GIFT geschädigt. Maxi Hill

GIFT geschädigt - Maxi Hill


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übertönte Aarons Rede, bis er zu husten begann, so heftig, dass selbst den unsensibelsten Menschen eine Gänsehaut überfuhr. Solange er sich zurückzog, herrschte Totenstille im Raum, und auch später versanken die Münder stumm in einem Gemisch aus Mitleid und Befürchtung.

      »Also, Faust zieht Bilanz seines Lebens und kommt zu folgendem Fazit: Als Wissenschaftler weiß er nicht genug und als Mensch ist er unfähig zu genießen. In dieser verzweifelten Lage verspricht er Mephisto seine Seele, sofern es ihm gelingen sollte, ihn aus der Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit zu befreien. Mephisto führt Faust in eine Welt zwischen Banalität und Mysterien und verstrickt ihn in eine teuflische Liebschaft mit Gretchen.«

      Zur Vorsicht hustete Aaron noch einmal und formulierte das Stundenziel: »Heut geht es wie angekündigt um den Weltanschauungsmonolog. Sie hatten die Aufgabe, die Elemente zusammenzutragen. Was also ist die Situation?«

      »Elemente? Haben wir jetzt Chemie?« Das war Sebastian Hamm. Irgendwie war Aaron noch nicht richtig wach, aber irgendwie spürte er auch eine innere Unruhe.

      »Stell dich nicht dümmer als du bist. Ja, Elemente, genau wie in Chemie und in Musik. Aber lenke nicht wieder ab mit deiner Musik. Ich weiß, dass du dort in deinem Element bist, aber hier spielt gerade eine andere Musik.«

      Eisiges Schweigen. Dann Aaron Barthels profundes Wissen:

      »Faust konstatiert drei Erkenntnisschritte: Erstens – Naturerkenntnis. Was war darunter zu verstehen?«

      »Nicht durch Bücher und Wissenschaften, sondern durch Erfahrung und Genuss«, wusste ein Mädchen.

      »Sag ich doch schon immer«, hielt einer der Jungen dazwischen.

      »Dann bitte, Gerd-Rainer. Sagen Sie, wie Faust es formulierte.«

      »Ick denke Goethe war det?«

      »Bitte, wir können das auch in einer Klausur klären.«

      Ein Mädchen rettete die Situation: »Ich glaube, Faust zweifelte am Erkenntniswert, weil er weit davon entfernt war zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält.«

      »Richtig. Und Gretchen? Was sagt Gretchen, als sie ihre kleine Welt erkennt?«

      »Bin doch ein arm' unwissend Kind.«

      »Gut. Selbsterkenntnis heißt, dass er selbst Teil der Natur, der vielfältigen Triebe und Kräfte ist. Und nun die Welterkenntnis.«

      Aaron blickte in die Runde, aber in diesem Moment wusste er nicht mehr, was er gesagt und was er gefragt hatte und irgendwie nahm die Benommenheit wieder von ihm Besitz, von der er in den Ferien geglaubt hatte, sie sei überwunden. Wie von fern hört er die Stimme eines Mädchens:

      »Der Mensch ist zwar zum Höheren befähigt – den Göttern nah und näher – aber sein Taumel zwischen Begierde und Gefahr belädt ihn mit Schuld.«

      »Sehr gut Tanja. «

      Wenn es Tanja war, durfte er davon ausgehen, dass es seine Richtigkeit hatte. Aaron blickte aus dem Fenster dem Lauf der Straße folgend, die nach Süden strebte und sich langsam im Dunst des Tages verlor. Er kehrte der Klasse den Rücken. Sein Atem ging flach und stockend, seine Knie schwankten schwerfällig. Mit bebenden Lippen rezitierte er sanft und eindringlich bis zu jenem Schluss, ohne sich darum zu scheren, ob man ihm zuhörte:

      »…ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft …«

      Getuschel in den Bankreihen. Unruhe hinter dem Rücken des Lehrers. Sogar die wenig Gelehrsamen hatten begriffen, wo der Fehler bei Aaron Barthels Rezitation lag. Wie konnte er gut und böse verwechseln? Irgendetwas hatte Kratzspuren auf Aaron Barthels profundem Wissen hinterlassen.

