Kurdische Märchen und Volkserzählungen. Jemal Nebez

Kurdische Märchen und Volkserzählungen - Jemal Nebez


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Weg per Schiff gefahren und das war sehr angenehm". Als ich einwandte: "Mâmostâ (d.h. Professor oder Gelehrter, wie alle ihn nannten), es gibt doch keinen Fluß zwischen Teheran und Istanbul", kam er überhaupt nicht in Verlegenheit. Gelassen erwiderte er: "Doch, als ich jung war, gab es einen großen Fluß zwischen den beiden Städten". Als ich fragte, wohin der Fluß verschwunden sei, antwortete er mit einem Seufzer: "Ach! Die bösen Engländer transportierten ihn nach dem Ersten Weltkrieg nach England und verwandelten alles in Öl. Diese Schweinehunde sind klug! Sie sind nicht so dumm wie wir Kurden ...".

      Die Erzählung "Der Malâ und die Wespen" handelt von einem kurdischen Stamm, der Religion nur als Tradition auffasst und nicht als Herzensangelegenheit. Ein Schäfer, der einzig auf das Wohl seiner Schafe bedacht ist, macht sich Gedanken, ob der Gebetsruf seinen Schafen Schaden bringen könnte. Der Stamm zeigt großen Eifer für die neue Religion, was wohl seinen Grund in der kurdischen Eigenart hat, an Neuem regen Anteil zu nehmen. Zu guter Letzt kann sich der Malâ nicht mehr retten und er entledigt sich der "Gläubigen" durch eine List.

      "Meister Pîrots letztes Abenteuer" zeigt, wie die charaktervolle Frau des Kaufmannes mit Klugheit und Diplomatie die Freundschaft zwischen ihrem Gatten und "Meister Pîrot" erhält und gleichzeitig treu bleibt, während sie dem losen Vogel eine Lehre erteilt.

      Den Märchen vergleichbar enthalten manche Volkserzählungen Lebensweisheiten, die zu Sprichwörtern wurden. So die Erzählung: "Worte sind keine Steine, die man einfach wirft". Bei dieser Erzählung stehen die Ratschläge eines alten, erfahrenen Mannes im Mittelpunkt. Er gibt seinen Rat, aber nur gegen das schwerverdiente und erarbeitete Vermögen des Beratenen. Er verlangt dies, um den Wert seines Rates ins richtige Licht zu stellen. Durch die guten Ratschläge bleibt dieser vor dem Erfrierungstod, vor irrtümlichen Beschuldigungen und sogar vor dem Mord an einem Unschuldigen bewahrt.

      "Ein Dach, aber zwei Wetter" ist heute noch als Sprichwort gebräuchlich. Es stellt die mögliche Verschiedenartigkeit der Auslegung eines Gesetzes gegenüber verschiedenen Personen dar.

      "Gott ist größer als Sultân Mahmûd" zeigt das Hervorgehen eines Sprichwortes aus einer offenbar sehr beliebten Erzählung. Fromme Gottergebenheit und Zuversicht stehen gegen Skepsis und die Vergeblichkeit der Behauptung des Schwachen gegen die Willkür eines Tyrannen. Zu guter Letzt zeigt die Erzählung die Allmacht Gottes, der den anscheinend unüberwindlichen Sultan sterben lässt und damit dem armen Tischler das Leben rettet.

      Eine ähnliche Erzählung dieser Art ist "Der Pechvogel". Diese Erzählung hat den Glauben an Fatalismus zum Inhalt. Das vorherbestimmte Schicksal "Châranûs" (Çâranûs) ist in der orientalischen Seele tief verwurzelt. "Der Pechvogel" handelt davon. In tragikomischer Weise wird die Hauptperson wie mit einer unsichtbaren Hand von einer konfliktreichen Situation in die andere gestoßen. Dem "Pechvogel" gelingt es, sozusagen als letzte Rettung in der Not, die Verkörperung des Gesetzes, den Richter, in einer peinlichen Lage zu ertappen und durch eine kleine Erpressung das Schicksal an der Nase herumzuführen. Neben dem Glauben an ein determiniertes Schicksal vertrauen die Kurden auf eine Möglichkeit der eigenen Bestimmung(25).

      Die Kurdin liebt den tapferen und fleißigen Mann. In der Erzählung "Die schlaue Witwe" z.B. will sich die Frau zwischen zwei Dieben entscheiden: "Ich bin die Frau desjenigen, der ein Meister seines Faches ist". Die Kurden betrachten im Allgemeinen die Frauen nicht als dumm, sondern achten ihre Klugheit und Schlauheit. Ein kurdisches Sprichwort sagt: "Ein Löwe aus dem Urwald bleibt Löwe, sei er männlich oder weiblich"(30).

