Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea
öffnete sich das Tor zur Freiheit, d.h. zur Ankunftshalle. Dort starrte eine Menge erwartungsvoller Gesichter Sven an, ohne dass er zunächst den Vertreter seiner Firma, Herrn Jim Shaw, erkennen konnte. Sie hatten zwar bereits miteinander korrespondiert und sich auch gegenseitig am Telefon mit auffallenden Merkmalen beschrieben; aber trotzdem blieb der als groß und kräftig mit schwarzem Schnurrbart und randloser Brille gekennzeichnete Mann zunächst zwischen den dicht gedrängt stehenden Frauen, Männern und Kindern aller Hautfarben und Rassen verborgen. Endlich zeigte ein Schild mit der Aufschrift „Sven Fahrenholz“ den Gesuchten. Um dem Gedränge zu entgehen, hatte er sich etwas abseits gestellt und damit Raum für die erste, noch etwas förmlich ausfallende Begegnung gelassen.
„Hallo Herr Shaw! Entschuldigen Sie die Verspätung.“ Die Antwort, begleitet von einem freundlichen Grinsen eines selbst von der Brille nicht zu verdeckenden, dunklen, alles erfassenden Augenpaares, kam prompt. „Prima, dass Sie da sind! Ich bin noch nicht lange hier, da ich die Warterei am Zoll kenne und meine Besucher mit entsprechender Verzögerung erwarte. Kommen Sie mit zum Ausgang. Ich muss Sie leider dort noch einmal um etwas Geduld bitten, um mein Auto vom Parkhaus zu holen.“ Herr Shaw verschwand wieder und verhalf Sven zu einer kleinen Nachdenkpause.
Wie sollte er seinen neuen Partner einstufen? Da gab es noch nicht viel, aber vom Aussehen her bereits ein völlig anderes Erscheinungsbild als das eines Geschäftsmannes zu Hause in Deutschland. Jeans und dunkelgraue Jacke, darunter ein hellblaues, offenes Hemd, bedeckten einen vollschlanken, agil sich bewegenden Körper und ließen auf eine unbekümmerte Lässigkeit deuten, obgleich dieses hier nichts Besonderes zu sein schien. Der Gesichts- ausdruck dagegen zeigte Selbstbewusstsein, unterstrichen durch ein rundes Kinn, das durch die darüber hinausragenden, länglich nach unten gezogenen Backen umrahmt war und dadurch die von der Augenpartie ausgehende Autorität abmilderte.
Als Herr Shaw seinen Gast sicher im Auto verstaut hatte, einigten sich beide nach amerikanischer Gepflogenheit erst einmal auf die Anrede mit ihren Vornamen. Sven, dem eine Ähnlichkeit mit einem irischen Freund auffiel, musste danach gleich fragen: „Darf ich raten? Kommen deine Vorfahren aus Irland?“ Jim lachte und antwortete: „Du hast recht. Aber das ist eine längere Geschichte, die ich dir besser beim Bier erzählen werde. Das Hotel Constellation, zu dem ich dich bringe, befindet sich nicht weit von hier an der Dixon Road. Du erfrischt dich in deinem Zimmer und ich warte mit dem Willkommensschluck in der Bar neben dem Eingang.
Wenn auch etwas müde von der Reise, nahm Sven den Vorschlag gerne an, nicht zuletzt auch deshalb, um seine durch die Warterei am Flughafen strapazierten Nerven wieder zu beruhigen. Am späten Nachmittag (die Flüge aus Europa kamen zwischen drei und vier Uhr an) war die Bar noch weitgehend leer und Jim wartete an einem gemütlichen Tisch in der hinteren Ecke im Anschluss an die Theke. Trotzdem entdeckte ihn Sven dieses Mal sofort. Sie bestellten das angekündigte Bier und hatten mit der Frage nach Jims irischer Herkunft auch gleich einen interessanten, dem langweiligen Geschäftsgerede entgehenden Gesprächsstoff. Jim erklärte dem Neugierigen: „ Mit deinem irischen Freund bin ich bestimmt nicht verwandt. Du musst aber wissen, dass in Nordamerika, d.h. USA und Kanada, mehr Iren leben als in Irland, wir damit zusammen mit den Schotten und den Franzosen in Quebec die eigentlichen Ureinwohner dieses Landes sind. Verglichen mit Torontos Bevölkerungsmehrheit, die hauptsächlich aus Indien, Pakistan und neuerdings auch aus China zu kommen scheint, hast Du deshalb Glück, einem Einheimischen zu begegnen.“ „Was ist mit den Indianern?“ wollte Sven wissen. Jim konterte mit der rhetorischen Frage: „Siehst Du hier Indianer? Natürlich nicht! Du findest sie als unbedeutende Minderheit nur noch in den Reservaten im Norden des Landes. Besser ist, du sprichst englisch mit einem irischen oder schottischen, d.h. gälischen Akzent, um als Kanadier anerkannt zu werden.“ Sven fand diese Erklärung zwar patriotisch übertrieben, war andererseits aber froh, dass er jemand gefunden hatte, mit dem er sicherlich gut auskommen würde.