      Schulalltag und eine nicht alltägliche Nachricht

      Eine Stubenfliege, vielleicht die letzte des Jahres, hatte sich verirrt und brummte bedrohlich über den Köpfen der Klasse, huschte zurück zur kühlen Scheibe, um wie magnetisiert haften zu bleiben. Nach gewisser Zeit wiederholte sie das letzte Spiel ihres Lebens. Zwischendurch kreiste sie unter der Zimmerdecke und zuweilen auch vor Schrimps Gesicht. Ein hämisches Grinsen der Jungen und das Warten, was jetzt passieren würde. Pure Abscheu aus den Gesichtern der Mädchen. Schrimp spürte das Gemisch der Empfindungen. Die Schüler wussten nicht, was sie tun sollten und was nicht. Sie hatten längst gelernt, dass Schrimp nichts wiederholte, und das zumindest war ärgerlich wenn er einen seiner Witze machte. Er machte jetzt keinen Witz, er hatte eine Idee.

      »Fangt sie ein, aber zerdrückt sie nicht.«

      Für einen Moment entglitt ihm die Ruhe, die gewöhnlich in seinem Unterricht herrschte. Das Tohuwabohu begann. Tobias, der dickliche Knabe mit der Nickelbrille, hechtete sein Übergewicht über den schmalen Körper seines Banknachbarn Jens und drohte ihm das Genick zu brechen. Schrimp ging dazwischen.

      »Das war schlapp, wie ein Sturmsack bei Windstärke zwei.«

      Ein Unfall hätte ihm gerade noch gefehlt. Nicht auszudenken, wenn einer dieser untertrainierten Plumpsäcke noch Schaden anrichtete. Es war genug, wenn eine der Mütter Gift und Galle über ihn auskippte. Es waren gewisse Privilegien, die das Leben dirigierten. Das Privileg der Abstammung, das die Mütter pflegten und zugleich das Privileg, sich eine Meinung zu bilden, ohne die geringste Ahnung zu haben.

      Seine Hand kreiste im großen Bogen durch die Luft und das Brummen war verstummt. Er hatte das Biest. Nun kam es nur darauf an, dass er sich nicht blamierte und der Störenfried nicht wieder entwischte.

      »Schnappt euch ein Mikroskop und schaut sie euch an.«

      Wieder war Tobias trotz beachtlicher Körperfülle der Erste am Instrumententisch, während Schrimp die Fliege, die er musca domestica nannte, solange mit seinen Fingerspitzen an den Beinen festhielt, bis der Objektträger aufgelegt war.

      »Obwohl sie so winzig ist, verfügt sie über einen hochkomplizierten Steuerapparat. Komplizierter als jedes andere von Menschenhand konstruierte Fluggerät.«

      Das Tierchen sah unter dem Mikroskop nicht nur riesig aus, es schien durchscheinend und gerade deshalb gespenstisch zu sein. Besonders auf die Mädchen wirkte es jetzt bedrohlicher als im Flug.

      »Mit solchen Flügeln ist man schneller als die Polizei erlaubt?«, krächzte der schmächtige Jens, offenbar nur, um auch einmal eine vorwitzige Bemerkung zu machen.

      »Schaut euch die Augen ganz genau an! «

      Es gab immer noch Schüler, die offenbar beim Blick durch das Mikroskop vom Objekt nichts erkannten und sich rasch wieder entfernten. Aber zu denen gehörte Tobias nicht. Er war in jeder Lebenslage neugierig, schnappte nach jeder sich bietenden Sensation und wurde deshalb (auch von manch einem Lehrer) Klatschmaul genannt. Schrimp mit seiner trotzigen Grundauffassung teilte diese Meinung nicht. Wenn die Neugier sich auf ernsthafte Dinge richtete, lobte er den Wissensdrang.

      »Man. Fassettenaugen. Kennt man doch!«, prahlte Tobias. Schrimp griff ein: »Mit diesen Augen schafft sie den Rundumblick und kann ihn blitzschnell verarbeiten. Ehe du nur die Hand hebst, ist sie weg. «

      »Kein Wunder, wenn man nach vorn und hinten gucken kann. Zugleich, wohlgemerkt. «

      »Haben Sie auch Facettenaugen?«, fragt einer aus der hintersten Reihe.

      »Klar«, antwortete ein anderer, »sonst hätte er sie wohl schlecht fangen können.« Aus dem Pulk löste sich das Stimmchen eines Mädchens, das sonst nie vorlaut ist: »Was meinst du, warum Tobias lieber büffelt, als im Unterricht zu spicken?«

      Schrimp grinste in sich hinein. Respekt zeigt sich auch in gewisser Respektlosigkeit. Was aber den Fakt betraf, gab es auch bei ihm zuweilen Augenblicke, wo er keine vernünftigen Argumente fand. Sein Respekt vor der Natur war groß und das spürten die Schüler. Manches, was er nicht erklären konnte, bezeichnete er als überwältigendes Wunder des Lebens, was zuweilen missverstanden wurde.

      »Gott hat die Welt perfekt eingerichtet«, sagte prompt einer, der auch noch Christian hieß


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