      Die Frau des Kaufmannes in der oben erwähnten Erzählung "Schlauheit der Frauen" wird durch einen Geistlichen, der ein Buch über seine schlimmen Erfahrungen mit Frauen schreiben will, so in ihrem Ehrgeiz und Übermut angestachelt, dass sie ihm arge Streiche spielt und sich von der ausgelassensten Seite zeigt. Nach diesen Erlebnissen hat der Malâ genug und schwört Stein und Bein, nie wieder etwas über Frauen zu sagen, weil sie ihm bewiesen habe, dass die Männer nicht klüger seien. Gleichzeitig aber gibt es Volkserzählungen, die von der Leichtgläubigkeit mancher Frauen handeln, als Beispiel sei genannt "Was für ein Meter, was für ein Stoff" (Gaz-î čî w gâw-î čî/ Gaz-î chî w gâw-î chî").

      Die melancholische Erzählung "Der Kurde und der falsche Richter" handelt von dem Unglück, das einem Kurden durch den Betrug einer raffinierten Frau widerfährt. Später wird ihm von einer klugen und mitfühlenden Frau geholfen. Zu erwähnen wären noch die Volkserzählungen mit lehrhaftem Charakter wie "Tischfreund und Lebensfreund". Ein Vater führt seinem jungen, unerfahrenen Sohn mit Hilfe eines erdachten Unglücksfalles vor Augen, wie sich in der Not vermeintliche Freunde (Tischfreunde) von wahren Freunden unterscheiden(31).

      Diese Erzählung zeigt deutlich kurdische Mentalität: Liebe des Vaters und die bedingungslose Treue des Freundes.

      Die kurdischen Märchen, Volkserzählungen und andere folkloristische Überlieferungen sind bis heute noch nicht hinreichend wissenschaftlich erforscht. Es erfordert noch viele Untersuchungen auf dem Gebiet der Mythologie, Literaturwissenschaft und Linguistik. Deshalb bedeutet jedes Bemühen auf diesem Gebiet einen Fortschritt in der Beleuchtung vieler unklar gebliebener Vermutungen. Man kann annehmen, dass manche Spuren bis zur bewegten nomadischen Zeit zurückführen und Bezüge zur vorzoroastrischen und zoroastrischen Zeit herzustellen sind, sowie zur christlichen und islamischen Religion. Es erschwert die Aufgabe allerdings wesentlich, dass diese Literatur nur mündlich überliefert wurde und dass bisher nur in geringem Umfang Sammlungen angelegt wurden. Die politische Lage, in der sich das auf fünf Staaten aufgeteilte Kurdistan immer noch befindet, macht diese Arbeit nicht leichter. Man möchte es nicht glauben, aber bis vor wenigen Jahren wurden die Kultur und sogar die Existenz der Kurden als ein selbständiges Volk aus politischen Gründen bestritten. Trotzdem konnten manche Kurden und Orientalisten diese schwierige Situation relativ früh überwinden und schon Ende des 19. Jahrhunderts mit verschiedenen Sammlungen beginnen(32).

      Die meisten Märchen und Volkserzählungen, die sich in diesem Buch befinden, werden zum ersten Male in einer europäischen Sprache vorgelegt. Es gibt auch einige (wie z.B. Firr und Tirr)(33), die ich selbst gesammelt habe. In der Übersetzung bemühte ich mich besonders, die Art des Denkens und die spezifischen Ausdrucksweisen der Kurden deutlich aufzuzeigen. Um kurdische Eigenheiten näher zu erläutern, hielt ich es für notwendig, manche Anmerkungen und Fußnoten anzubringen, die für Linguisten und Literaturwissenschaftler interessant sein können(34). Die kurdischen Namen und Wörter, die in den Texten der Märchen und Volkserzählungen vorkommen, sind so dargestellt, dass sie von Deutschsprechern möglichst leicht zu lesen sind und dennoch ihren kurdischen Charakter bewahren (mehr dazu im Abschnitt Zur Aussprache und Transkribierung im Anhang).

      Bevor ich dieses Vorwort abschließe, möchte ich allen Freundinnen und Freunden herzlich danken, die mich bei dieser Arbeit - zunächst hin zur Printveröffentlichung 1972 - so wunderbar unterstützt


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