GIFT geschädigt. Maxi Hill

GIFT geschädigt - Maxi Hill


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      »Die Zeitschriften in den Warteräumen gefallen mir nicht«, war seine bleierne Antwort. Diese Art Sprüche hatte er von Schrimp gelernt und er bewunderte diese lockere Art. Zu gerne würde er auch so sein, aber zuweilen war sein Zustand nicht zu verbergen. Nicht vor seiner Frau und nicht mehr vor seinen Schülern. Wenn es ihm noch halbwegs gelang, dann in der kurzen Zeit, die er im Lehrerzimmer mit den Kollegen verbringen musste. Zwangsläufig.

      Wenn es nur die zunehmende Gedächtnisschwäche wäre, die könnte er irgendwie überspielen. Besorgniserregender für ihn waren die rätselhafte Benommenheit und der quälende Husten. Freilich gab es wegen seiner Zerstreutheit bereits Misstöne im Kollegium. Jeder fühlte sich bedroht vom Entlassungs- und Umsetzungsbestreben des Schulamtes. Gerade wurde noch geklagt und das Urteil war noch gar nicht gesprochen. Auch er sah eine reelle Chance, von einer Umsetzung in den Speckgürtel von Berlin verschont zu bleiben. Aber gegen eine Versetzung an eine Realschule oder Hauptschule hatte er keinen brauchbaren Trumpf in der Hand. Wenn seine Versetzung eintreten sollte, konnte er sich sein profundes Wissen an Literaturgeschichte hinter den Spiegel stecken. Und wer nahm einen Musiklehrer noch ernst.

      Nun war er beim Spezialisten gewesen. Ruhiger war er nicht. Man weiß nie, was einem angenehmer ist. Wenn der Arzt nichts unternimmt, oder wenn er alles Mögliche unternimmt. Dieser Arzt unternahm alles Mögliche, wie man so sagt, doch gerade dieser Umstand war beängstigend. Vielleicht musste er sich nun keine Sorgen mehr machen. Vielleicht würde die Computertomografie die Auflösung des Rätsels bringen.

      Aaron hatte keine Ahnung, ob die bange Erwartung eine Lösung für sein Problem war. Ganz sicher nicht. Über seine Lippen huschte etwas, was man bei jungen Menschen ein süßes Lächeln nennt. Dieses war ähnlich, aber es war bittersüß. Fatal, was er inzwischen dachte: Im schlimmsten Falle wäre er nicht mehr der Spinner, den sie ihn nannten, seit er diesen unglaublichen Verdacht hatte.

      Am Morgen gab es auf dem Stadthallenvorplatz eine Demonstration gegen die Erweiterung des Tagebaues östlich der Stadt. Das Dorf Horno sollte abgebaggert und die Bewohner in nigelnagelneue Häuser umgesiedelt werden. Ganze Wohnsiedlungen sollten neu entstehen. Doch das war kein Ersatz für Landratten mit Geschichte, mit Erinnerungen, mit Liebe zu ihrem bescheidenen Besitz, den sie in entbehrungsreichen Jahren geschaffen hatten, der Mangelwirtschaft zum Trotz. Schlimm für Leute, die keinen so langen Vorausblick auf ihr Leben mehr hatten.

      In den Gesichtern sah Aaron eine Sehnsucht, einen Kampfgeist und zugleich Bitternis gegen die Lügen der einst Mächtigen. Der letzte Minister hatte versprochen, Horno zu erhalten. Es gab ihn nicht mehr, diesen Herrn. Sein Versprechen war in den Schubladen unter der Altersdemenz versackt.

      Auf einem der mitgeführten Spruchbänder konnte man lesen: Neu Horno - Kein Baum, kein Strauch. Nur lieblos geschichtete Steine ohne Seele.

      Von der Einkaufspassage her formierte sich ein Gegenblock aus Männern in Overalls. Vermutlich Kohlekumpel, die durch die Proteste ihre Existenz bedroht sahen. Bürger der Stadt waren nicht viele zu sehen. Die hatten eigene Probleme; was interessierte sie fremdes Leid. Die Kohlegruben ringsum waren den Städtern nicht angenehm, aber sie heizten ihre Stuben.

      Aaron hatte ein Weilchen zugehört und gewusst, sie hatten den Mut, weil sie mehrere waren. Ob sie Erfolg haben werden? Wer weiß? Eines Tages wird es in den Geschichtsbüchern stehen, aber ihr Kampf ist auch so nicht umsonst, dachte er. Das nächste Mal würde Vattenfall, der Energieriese, der die Lausitzer Braunkohle AG geschluckt hatte, genauer prüfen, vorsichtiger sein.

      Wenn er doch selbst den Mut aufbrächte, für sein Problem zu kämpfen, konsequenter zu sein. Nein. An Konsequenz fehlte es ihm nicht. Es fehlte ihm das Zeug, sich aufzulehnen gegen einen unsichtbaren Feind. Wer seinen Feind nicht kennt, kennt nicht die Mittel, ihn zu bekämpfen.

      Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

      »Es geht doch längst nicht mehr um Kohle«, sagte die vertraute Stimme dicht an Aarons Ohr. Schrimp jetzt jetzt oft zu Fuß zur Schule. Auch ihn ließen die verbrecherisch hohen Spritpreise entdecken, wie heilsam das tägliche Laufen war, und zuweilen, wenn ihr Unterricht zur gleichen Stunde begann, trafen sie sich genau an dieser Stelle.

      »Die dünne Kohleschicht lohnt die Hebung gar nicht. Es geht um den Kies, mit dem man diverse Löcher füllen kann. «

      Aaron stutzte. Kies ja, aber war damit Sand gemeint? Er hatte keine Zeit, zu Ende zu denken.

      »Hier geht es längst um einen Präzedenzfall. Widerstand darf sich hier zu Lande nicht lohnen. Die Obrigkeit ist ja auch nicht dumm. Hätte der Kampf der Hornoer Erfolg, würden ihm weitere Proteste folgen. «

      Dass es ausgerechnet Schrimp war, der ihn in seinem Denken bestärkte, wunderte Aaron an diesem Tag noch. Sein Wundern zauberte ein Liedchen in sein Denkerstübchen, ein sorbisches, das er nicht über die Lippen ließ. Gott hat die Lausitz geschaffen, aber der Teufel hat die Kohle darunter versteckt.

      Auf dem Weg zur Schule sprach er mit Schrimp von den Denkmälern der Zeitgeschichte, den alten Häusern, die seit Jahrhunderten weitervererbt worden waren, von der Kirche und ihrem Glockenturm und von den Gräbern, die man umzusetzen hätte. Darüber nachzudenken war nicht schwer. Es waren abstrakte Gedanken. Weit weg von der eigenen Haut.

      Dem Kampf der Hornoer Bürger zollten die Männer unisono Respekt. Tief im Inneren überprüften sie sich selbst und jeder wusste von sich, dass Kämpfe immer Wunden hinterließen.

      »Ich würde mein eigenes Haus nicht einmal im Koma verlassen«, polterte Schrimp, wie er zumeist gewöhnliche Worte für ungewöhnliche Dinge benutzte. Aber sicher, ob es so käme, sei er sich nicht.

      Aaron begann zu husten und es war ihm, als reiße der Schmerz die Seele aus seinem Leib. Vor Schrimp wollte er stark sein, aber schon nach hundert Metern verlor er den Kampf der Eitelkeit. Die Atemnot wurde immer grässlicher und zuweilen gesellte sich dieser Auswurf dazu, der jeden abstieß, der es miterleben musste. Nicht Schrimp. Der war nicht zimperlich, der hatte immer einen Witz auf den Lippen, ermunternd, nie entmutigend.

      »Dieses Lied solltest du mal Doktor Gehricke vorsingen. Nicht gerade die angenehmste Koloratur.«

      »Zu spät«, keuchte Aaron. »Ich meine, dein Rat kommt zu spät. Ich war dort. Den Gehricke gibt es nicht mehr. Sein Nachfolger hat mich zur Untersuchung in einer dieser Röhren überwiesen. Acht Wochen Wartezeit.« Aaron hob zwei Finger zwischen erbärmlichem Husten. »Zwei … zwei Wochen hab ich erst weg.«

      Während der letzten Jahre hatte Aaron mit dem Gedanken gespielt, seine Klassiker in eben dieser Form zu behandeln, die seine Schüler als annehmbar erachteten. Bei den ersten Versuchen glaubte er, es wäre für alle ein Segen, doch dann litt er wie ein Hund. Die Wahrheit, dass die Jugend seinen Literaturunterricht satt hatte, Klassiker sowieso und ganz besonders seine weitschweifige Tiefgründigkeit – was ein ähnlicher Widerspruch war, wie die Jugend selbst widersprüchlich war - ließ ihn erkennen, dass er ein guter Literaturkenner war, aber kein guter Didaktiker.

      Weil sie keinen Respekt für den Stoff hatten, den er sie lehrte, hatten sie auch keinen vor ihm. Im Wissen darum, dass sie ihn nur ertrugen, erfüllte er seine Pflicht umso akribischer. Geradezu penetrant stellte er ihnen die schwierigsten Fragen, ließ sie Konspekte erstellen, sammelte sie ein, versah sie mit grandiosen Bemerkungen und glaubte, es ihnen und seiner Rechtfertigung schuldig zu sein.

      Die Ironie der Kollegen entging ihm nicht. Aaron bezweifelte nicht, dass sie fehl am Platze war und dass manch andere Wissenschaft die gleiche Ironie verdiente. Von ihm kam darüber kein Wort. Er übte sich in Bescheidenheit, die seine Geburt ihn gelehrt hatte. Und er übte sich in Dankbarkeit, weil er bei jeder Lektion selbst an Wissen gewann. Es wunderte ihn nicht, dass ihm fünfundvierzig Minuten nie reichten, um die Erkenntnis zu erzielen, die der jungen Generation nottat und ihm selbst noch einen Gewinn brachte.

      Die Klasse saß gelangweilt in den Bänken. Die Jungen stützten ihre müden Köpfe, die Mädchen hielten sich gerade. Nicht einer von ihnen hörte erwartungsvoll zu, wie Aaron Barthels die Handlung in Kürze zusammenfasste:

      »Heinrich Faust, ein angesehener Forscher …«

      »Und


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