Das Erbe. Helmut H. Schulz

Das Erbe - Helmut H. Schulz


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und Ermahnungen, neben trüben Prognosen und der Versicherung, der Sohn könne jederzeit zurückkehren, ein Schreiben über den Tisch. Der Brief ist an einen Regierungsbaurat Straßburger gerichtet, er wird in diesen Tagen abgehen. Mit Straßburger hat der alte Meister gelernt, der ist rasch was geworden, er wird dem Sohn des einstigen Lehrkollegen weiterhelfen, falls er kann. Er wird können, und er wird wollen. Bargeld bekommt der junge Mann nicht in die Hand, aber einen Scheck, der freilich nur im Ganzen eingelöst werden kann. Soviel Mißtrauen ist in dem Alten. Der Sohn war draußen, man sieht ihm die Veränderung an. Er ist ein verbummelter Student, ein Künstler, der Vater bewundert seinen Sohn, aber zwischen Vater und Sohn ist eine Mauer gewachsen. Beide fühlen, sie können nicht mehr weiter miteinander gehen.

      Von Mutter, und Schwester ist der Abschied schwerer. Und vor ihnen kann sich der junge Mann eher offenbaren, ihnen verspricht er goldene Berge. So hoch griff diese Bürgerschicht noch nie, jetzt wird Mutter und Schwester ein neues Bewußtsein durch den Sohn vermittelt: Mit Geld ist alles erreichbar. Wenn man ein Palais bezahlen kann, darf man es auch bewohnen, es gibt keinerlei Schranken mehr zwischen diesen gesellschaftlichen Schichten. Das leuchtet den Frauen nur zu rasch ein.

      Was ist aus dem Sohn und Bruder geworden; aus dem dummen Provinzler? Ein Gaukler, ein Lügner, ein Weltmann, der Geld ausgibt, ohne zu fragen, woher es kommt? Doch wohl nicht. Er will ja was, will was werden und will was sein, ist berauscht von seiner Jugend und von seiner Kraft.

      Mitten in der Nacht bricht er auf, jetzt, wo alles entschieden ist. Er entschließt sich zu laufen, zu fahren, wenn ihn jemand mitnimmt. Es ist nicht Geiz, der ihn treibt, Pilgramer ist nicht geizig, nicht von Natur aus, er würde Geld mit vollen Händen ausgeben, verspräche er sich einen Nutzen davon. Er will sich die Stadt ergehen, und er hofft, seine Unrast unterwegs durch neue Eindrücke zu dämpfen. Und er läßt sich plötzlich Zeit, macht oft Rast, liest in einem der Bücher, die er mitschleppt. Viel Gepäck besitzt er nicht. Was er später brauchen wird, kann er nachschicken lassen.

      Es wird Ernst. Was vor Tagen bloß Traum gewesen ist, muß jetzt modelliert werden.

      Ein Mann geht nach Berlin, rüstig und voller Hoffnung.

      Erstes Kapitel

       1

      Was Georg Pilgramer, der Enkel jenes Eroberers und Gründers, ohne den Unfall wahrscheinlich unterlassen hätte: Fremdes, nicht für ihn Bestimmtes zu lesen. Daß er es doch getan hatte, war aus Langeweile geschehen, als Folge einer ungeduldig ertragenen Genesung. Übrigens hatten weder Schelsky noch Lisa, schon gar nicht Koblenz oder sonst jemand, der dabei war, vor dem morschen Geländer im Treppenhaus gewarnt. Schelsky später: Pilgramer habe gerade Vortrag gehalten, die hundertjährigen Drechseleien an den Treppengeländern gelobt, da habe sich die Güte des Holzes als brüchig erwiesen. In Wahrheit hatte Pilgramer nicht über das Geländer gesprochen, sondern über die erhoffte Berufung in den Baustab der Semperoper. Städteplaner Schelsky glaubte jedoch nicht an den Wert der Semperoper. Er suchte Architekten für das Städtebauinstitut zu gewinnen und entwickelte Pläne für Satellitenstädte. Auch verlegte Schelsky künftige menschliche Behausungen in die Tangwälder der Meere, pries die Kühnheit der Architekten von morgen und gab sich überhaupt optimistisch. Lisa behauptete später, Pilgramer habe ihm geantwortet, Schelsky könne ja keine Stunde Autofahrt ohne Gleichgewichtsstörungen ertragen, also auch in keiner fliegenden Stadt wohnen. Etwa bei diesem Punkt des Gespräches hatte sich Pilgramer mit dem Rücken an das Geländer gelehnt, ein Zeichen von Weltfremdheit.

      Später fügte sich alles zu einer Kette zusammen: der Unfall, die erzwungene Ruhe und Unruhe, Zwang, sich zu entscheiden, das Bewußtsein, die Hälfte des Lebens ohne wirkliches Ereignis gelebt zu haben. Was Wunder, daß der Enkel Rat in den Dokumenten seiner Familie suchte, den Briefen und Hinterlassenschaften des Großvaters, eines berühmten Mannes, des Vaters, eines eher berüchtigten Akteurs - alles geriet dem Enkel zur Analyse, riß ihn genaugenommen in eine Karriere, die er nicht wollte und die auch rasch endete, weil er sie nicht gewollt hatte.

