Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea

Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea


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im Umgang mit den Kunden machten ihn zu einem allseits beliebten und in der Branche bekannten Verkäufer. Die Firma Wegener übergab ihm daraufhin schließlich die Werksvertretung für Nordamerika, eine Tätigkeit, die ihm zu einem stetig wachsenden Erfolg verhalf.

      Hatte Sven am Anfang noch gedacht, dass er der aus Europa kommende unstete Wanderer sei, so musste er bald erkennen, dass Jim als Einheimischer mit den hier erforderlichen häufigen Kundenbesuchen derjenige war, den er wegen der ständigen Geschäftsreisen nur selten im Büro antraf. Sven dagegen stand eine andere Aufgabe bevor, nämlich der Aufbau einer Fabrik in Bancroft, einem kleinen Provinzstädtchen, südöstlich vom Algonquin Provincial Park, und somit in der Abgeschiedenheit der kanadischen Weite gelegen. Hier galt es nicht, Jims geschäftlichen Erfolge bei international anerkannten amerikanischen Großkonzernen nachzueifern, sondern er musste dessen kanadische Verhaltensweisen erforschen, um sich damit auf die Zusammenarbeit mit den als besonders eigensinnig geltenden Bewohnern des Nordens vorzubereiten. Zwar blickte Sven von der Terrasse seiner Wohnung auf eine ihm vertraute Ebene. Bei näherer Betrachtung stellte sie sich jedoch irgendwie fremd und andersartig dar. Die ihm zugewiesene Aufgabe verlangte, diese Eigendynamik der neuen Umgebung zu erkennen, um sie danach mit den europäischen Gewohnheiten von sich und seinen deutschen Monteuren so abzugleichen, dass sich beide Seiten in einem unvoreingenommenen Freiraum treffen konnten und dadurch ihre jeweiligen, aufeinander abgestimmten Vorteile voll zur Geltung kamen.

      Auf die Landschaft schienen die Menschen hier wenig Rücksicht zu nehmen, weil ein Groß-teil sich aus Einwanderern oder deren Kinder zusammensetzte, die im gegenseitigen Konkurrenzkampf nur ihre ökonomischen Erfolge zur Geltung bringen wollten. Im Gegensatz zu einer alteingesessenen Bevölkerung mit einem umfassenden Verantwortungsbewusstsein zur Bewahrung ihres Lebensraumes, und dem damit verbundenen traditionellen Verhalten, wie in Deutschland, fehlte hier diese Sichtweise. Gleichzeitig ermöglichte diese Tatsache Sven als Neuankömmling einen zunächst einfacheren Einstieg im Umgang mit seinen Mitmenschen, bei dem er sich erst einmal mit den allgemeinen, auch bei ihm zu Hause gültigen und deshalb leicht erlernbaren Äußerlichkeiten anglich und einlebte. Jim erwies sich bei dieser Aufgabe, trotz seiner andersartigen beruflichen Ausrichtung, als guter Lehrer und Freund. Er glich seine häufige Abwesenheit im Büro dadurch aus, indem er Sven zu Besuchen bei seinen Freunden mitnahm und ihn an seinen Freizeitaktivitäten beteiligte.

      Das besondere Klima Torontos beschert nur einen kurzen Frühling, dem bald darauf Anfang Juni ein heißer Sommer folgt. Da Sven gerade zu dieser Zeit angekommen war, begeisterte ihn Jim mit einem überraschenden Vorschlag.. Etwas unscheinbar fragte er: „Du bist doch aus Hamburg; kannst du dann auch segeln?“ Vorsichtig antwortete Jim: „Das kommt darauf an, was du damit meinst. Zusammen mit meinen Arbeitskollegen habe ich bei einer Segelschule einen Grundkurs gemacht, damit wir uns mit gemieteten Segeljollen auf der Alster, einem kleinen Binnensee in der Stadtmitte von Hamburg nach Feierabend einen sportlichen Ausgleich schafften.“ „Das sollte erst einmal reichen! Hast du Lust am kommenden Samstag mit mir auf mein Boot zu kommen?“ Sven strahlte: „Natürlich bin ich dabei. Sag mir nur wo und wann.“„Wie du weißt, wohne ich in Brampton. Auf der Fahrt zur Innenstadt komme ich um neun Uhr bei dir vorbei und nehme dich mit. Das Boot liegt auf den Toronto Islands und so können wir bei unserem Ausflug Toronto vom Wasser aus besichtigen.“

      Bei seinem ersten Besuch der Innenstadt war Sven der Yonge Street nach Süden folgend bereits einmal so neugierig gewesen, dass er sich durch den Tunnel unter den Gleisen beim Hauptbahnhof „Union Station“ hindurch gewagt hatte, um anschließend zwischen den Hochhäusern von Harbour Front bei den Island Ferry Docks einen wenig spektakulären Blick auf das Wasser und die dort vorgelagerten Toronto Islands zu erhaschen. Dieses Mal fuhr Jim mit ihm, nicht wie er erwartet hatte, zu den Fähren, die das allgemeine Publikum von den Island Ferry Docks zu den Parkanlagen der Inseln brachten, sondern zu einer kleinen Bucht am östlichen Ende des Queens Quay. Hier lag lediglich ein älteres, unscheinbares, kleines Barkassenboot, in das die beiden nach freundlicher Begrüßung des Bootsführers einstiegen. Sven sah Jim etwas erstaunt an und erhielt folgende Erklärung: „Dies ist eine spezielle Fähre des Royal Canadian Yacht Clubs, bekannt als RCYC. Sie bringt uns zum Clubhaus auf eine dem South Island vorgelagerte Privatinsel.“

