verlassen kann; und ich bin sicher, dass ich seinem Anwalt nur Gerechtigkeit widerfahren lasse, wenn ich sage…“ „Verzeihen Sie, Mr. Pendril“, warf Norah ein, „ich glaube, nach dem, was Sie gerade gesagt haben, habe ich verstanden, dass unser Haus und alles, was darin ist, jetzt wem gehört…?“ Sie verstummte, als sei es ihr ein Gräuel, den Namen des Mannes auch nur auszusprechen.
„Michael Vanstone“, sagte Mr. Pendril. „Das Haus geht mit dem übrigen Vermögen an ihn.“
„Dann bin ich für mein Teil bereit, es morgen zu verlassen.“
Magdalen fuhr am Fenster herum, als ihre Schwester sprach. Mit den ersten deutlichen Anzeichen von Angst und Beunruhigung, die sie bisher gezeigt hatte, sah sie Mr. Clare an.
„Seien Sie mir nicht böse“, flüsterte sie, wobei sie sich mit einer plötzlichen Demut im Blick und einer plötzlichen Nervosität zu dem alten Mann hinunterbeugte. „Ich kann nicht gehen, ohne vorher Frank zu sehen!“
„Sie sollen ihn sehen“, erwiderte Mr. Clare. „Ich bin hier, um mit Ihnen darüber zu sprechen, wenn das Geschäftliche erledigt ist.“
„Es ist ganz unnötig, dass Sie sich mit Ihrer Abreise so beeilen, wie Sie es vorgeschlagen haben“, sagte Mr. Pendril, an Norah gewandt. „Ich kann Ihnen versichern, dass heute in einer Woche noch früh genug ist.“
„Wenn das hier Mr. Michael Vanstones Haus ist, bin ich bereit, es morgen zu verlassen“, versetzte Norah.
Sie stand ungeduldig von ihrem Stuhl auf und setzte sich weiter weg auf das Sofa. Als sie die Hand auf die Rückenlehne legte, veränderte sich ihr Gesicht. Dort, am oberen Ende des Sofas, lagen die Kissen, die ihre Mutter gestützt hatten, als sie sich das letzte Mal zum Ausruhen hingelegt hatte. Dort, am Fuß des Sofas, stand der klobige alte Armsessel, der an Regentagen der Lieblingsplatz ihres Vaters gewesen war, während sie und ihre Schwester ihn erfreuten, indem sie am Klavier gegenüber seine Lieblingsmelodien gespielt hatten. Ein schweres Seufzen, das sie vergeblich zu unterdrücken versuchte, entrang sich ihren Lippen. „Ach“, dachte