      «Geh diesem Rattenfänger nicht ins Netz.» Koblenz.

      Aber der hatte eigentlich keinen Grund Schelsky einen Rattenfänger zu nennen, suchte er doch selbst Pilgramer einzufangen. Den Wunschtraum des Architekten Pilgramer taten jedenfalls beide mit der gleichen Geste ab, Hirngespinste.

      «Eine Kirche bauen, ein Schloß, profan oder sakral; jedenfalls groß wie Michelangelo, wie Eosander», dabei blieb Pilgramer, freilich nicht ohne Ironie.

      Ab jetzt interessierte sich Lisa, eilige Journalistin, die ein paar Zeilen für den Lokalteil brauchte, mehr für den Mann als für den Denkmalschützer Pilgramer.

      «Warum reißen sich alle Leute um Sie, Herr Stadtarchitekt?»

      «Weil ich der Größte bin, ich erkläre es Ihnen morgen Abend, wenn ich Sie abhole.»

      «Wenn Sie was? Ich hab mich wohl verhört.»

      Und Schelsky: «Was heißt Stadtarchitekt? Kleiner Anfänger.»

      Es war nichts weiter als eine Frotzelei gewesen und der Anlaß einfach zu belanglos, drei Architekten zufällig auf einem Bau, nein, in einem alten Haus, das wiederhergestellt; werden sollte, und eine Journalistin, die zwanzig Zeilen für den Lokalteil suchte.

      Auch über das Wetter konnten sich Lisa, Schelsky, Koblenz , und Pilgramer später nicht einig werden. Nach Pilgramer soll es ein heiterer Tag gewesen sein. Vorfrühlingshaftes Wetter habe die Kinder auf den Spielplatz von Monbijou gelockt. Das Bad sei noch nicht geöffnet gewesen, an den Böschungen des Spreeufers Angler, in langsamer Fahrt Schubschiffe oder bloß Zillen in Richtung Weidendammer Brücke.

      Journalistin Lisa glaubte nicht, daß dieser Spreearm überhaupt befahren wurde. Pilgramer schlug vor, seine Behauptung nachzuprüfen. Die vier Schachspieler auf dem Platz Monbijou erwähnte Pilgramer ausdrücklich, das heißt, zwei Schachspieler rücken die Figuren, während die beiden anderen die Schlacht leiten, Feldherren ähnlich auf sicheren Hügeln das Offensivrisiko tragend.

      Koblenz, kurz vor dem Sturz Pilgramers: «Risiko? Aber jede Menge. So was kann ich dir bieten.»

      Der Sturz durch das Geländer auf die untere Treppe des Hauses in der Oranienburger Straße sah zuerst nicht schlimm aus. Pilgramer hatte sogar wieder auf den Beinen gestanden, noch ehe einer bei ihm war. Dann schwoll der Knöchel rasch an. Schelsky und auch Pilgramer hielten das für eine Verstauchung. Koblenz brachte ihn in die Unfallklinik. Schelsky fuhr mit, er fragte, ob Pilgramer Schmerzen habe. Pilgramer hatte Schmerzen, und er tat etwas Vernünftiges, er schnitt den Schuh auf; anders hätte er den Fuß nicht mehr aus dem Leder gebracht.

      Nach der Operation, das Bein im Galgen, war ihm klar geworden, daß ihm eine Bedenkzeit eingeräumt wurde. In Ruhe konnte er sich entscheiden: Semperoper, Institut oder Koblenz. Das letztere Angebot schied er sofort aus, ihm fehlten Grundlagen im Industriebau. (Koblenz war im Begriff, nach Theerberg zu gehen, um ein Kraftwerk zu errichten.) Ihm fehlten aber auch Grundlagen im Städtebau, das heißt in Theorie und Planung. Freilich war es das alte Lied bei ihm, er hätte jede Arbeit angenommen, erfüllte sie nur die eine Bedingung, seine Neugier zu reizen.

      Auch als er nach Hause geschickt wurde, wenig später, konnte er sich nicht entscheiden. So mochte Schelsky schon recht haben mit der Behauptung, Pilgramer sei ihm kurz nach der Operation sonderbar vorgekommen, launisch, empfindlich, in einer Krise steckend. Mit Familie habe sich Pilgramer umgeben, mit Schatten, mit dem alten Pilgramer, einem Greis, noch immer unheimlich lebendig, mit Fred Pilgramer, tot zwar, aber noch gegenwärtig.

      Lisa hatte einen guten Grund, den kranken Pilgramer zu besuchen, sozusagen halbamtlich, mit Blumen immerhin und enormen Frisörkosten.

      «Machen Sie das nicht gern, diesen Denkmalschutz?»

      «Ich verrate Ihnen was, Lisa, ich mach alles bis zu einem gewissen Grad gern, und solange ich es gern mache, bin ich auch gut.»

      «Dann sind Sie oberflächlich?»

      «Nein, ich bin mit Familie geschlagen. Es ist gar nicht so einfach zu erklären. Mein Großvater war mal ein großer Architekt,


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