Am nächsten Morgen brachte Jim seinen neuen Kollegen zunächst in sein Büro, das sie nach kurzer Fahrt in der Belfield Road erreichten. Das dreistöckige Verwaltungsgebäude besaß kein besonderes Merkmal, sondern stand quasi als Standard vor einer der zahllosen Fabrikations- und Lagerhallen des hier alles beherrschenden Industrieparkes. Sven entdeckte am Eingang das Namensschild seiner Firma zusammen mit einer Reihe von anderen. Jim erklärte ihm diesen Umstand damit, dass er zusammen mit Vertretern anderer Firmen einer Bürogemeinschaft mit gemeinsamer Servicezentrale angehöre. Auch sei die Nähe zum Flughafen für die meisten seiner Besucher günstig, da sie ihn ohne langwierige Fahrt in die Stadt schnell und bequem selbst bei einem Zwischenstop erreichen könnten. Sein eigner Raum war geräumig und besaß einen zweiten Schreibtisch, den Sven erhielt.
Trotz der eintönigen, etwas bedrückend wirkenden Nüchternheit dieses Umfeldes waren alle Voraussetzungen für eine sachliche, effiziente Tätigkeit vorhanden. Eine praxisbezogene, emotionslose Vorgehensweise kommt hierdurch zum Ausdruck, die von Europäern oft als oberflächlich abgetan wird , aber mit den einfachen, zweckbetonten Vorgaben weniger einengt und einen großen Freiraum für eine individuelle Ausgestaltung und Entwicklung.lässt. Sven besaß die für dieses Neuland notwendige Basisausrüstung samt einem unvorein- genommenen, hilfreichen Berater.
1.3
Die Stadt Toronto blieb Sven zunächst völlig verschlossen, da Jim ihn auf dem Weg zur Arbeit morgens im Hotel abholte und abends nach dort zurückbrachte. Tagsüber beschäftigten ihn die verschiedenen Instruktionen, Erklärungen und neuartigen Aufgaben, die er von Jim erhielt, so sehr, dass er am Feierabend mit einem kleinen Abstecher ins benachbarte Restaurant begnügte und sich anschließend auf sein Zimmer zurückzog. Der Schock der ungewohnten amerikanischen Geschäftsgepflogenheiten überraschte ihn erst am Wochenende. In Hamburg hätte er seinen neuen Geschäftspartner stolz zu einer Stadtbesichtigung eingeladen. Hier dagegen verabschiedete sich Jim, wie nicht anders gewohnt, am Freitagabend mit den knappen, aber deutlichen Worten: „Ich hole dich am Montag zur gewohnten Zeit wieder ab.“
Das Industriegebiet von Mississauga, aus dem der Flughafen mit den ihn umgebenden Hotels inselartig herausragte, glich am Samstagsmorgen einer trostlosen, verlassenen Wüste, bestehend aus einer unübersehbaren Anzahl gleichmäßig geformter Fabrik- und Lagerhallen. Selbst das Hotel schien verlassen zu sein, da seine Gäste, hauptsächlich zugereiste Geschäfts- leute, das Wochenende, genau wie Jim, bei ihrer Familie zu Hause verbrachten. Sven blieb keine andere Wahl, als mit dem Hotelbus zum Flughafen zu fahren. Dort kaufte er sich im Bookstore einen Krimi und verkroch sich damit missmutig auf sein Zimmer.
Am Montagmorgen beschwerte sich Sven schon während ihrer Fahrt zum Büro bei seinem Kollegen im anklagenden Tonfall: „Wenn Toronto außer dem vornehmen Hotelkasten nichts zu bieten hat, verschwinde ich bald wieder.“ Zum Glück ließ sich Jim nicht provozieren, sondern sah seinen Beifahrer nur mit einem fragenden Blick über die Brille hinweg kurz an,bevor er mit ruhiger Stimme gelassen antwortete: „Toronto ist groß, Kanada noch größer. Um dir darin etwas zu bieten, müssen wir dich auf Räder stellen, ohne die du hier weder aus- noch weiterkommst. Du besorgst bei Wegener das Geld und ich hier einen günstigen Gebrauchtwagen, den ich auf den Namen der Firma zulasse.“ Sie verwirklichten ihren Plan bereits im Laufe der Woche mit dem Kauf eines der hier üblichen und daher preisgünstigen amerikanischen Straßenkreuzer, dessen lange Motorhaube mit solider Stoßstange und lastwagenähnlichen Rädern diesen Ungetümen eine panzerartige Sicherheit verlieh. Den
zusätzlichen Aufwand der Firma glichen sie dadurch aus, dass sie Sven mit der Hilfe von Jims Freunden eine günstige Wohnung in Bolton, einem nördlich von Toronto gelegenen Vorort, besorgten.
Sven kaufte sich einen Lageplan von der nördlichen Umgebung Torontos, packte seine Sachen im Hotel zusammen und fuhr am darauffolgenden Wochenende, jetzt eigenständig, bis zum Ende des Highway 427 und anschließend auf dem Highway 50 North. Hier begleiteten ihn zu beiden Seiten der Straße nur noch gelegentlich einzelne Häuser und Farmen, sodass er mit zunehmender Entfernung langsam unsicher wurde. Er parkte bei einer einsamen, an einer Kreuzung gelegenen Tankstelle und stellte mit Hilfe seines Planes fest, dass er in die gegenüberliegende Abzweigung, der Countryside Drive, zu seiner neuen Wohnungsadresse abbiegen musste. Jim hatte recht. Ohne Auto war Kanada nicht zu erobern.
Das