Kurdische Märchen und Volkserzählungen. Jemal Nebez

Kurdische Märchen und Volkserzählungen - Jemal Nebez


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      Dieser Xidir-î Zîndû, der auch manchmal bedürftigen Reisenden erscheint, ihnen den Weg zeigt und sie vor Gefahren schützt, soll als "Erlöser" eines Tages die Welt vom "Bösen" reinigen. Obwohl manche Moslime (z.B. die Schiiten) ebenfalls an einen solchen "Erlöser" glauben, ist der Begriff des Erlösers unter den Kurden älter als der des Islam. Er ist eine uralte Gestalt im Glauben der Kurden und anderer Iraner und hat seinen Ursprung in der zoroastrischen Religion. Diese lehrt, dass Ahriman(8) alles Böse auf Erden verursacht, aber dass eines Tages ein Mann mit Namen "Saoshyant" aus dem Geschlecht des Propheten Zarathustra erscheinen wird, um die Welt zu befreien. Der Glaube an einen Erlöser hat Parallelen in vielen Religionen, wie der Glaube an den Messias bei den Juden, an Christus bei den Christen und an Mahdî(9) bei den schiitischen Moslims, um nur einige zu nennen.

      Zu den Märchen mit Anlehnung an Religiöses gehört auch "Bargird und Fargird": Über die reiche, angesehene Familie eines Stammesführers kommt plötzlich großes Unheil, das von manchen als Strafe des Himmels angesehen wird. Alle Menschen wenden sich ab, und Fargid hört im Traum eine geheimnisvolle Stimme, die ihm sagt, er solle sieben Jahre lang in sieben Paaren eiserner Schuhe umherwandern, sieben Sachen wechseln und sieben gute Taten vollbringen. Fargird befolgt diesen Rat und nimmt alle erdenklichen Strapazen auf sich, um das Unglück von seiner Familie abzuwenden. Endlich, als er am Ende seiner Kräfte angelangt ist, kommen einige Ritter, die von seinem inzwischen geheilten Bruder, dem Stammesführer Bargird, ausgesandt wurden, um ihn zu suchen. Fargird übernimmt wieder die Regentschaft, und Bargird steht ihm zur Seite.

      In diesem Märchen klingen viele Motive an: unverbrüchliche Treue zur Familie, der Glaube an geheimnisvolle Zauberkräfte, symbolisiert durch magische Zahlen und Taten, und die Bereitschaft, das "Kreuz" für die anderen auf sich zu nehmen, um sie zu retten.

      In dem Märchen "Der Korbverkäufer" tritt ein König nach naiven Überlegungen über sein Amt zurück, als er sieht, dass seine Macht beschränkt ist. Er begibt sich aus der gesicherten, beherrschenden Stellung in die ungesicherte, ausgelieferte eines Korbverkäufers. Eine Königin will ihm Liebe und Reichtum schenken, aber er lehnt beides ab. Dann geschehen einige Wunder, die viele Menschen an seine göttliche Sendung glauben lassen, und sie bekehren sich zum "Islam". In diesem Märchen sind ethische Prinzipien der zoroastrischen Religion mit islamischen Prinzipien vermischt. Wahrscheinlich ist der Stoff des ersten Teiles wesentlich älter als der folgende mit islamischen Tendenzen, der vielleicht später hinzugefügt wurde. Zu Ende des Märchens betet der alte Korbverkäufer, dass er und seine zweite Frau wieder jung werden mögen. Gott erhört sein Gebet, und beide werden in das Alter von 14 Jahren zurückversetzt. Solche erhörten Gebete findet man ebenfalls in einem anderen in Nordkurdistan bekannten Märchen "Wêsif û Zilêxâ"(10).

      Wir kommen jetzt zu den bekannten Märchen, worin den Tieren Menschensprache in den Mund gelegt wird und ihre Erlebnisse zum Schluss in einem Weisheitsspruch zusammengefaßt sind. Solche heißen in Kurdistan "Çîrok-î bamânâ" oder "Çîrok-î batökil" (symbolische Märchen). Sie wurden besonders dann häufig erzählt, wenn das Land unter dem Druck fremder Gewaltherrschaft stand und eine freie Meinungsäußerung nicht möglich war. Fabeln heißen auch "Kindermärchen". Der verstorbene kurdische Kinderlehrer Nacim (Nağim) ad-dîn Malâ aus Sulaimânî war ein guter Erzähler von Kindermärchen. Er veröffentlichte in den Jahren 1953-56 in der kurdischen Wochenzeitung "Jîn" (Das Leben) eine Reihe solcher Fabeln, die nationale Empfindung ausdrückten. Ein Beispiel dieser Art ist "Glaube nicht alles, was du hörst", das die Leichtgläubigkeit darstellt.

      Das Märchen "Bakhtyar und Badbakht" handelt von der Gesellschaft bzw. dem hierarchisch geordneten Leben der Tiere. Sie betrachten den Menschen als ihren offensichtlichen Feind, und ihr Oberhaupt lässt sich vom Fuchs einen Rapport über die Neuigkeiten vorlegen. Baxtiyâr, der ein gutes Herz hat, nimmt einer Maus behutsam Goldstücke ab, mit denen sie spielt, gelangt dadurch zu großem Reichtum und bewirtet davon in seinem Haus alle Bedürftigen. Obwohl sich sein Bruder sehr niederträchtig gegen ihn verhalten hat, bewahrt er ihm noch immer einen Platz in seinem Herzen und in seinem Haus. Als dieser endlich ganz verarmt und heruntergekommen seinen Palast betritt, will Bakhtiyâr mit ihm sein Vermögen teilen. Badbakhts Gier aber ist groß, und er schleicht zu dem Versammlungsort der Tiere, um dort zu Geld zu gelangen. Die Tiere sind empört über den schon begangenen Raub. Sie suchen nach einem weiteren mutmaßlichen Lauscher, finden dabei den habgierigen Badbakht und zerreißen ihn.

