Das Erbe. Helmut H. Schulz
Zweideutiges·anhaftet, weil der Zauber der Verführung zum Träumen vom Schein ausgeht. Wir existieren stärker in der Ferne zur Wirklichkeit als in dieser selbst, und wir sehen die Welt stets im Bild der Welt, unser Handeln ist durchherrscht von Bildern, notiert Lab.
Und mischt sich ein. 1902 sah der alte Herr Pilgramer so aus, wie ihn der Maler Lovis Corinth gesehen haben will? Pilgramer nahm das Bild an, wahrscheinlich gefiel ihm das Zwielichtige darin. Es entsprach seiner Neigung, sich zu verkleiden, hier spielte er den kalabresischen Briganten. Auf die Rückseite des Bildes schrieb er: P., aus Italien kommend.
Aus Italien kam Pilgramer nicht unmittelbar, weiß Lab. Zumindest war er vorher in Logau, beriet mit seinem Vater, was er tun sollte. Palazzi bauen wollte er, statt dessen baute er Wohnungen, wurde Bauherr, Bauleiter, Mieter, Vermieter, alles gegen seinen Willen. Gefragt war die Mietskaserne, nicht das Palais.
Lab, den Faden weiterspinnend, sieht, wie Pilgramer die Zigarre fortwirft, sich erhebt und in die Stadt hineingeht. Die Straße steigt leicht an,- der Lichtenberg ist noch so gut wie unbebaut -, senkt sich wieder ab. Pilgramer geht an Baustellen vorbei, die ihn unberührt lassen. Fuhrwerke rollen auf der breiten Straße, Pilgramer hätte auch von Westen oder Süden in die Stadt einziehen können, überall würde sich ihm ein ähnliches Bild geboten haben. Was weiter? Straßburger. Lab kennt den alten Straßburger nicht mehr, aber draußen in Mahlsdorf in der Villa, eine der Sünden Hubaleks, liegt ein Schriftwechsel zwischen dem alten Pilgramer und Straßburger, vergilbt und vergessen, nicht von Lab vergessen. Straßburger schreibt, Pilgramer möge bedenken, was er ihm verdanke, bittet um Hilfe, und Pilgramer antwortet förmlich: Bezug nehmend auf Ihr Schreiben vom, und er könne wenig tun, kämpfe selber mit Schwierigkeiten ... In einem anderen Brief an den Emigranten Hubalek: Sehe ich mich gezwungen, aufgrund Ihrer Handlungsweise die Beziehungen zwischen uns zu lösen ...
Pilgramer mag bis zum Alexanderplatz gekommen sein, denkt Lab, vielleicht wird er sich den Rest des Weges geschenkt haben, erkennend, daß die Straße, die er seit Stunden gegangen ist, ohne Unterbrechung ins Zentrum führt, eine wichtige Ausfallstraße, die wichtigste in Richtung Osten. Er nimmt eine Pferdedroschke oder ein Mietauto, falls es das 1902 schon gab, wahrscheinlich die Pferdedroschke. Der Kutscher mustert den Mann, der aussieht wie einer der wandernden Italiener mit ihren Gipsifigüri, den kleinen Statuetten aus Alabastergips, schönes und schlechtes Wetter anzeigend, weißer Kitsch. Die Kutsche rollt über den Alexanderplatz, die Königstraße, rollt über die Schloßbrücke, vorbei am Neptunbrunnen, damals direkt vor dem Schloß, schwenkt ein in die Friedrichstraße. Damit hätte Pilgramer gesehen, was Berlin an Architektur zu bieten hat, abgesehen von dem Rest Linden und dem Pariser Platz. Pilgramer ist auf den bevorstehenden Antrittsbesuch bei Straßburger eingestellt. Er entlohnt den Kutscher und steht vor dem Haus in der Oranienburger Straße, das ist Stadtkern, Alexanderplatz ist nicht weit, Monbijou. Neu sind die Häuser nicht, niedrig sind sie auch.
Es ist das gleiche Haus, in dem sich Lab vor ein paar Tagen den Knöchel brach, einen komplizierten Bruch zog er sich zu, er kann nicht gehen, nicht Auto fahren, nicht arbeiten, liegt zu Hause, das heißt, er liegt nicht mehr, er sitzt an seinem Arbeitstisch und blättert in einem Album. Ein Foto aus jenen Jahren findet sich, würde Lab keins gefunden haben, hätte er es sich gedacht, Straßburger in einem der Zimmer, Pilgramer am Tisch sitzend, und eine ältere Frau. Regale ziehen sich längs der Wände hin, vollgestopft mit Büchern, Papierrollen, Bauplänen wahrscheinlich. Wo an den Wänden ein freier Platz ist, hängt ein Ölbild oder ein Stich, gerahmt, bunt durcheinander, ein Porträt von Liebermann, daneben eine Aquatinta nach Canaletto. In der Mitte des Raumes, an das hohe schmale Fenster gerückt, der Schreibtisch, eine lange Holzplatte, auf zwei Böcke gelegt, dient als Ablage für Zeichnungen, der Fußboden Parkett.
Lab denkt, es wird so gewesen sein, Pilgramer läutet, die Frau auf dem Bild, eine Schlampe mit wabbligem Busen, steht in der Tür, fragt wer Pilgramer sei, was er wünsche. Pilgramer wird gesagt haben, wer er ist, und in das Zimmer geführt worden sein, in dem später die Aufnahme gemacht wurde.
