Seelenreise. Rainer Sörensen
Überhaupt: Quantenphysik zerstört die Logik. Hätten die Physiker ein Maskottchen, dann wäre es die lächelnde Katze aus dem Märchen von Lewis Carroll „Alice im Wunderland“. Wenn die Katze verschwindet, dann bleibt, wenn sie es will, ihr Lächeln zurück. Die Quantenphysik ist wie ein Messer ohne Klinge, an dem der Griff fehlt. Ein Teilchen ist kein Teilchen, weil es eine Welle ist; eine Welle ist keine Welle, weil sie ein Teilchen ist.
Zeit ist Illusion. Irrsinn! Die Katze schmunzelt und nimmt gelassen zur Kenntnis, dass Ursache auf Wirkung folgt, was zum Beispiel Experimente mit Photonen demonstrieren. Photonen sind klein und unanschaulich, deshalb verwandeln wir sie in einem Gedankenexperiment in Lastwagen.
Ein Lastwagen nähert sich der Station, in der für Lastwagen zwei Kassenschalter geöffnet sind. Dieser Lastwagen ist nicht irgendein Lastwagen, es ist ein seltsamer Super-Lastwagen, der sich in zwei Lastwagen aufspalten kann. Wenn die Schalter nicht besetzt sind, was gelegentlich vorkommt, dann passiert nur der Super-Lastwagen die Station, ohne zu bezahlen. Wenn sie besetzt sind, dann spaltet sich der Super-Lastwagen in zwei Lastwagen auf, die jeweils Maut bezahlen müssen. Der Finanzchef der Autobahngesellschaft gibt nun eine Dienstanweisung: Sollte der Super-Lastwagen, ohne die Maut zu bezahlen, die Station passieren, weil beim Schichtwechsel die Schalter gerade nicht besetzt sind, dann sollten die Schalter auch dann noch blitzschnell besetzt werden, wenn der Super-Lastwagen soeben die Sperrlinie überquert hat. Die Kassierer befolgen die Anweisung und siehe da: Der Trick des Finanzchefs funktioniert, die Maut klingelt in beiden Kassen, weil nun zwei Lastwagen die besetzten Schalter passieren. Der Trick hat den Super-Lastwagen aus der Zukunft, in die er sich weiterhin bewegt, auf rätselhafte Weise in die Vergangenheit zurückgeholt. Die Zeit ist zurückgelaufen.
Zurück zum menschlichen Gehirn, in dessen Synapsen, den Verbindungsplatten zischen den Nervenzellen, sich Prozesse in der Nähe des Quantenniveaus vollziehen. Auch hier kann man die Drehung der Zeitrichtung experimentell messen. 1979 führte der Physiologe Benjamin Libet ein Experiment durch, das Philosophen und Naturwissenschaftler in helle Aufregung versetzte. Völlig überrascht registrierte er im Elektroenzephalogramm, dass die Entscheidung zu einer Körperbewegung auf die tatsächliche Bewegung folgte. Im Mittelpunkt der Diskussion stand nun die Frage: Hat der Mensch einen freien Willen, wenn der Wille Resultat des Ziels ist?
Aus quantenphysikalischer Sicht stellt sich diese Frage nicht, weil sie auf einer naiven Zeitvorstellung beruht. Hätte Libet gefolgert, dass im Zentralnervensystem die Gesetze der Quantenphysik gelten, dann wäre der Zweifel am freien Willen beseitigt. In einer Welt, in der das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht verletzt ist, lebt der Mensch unfrei, eingezwängt in das deterministische Korsett von Reiz und Reaktion. Die Quantenphysik löst die strenge Kausalität auf und ermöglicht so freie willentliche Entscheidungen.
Das Gehirn erweist sich als Instrument des freien Willens. Beherbergt es auch das Lebensgedächtnis, die biografische Identität?
Randnotiz:
Computerprozesse laufen getaktet nur in eine Zeitrichtung. Eine Umkehr der Zeitrichtung ist in der Informationstechnologie unmöglich.
Alzheimer und das Rätsel der Vergangenheit
Vergangenheit ist das einzig Wirkliche im Leben.
Alles was ist, ist Vergangenheit.