      Viele Märchen und Fabeln sind mit kurdischen Sprichwörtern und Gedanken verbunden. Den Sinn eines Sprichwortes illustriert die Geschichte von "Scheich Homars Schlange". "Şêx Homar"(11), der sehr liebevoll zu allen Lebewesen ist, rettet die Schlange mit seinem Stock vor dem Verbrennungstod. Die Schlange jedoch greift ihn an und will ihn töten. Homar kann sie dazu bewegen, einige Tiere über d e n Fall entscheiden zu lassen. Alle verurteilen das Benehmen der Schlange, sie aber will sich nicht fügen. Zuletzt kann der schlaue Fuchs die Schlange überlisten und sie mit dem Stock Homars töten. Er sagt zu dem Scheich: "Sei zu Schlangen niemals freundlich, richte Schlangen immer mit dem Stock!"(12).

      "Mâraka-y Şêx Homar" (Scheich Homars Schlange) zitiert man in Kurdistan als Beispiel für Undankbarkeit. Dieses Märchen hat eine Ähnlichkeit mit einem indischen Märchen: Ein mitfühlender Brahmane befreit einen Tiger aus seinem eisernen Käfig. Dieser, kaum in Freiheit, will den Menschen fressen. Man ernennt fünf Tiere zum Richter über ihn, vier davon wollen den Mann töten, weil die Menschen sehr grausam gegen die Tiere sind. Zuletzt befreit der Fuchs den Inder und bringt den Tiger wieder in den Käfig. Die Ähnlichkeit, die man einerseits bei kurdischen und andererseits bei indischen Märchen findet, ist kein Zufall und stellt m.E. auch keine Übernahme dar, sondern hat ihre Wurzeln in der indoiranischen Gemeinsamkeit.

      Erwähnenswert ist, dass die kurdische Volksliteratur sehr oft in Gedichtform geschrieben ist. Das gilt insbesondere für die Volkserzählungen. Die Kurden haben ihre Epen, Erzählungen, auch manche Märchen, wie Dramen gestaltet. Es sind auch einige Sprichwörter und Redensarten in Reimform überliefert (13). Die in dieser Sammlung enthaltenen Volkserzählungen sind allerdings weitgehend reimlos nacherzählt. Anders als bei den Märchen, die oft auch von Geistern, Dämonen oder Tieren handeln, stehen bei den Volkserzählungen die menschlichen Gefühle, Probleme und Leidenschaften im Mittelpunkt. Sie behandeln Liebe und Leid, Treue und Tapferkeit. Ein gutes Beispiel für diese Kategorie ist die Liebesgeschichte "Mam û Zîn", das sogenannte kurdische "Romeo und Julia", das alle kurdischen Charakteristika enthält. Der Stoff ist, wie auch Professor Oskar Mann bestätigte, sehr alt und ist fast als einzige Erzählung in ganz Kurdistan bekannt(14). Meiner Ansicht nach ist der Inhalt an eine andere Volkserzählung namens "Mam-ê Âlân"(15) angelehnt. Trotzdem besteht durchaus die Möglichkeit, dass sich eine ähnliche Liebesgeschichte tatsächlich abgespielt hat, die der kurdische Dichter und Gelehrte Ahmad-î Xânî (1650-1706) dann als Grundlage für sein Liebesdrama benutzte(16). Dieses Drama wurde durch die mündliche Überlieferung noch vielfach ausgestaltet. Noch heute gibt es ein Grab in Botân(17), das als Grab von "Mam û Zîn" bekannt ist, ebenso wie das Grab der Brüder "Nâsir û Mâlmâl"(18) in Gâgaš(19).

      Auch wenn sich eine derartige Tragödie wie die von "Mam û Zîn" nach Ansicht mancher Forscher (wie z.B. Sacâdî)(20) zu Ende des 13. Jahrhunderts n.Chr. zugetragen haben mag, besteht kein Zweifel darüber, dass die ethischen Begriffe in eine frühere Epoche zurückgehen. Durch den Volksmund wurde die Erzählung "Mam û Zîn" dank ihrer Popularität zu einem Märchen umgestaltet(21).

      Nicht nur Liebesgeschichten sind Inhalt von Volkserzählungen. Es gibt in der kurdischen folkloristischen Literatur ebenso Satiren und scherzhafte Erzählungen. Die kurdische Geschichte verzeichnet Komiker wie Aha-y Kur̂nû(22), Mâma Khama (Xama), Awlâ Mâmaš (Mâmash) und viele andere. Der Naturkomiker Bashîr Mushîr (1893-1963), dessen Name schon einen Reim bildet, hatte eine Überfülle von Phantasie und Einfällen. Ich kannte ihn sehr gut und wusste schon damals seinen Witz zu schätzen.(23)

      Von seinen phantasievollen Gedankengängen will ich nur folgende kleine Geschichte erzählen:

      Ich war einmal in seinem Geschäft in Bagdad. Herein kam ein Bekannter, der von


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