      Während der Überfahrt fügte er hinzu: „Ich bin lediglich ein Stammgast dieses traditions-reichen, exklusiven und wohl bekanntesten Segelclubs von Toronto. Mein früherer Chef ist Mitglied und der Eigentümer des Bootes. Wir segelten oft gemeinsam. Aus Alters- und Zeitgründen erscheint er aber nur noch bei gesellschaftlichen Anlässen im Clubhaus und überlässt mir das Segeln und die Wartung des Bootes.“ Ein schalkhaftes Grinsen begleitete den Zusatz. „Nicht das Eigentum ist wichtig, sondern die kostenlose Benutzung.“ Als sie beim Boot, einem schnittigen Kabinenkreuzer, ankamen, musste Sven seinem Freund neidisch recht geben.

      Mit den verschiedenen Winschen ausgerüstet, verlief das Auftakeln sogar einfacher und leichter als bei den Jollen auf der Alster und bald kreuzten sie bei mäßigem Westwind auf dem Inner Harbour zwischen den Inseln und dem Innenstadtufer. Die Skyline mit dem Skydome, dem neuen Stadium, dem Fernsehturm und dem sich nach Osten anschließenden Hochhäusern des Bankenviertels sowie der davor nur noch klein wirkenden, aber immer noch imposanten Fassade des Royal York Hotels, dem ehemaligen höchsten Gebäude der Innenstadt, präsentierte sich in ganzer Größe.Voller Stolz rief Jim am Steuerrad: „Dies ist meine Art der Stadtrundfahrt, die wir gleich beenden, wenn wir mit halbem Wind durch den Eastern Channel auf den offenen See hinausfahren.“ Dort angekommen, durfte Sven bei den dort vorhandenen unbegrenzten Platzverhältnissen das Ruder übernehmen und zeigen, dass seine Kenntnisse ausreichten, um ein Boot dieser Größe mit voller Besegelung sicher zu manövrieren . Der Ausflug entwickelte sich so zu einem Erlebnis, bei dem sich beide Teilnehmer während ihrer gemeinsamen, vergnüglichen Beschäftigung näher kennen lernten und dieses, von einer besonderen Umgebung umrahmt, als prägender Eindruck dauerhaft in ihrer Erinnerung verankert blieb.

      Nachdem Sven und Jim das Boot am Nachmittag sicher an seinen Liegeplatz zurückgebracht und abgetakelt hatten, lud Jim zu einem Drink an der Bar des Clubhauses ein. Der ursprüng- lichen, alten englischen Tradition dieses Clubs entsprechend, befand sie sich in einem läng-lichen, mit dunkelbraunem Holz getäfelten Raum ohne Fenster und Tische, dafür aber beherrscht von einer langen Theke und der dahinter befindlichen alles überragenden Flaschenwand. Daraus holten drei Barkeeper ständig die verschiedensten Getränke heraus und servierten diese entweder direkt oder zu Cocktails gemixt den vor ihnen aufgereihten Gästen. Da um diese Zeit viele Boote zurückkamen, herrschte entlang der Theke ein großer Andrang. Eine bunte Schar, hauptsächlich Männer, stand dichtgedrängt in mehreren Reihen hintereinander. Sie berichteten von ihren Ausflügen und versuchten sich dabei lautstark mit ihren Segelkünsten und den dazugehörigen Fachausdrücken gegenseitig zu übertrumpfen.

      Schon bald entdeckte Jim eine Gruppe von Freunden, die ihn mit lautem Hallo begrüßten und die er als Ben, seinen Rechtsverdreher und Anwalt, Arne Erikson, den Inhaber einer Maschinenbaufirma und Max Weber als Kollegen und Vertreter der deutschen Firma Klöckner- Möller vorstellte. Typisch für Jim und wie von den anderen nicht anders erwartet, fügte er hinzu: „Sven hier wurde mir von meiner Firma zugeteilt, damit ich ihm die „Zivilisation“ beibringe, die er bei unseren „Lumberjacks“ ( Spitzname für die Land- bevölkerung im Norden und Westen Kanadas) auf seiner Baustelle benötigt.“ Alle lachten, da das momentane Training in dieser Umgebung eher das Gegenteil zu bewirken schien..

      Arne, mit dessen Boot er und seine Begleiter ebenfalls einen Ausflug gemacht hatten, ergänzte dann aber: „Vielleicht kann ich Sven eher helfen. Schließlich wohnen die meisten meiner Kunden auch in den einsamen Kleinstädten des Nordens und noch schlimmer in der endlosen Weite des Westens. Ich verbringe viel Zeit mit ihnen und bin daher fast ein Zwitter. Einerseits wuchs ich in Toronto auf, habe hier studiert und zähle „Großstadtpflanzen“ wie Ben zu meinen besten Freunden. Andererseits schätze ich aber auch die Großzügigkeit und die damit verbundene Freiheit, die die Individualität der Leute auf dem Lande ausmachen.“ Ben, der sich als Anwalt sofort angesprochen fühlte, erwiderte: „In Toronto gelten wenigstens allgemein anerkannte und festgelegte Gesetze, die ähnlich wie in London, Paris oder Hamburg unser Zusammenleben regeln. Je weiter man nach dem Norden kommt, desto weniger werden sie beachtet, dafür aber umso großzügiger nach dem jeweiligen Bedarf von „Dorfältesten“


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