Anatol France
Die Mutter erkennt ihren Sohn nicht mehr, wohl aber seine Kinderfotos. Menschen mit Demenzerkrankungen verlieren die Orientierung in der Gegenwart, aber die Erinnerung an die ferne Vergangenheit bleibt erhalten. Diese Dominanz des Altgedächtnisses ist neurophysiologisch unmöglich, findet aber statt. Erfahrungen werden durch Verdickung von Synapsen (Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen) in Erregungsmustern gespeichert. Dominant, also robust gespeichert, sind die synaptischen Speicherungen des Neugedächtnisses, während das nur noch filigran gespeicherte Altgedächtnis mangels häufiger Reaktivierung verblasst. Seltsamerweise verschwindet das stabile Neugedächtnis bei Alzheimer und seniler Demenz zuerst, das Altgedächtnis aber bleibt weitgehend erhalten.
Fehldiagnose bei seniler Demenz
Das folgende Protokoll einer Psychiatrie-Vorlesung ist fiktiv, knüpft aber an an eine reale Situation in einer ZDF-Talkshow von Markus Lanz im Mai 2010, in der eine gebildete demente Dame in beeindruckender Weise ihr Problem reflektiert.
Diagnose: Senile Demenz (Vorher Fehldiagnose: Schizophrenie)
Patientin, 72 J., sehr gepflegt, wirkt jugendlich, spricht flüssig,
akademische Ausbildung, war Dolmetscherin für Französisch und Spanisch
Symptomatik:
Das aktuelle Kurzzeitgedächtnis ist fast völlig ausgefallen.
Die Vergangenheit ist so real wie die Gegenwart.
Dialog Professor / Patientin
Prof.: Sie haben ein Notizbuch bei sich, warum?
Pat.: Ich zeichne eine Skizze von diesem Raum, damit ich den Ausgang finde, ohne Hilfe. Ich schreibe Ihren Namen auf, mit Eselsbrücke.
Prof.: Mit Eselsbrücke?
Pat.: Wenn Sie Ihre Brille abnehmen würden, dann könnten Sie O.W. Fischer sein, der Schauspieler.
(Gelächter)
Prof.: Würden Sie mich nach der Vorlesung wiedererkennen?
Pat.: Ja, aber nur über diese Eselsbrücke. Sonst wüsste ich nicht mehr, wer Sie sind.
Prof.: Haben Sie Sorge, dass Ihnen die Situation hier entgleitet?
Pat.: Nein, aber ich muss mich sehr konzentrieren.
Prof.: Warum?
Pat.: Ich sehe Sie deutlich, aber ebenso deutlich eine andere Szene.
Prof.: Was sehen Sie?
Pat.: Ich sehe eine Frau, die ein Gewand aus Goldplättchen trägt... und ein Flügel-Diadem... Außerdem hat sie noch eine ovale Goldplatte vor dem Mund, das ist Schmuck.
Prof.: Wer ist diese Frau?
Pat.: Das ist die Herrin von Kao, eine Priesterin. Sie führt nackte, junge Männer in die Arena – mit dem rituellen Befehl, sich gegenseitig im Kampf zu töten.
Prof.: Sehen Sie diese Frau leibhaftig?
Pat.: Ja und nein. Ich sehe sie auf einem Rekonstruktionsgemälde und als Mumie. (Pat., Prof. und Studenten lachen) Sie wurde zusammen mit einer Dienerin, einem Kind und einem Wächter fürstlich bestattet.
Prof.: Ist das Phantasie oder Erinnerung?
Pat.: Das ist deutliche Erinnerung an Szenen einer Reise an die Ausgrabungsstätte von Kao in Peru. Das ist in der Nähe der Stadt Trujillo am Pazifik. Ich war als Dolmetscherin dabei.
Prof.: Wie realistisch ist die Erinnerung?
Pat.: Die Vergangenheit ist so real wie unser Gespräch jetzt – das ist ja das Problem.
Die seltsame reziproke Gedächtnisleistung des Gehirns zwingt uns, einige fundamentale Fragen zu stellen: Wo ist das Altgedächtnis gespeichert, wenn nicht im physischen Gehirn? Was ist Realität? Was ist Vergangenheit?
Kurz vor dem Jahr 1900 formulierte Frederic William Meyers, Mitbegründer der legendären Society for Psychical Research, diese Frage:
„Betrachten wir etwas als einen Strom von Konsequenzen, was in Wirklichkeit ein Ozean von koexistierenden Dingen ist?“
In Erinnerung an die geistige „Welt zwei“ von Sir Karl Popper und Sir John C. Eccles ist man geneigt anzunehmen, dass die Summe aller Bedeutungen, die Biografie, die Identität, in einer nicht materiellen, außerkörperlichen Dimension gespeichert ist. Mehr noch, man kann nun beginnen, qualitative Aussagen über diese Sphäre zu machen. „Dort“ gibt es weder Raum noch Zeit. „Dort“ existiert das Individuum nicht von anderen