Komm Se man, sagt das Weib, Se wer’n schon erwartet. Sie schlurft voran durch winklige, kurze Korridore, gefolgt von dem schüchternen jungen Pilgramer, stößt eine Tür auf, schiebt den Gast hinein. Det issa, Herr Rat.
Is jut. Straßburger wird das Zimmer beherrscht haben, Straßburger, vielleicht fünfzig, vielleicht älter, trägt eine schwarze Hose, über dem Bauch offen, schwarze Lackschuhe, als wolle er zu einem Ball, aber er trägt keinen Frack, sondern nur ein Hemd und darüber eine kurze Hausjacke aus dunkelgrünem Samt. Straßburgers Augen hinter dem zitternden Pincenez an langer dünner Schnur sind wässrig, die Lider zucken vor Übermüdung. Lidsäcke hängen unter den Augen, schlaff sind die Wangen von Krankheit oder Genuß, blau geädert die Hände, gealtert, Sklerose verratend.
Er habe Pilgramer früher erwartet, sagt Straßburger, mit raschem Blick die Gestalt vor sich erfassend, das Aufgeblasene, Lächerliche, das also ist Pilgramer, Maurer gelernt im väterlichen Betrieb, solider Betrieb, Handwerk, Gewerbeschule hinter sich, in München studiert. So etwa, an Kindern und Enkeln soll sich erfüllen, was einem selber versagt blieb. Und ganz zum Schluß ermöglichte der Alte dem Sohn ein Jahr Italien, etwas verspätete Italomanie, Italien ist längst vorbei, aber Logau ist schließlich Provinz. Da kommt alles ein halbes oder ein ganzes Jahrhundert später an.
Der Vater Pilgramers, sagt Straßburger, habe geschrieben, den ehemaligen Kollegen um Hilfe für den Sohn ersucht. Wo hat er den Brief? Straßburger sucht auf dem Tisch herum, findet den Brief nicht, gibt das Suchen auf und lächelt, da sei Pilgramer, was hat er vor?
Pilgramer, verwundert vielleicht über das Rastlose, die Hast, wie er meint, verärgert über den gleichgültigen Empfang, er kommt von einer Bildungsreise immerhin, hätte gegebenenfalls viel zu erzählen, wenn er nur gefragt würde, nimmt den Hut herunter. Was Straßburger rate? Wo und wie beginnen?
Straßburger wird nicht sofort geantwortet haben angesichts dieser Einfalt, er hat ja nicht auf Pilgramer gewartet, er hat ihn erwartet, vielleicht auch gehofft, er käme nicht, aber da steht er und fragt direkt, was er tun soll. Straßburger nötigt also den jungen Menschen, Cape und Tasche abzulegen, sich zu setzen, zwei Stühle sind da, unbequeme Stühle, die auffordern sich kurz zu fassen.
Ob Pilgramer Phantasie habe, fragt Straßburger rasch, ob er sich vorstellen könne, wie es aussähe, wenn täglich zweitausend Menschen kämen, täglich, ein dauernder, ununterbrochener Zuzug aus den Provinzen. Da säßen sie auf ihren Körben und Kisten, mit Sack und Pack gekommen, das letzte Geld für die Fahrkarte ausgegeben, auf irgendein vages Versprechen hin gekommen, einem Schlepper in die Hände gefallen. Gott wisse, wo diese Menschen alle bleiben. Eine Ware, eine ausgebreitete Haut, auf der Parasiten nisteten. Jetzt zum Beispiel stecke man in der Baukrise, allgemein in der Krise, im Grunde genommen stecke man überhaupt in einer ausweglosen Lage. Diese Leute würden das Faß einmal zum Überlaufen bringen, Rekruten für die Bebelpartei. Wenn man ihnen helfen und sich selbst helfen wolle, müsse man schnell billige Wohnungen bauen. Selbst die Bürokratie sehe in diesem Fall durch die Finger. Das etwa die Richtung, in der sich ein junger Mann zu entwickeln habe, solle etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt werden.
Lab denkt, Pilgramer wird den Rat beobachtet haben, in dessen Gestalt etwas Bewegung gekommen ist, Teilnahme, und dann mag Pilgramer seine Tasche geöffnet haben, mag die Früchte seines Italienaufenthalts ausgebreitet haben, mit spitzer Feder ausgeführte Zeichnungen berühmter Bauwerke, nach der Natur angefertigt oder nach Stichen kopiert. Kuppelhallen, Säulen, Arkaden, Höfe, Springbrunnen, nicht zu vergessen die Zypressen. Schön wird Straßburger geantwortet haben, sehr schön, nicht ohne Ironie über die Gutgläubigkeit und Unwissenheit; Palazzi solle er ja aber nicht bauen, woher die Mäzene nehmen? Man gebe uns Mäzene, wolle man Vergile haben. Das sei von Martial. Pilgramer hat sicherlich viel gelernt, wenig Brauchbares, wie man überhaupt wenig Brauchbares außerhalb der Praxis lernen kann. Aber Straßburger schlug vielleicht vor: Jetzt frühstücken Sie mit mir.
Beim Frühstück, bei weichen Eiern und weichen Semmeln, Mokka, Sahne, Konfitüre, Honig - gegessen wurde wahrscheinlich in der Küche, jenem dunklen, zum Lichtschacht liegenden Raum, das schlampige Weib mag sie bedient oder mit am Tisch gesessen haben -, hat sich das Gespräch den praktischen Fragen zugewendet.
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