Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea
fand, gelang dieses meiner Frau, die sich in ihrer alten Heimat eigentlich wieder gut einleben hätte sollen, immer weniger. Offensichtlich beachtete sie nicht genug die erforderliche Umstellung von der vorher gewohnten Freiheit und der damit verbundenen Großzügigkeit auf die bereits vergessene und jetzt als Abweisung verstandene, hier aber vollkommen normale, norddeutsche Zurückhaltung. Sie zeigte mir ihren Unmut mit ständig schlechter Laune, begleitet von häufigen Streitereien, die uns immer weiter entzweiten, bis ich schließlich die Scheidung einreichte, das Haus in Wedel wieder aufgab und ganz nach Bonn übersiedelte. Meine Frau blieb bei ihrer Mutter in Hamburg.“ Sven der bis dahin wieder schweigsam zugehört hatte, unterbrach an dieser Stelle erneut den Erzähler mit der Frage: „Sag mal, findest du nicht auch, dass wir bei unseren Auslandsaufenthalten ständig neuen Erfahrungen und Erlebnissen ausgesetzt sind, die uns mental so verändern, das wir an den von dir geschilderten Widrigkeiten nicht zerbrechen, sondern sie mit einer herausgebildeten, widerstandsfähigen Identität entsprechend ertragen und überwinden?“
Max drückte sich bei dieser Frage um eine klare Antwort, sondern sagte. „Neue Erfahrungen sind natürlich interessant, sollten uns aber nicht von den Erfolgsrezepten der Vergangenheit abbringen..“ Die von Sven angesprochene neue Identität, die im Wesentlichen aus einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit den aktuellen Herausforderungen und deren entsprechenden Verarbeitung bestand, blieb unerwähnt. Schade, dass sich Max selbst nach dieser außergewöhnlichen, extremen Belastung scheinbar kaum verändert hatte und damit seinen alten Rezepten treu blieb, obwohl er damit bereits schon einmal gescheitert war.
Wie schon vorher erkennbar, hatten sich zwei verschiedene Charaktere getroffen, die aber trotzdem als Landsleute und Geschäftspartner nach einer Verständigungsmöglichkeit suchten. Nachdem Sven am Ende ihrer Unterhaltung noch darüber berichtete, daß er für eine Weile nach Deutschland zurückkehre, bat ihn Max, einige Schriftstücke für seine Frau mitzunehmen und bei ihr in Hamburg abzugeben. Sven sagte zu und erhielt sich mit dieser kleinen Gefälligkeit das gewünschte, gute Einvernehmen.
2.2
Wieder zurück in Deutschland verbrachte Sven zunächst einige Tage damit, sich erneut auf die Sitten und Gebräuche seiner alten Heimat einzustellen. Er bewohnte ein Zimmer in einer kleinen Pension in Blochingen am Neckar, das ihm seine Firma angemietet hatte und erlebte seine Landsleute aus nächster Nähe und in großer Anzahl bei seiner täglichen S-Bahnfahrt nach Esslingen. Die meisten von ihnen unterhielten sich im schwäbischen Dialekt, dem er als Norddeutscher kaum folgen konnte. Trotzdem versuchte er intensiv zuzuhören, um die Verständigungsschwierigkeiten bei den Gesprächen mit den Kollegen in der Firma auf ein Minimum zu reduzieren.
Nachdem er diese Hürde einigermaßen überwunden hatte und als Baustellenleiter der Montageabteilung zugewiesen worden war, ergab sich sowohl mit dem zuständigen Chef als auch mit den dort arbeitenden Kollegen bald eine erträgliche Zusammenarbeit. Infolge ihres Aufenthaltes in verschiedenen Ländern, der Chef selbst ging jedes Jahr zur Bärenjagd nach Kanada, besaßen alle in dieser Abteilung Tätigen, einschließlich des Schreibpersonals mit den erforderlichen Fremdsprachenkenntnissen, eine umfangreiche Auslandserfahrung. Dementsprechend herrschte ein besonderes Betriebsklima, geprägt von eigenständigen Individuen, die zwar loyal zur Firma standen, gleichzeitig oft aber auch bei ihren Einsätzen im Ausland, auf sich allein gestellt, unabhängig handeln mussten, um am Ende ihrer jeweiligen Tätigkeiten den allseitig gewünschten Erfolg herbeizuführen.
Unter ihnen befand sich auch Peter Baumann, den sie den „Mexikaner“ nannten, weil er öfter für längere Perioden auf den Baustellen der Firma in Mexiko tätig war und schließlich sogar seine mexikanische Freundin geheiratet hatte. Momentan arbeitete er in Esslingen, da er für die Baustelle in Kanada zum Einsatz kommen sollte und als künftiger Kollege von Sven genau wie dieser von der dortigen Verzögerung betroffen wurde. Als ihr Chef sie miteinander bekannt machte, wäre Peter selbst ohne die offizielle Vorstellung bereits als „Don Pedro“, der Mexikaner aufgefallen. Sein Gesicht prägte ein großer, schwarzer Schnurrbart, der sogar die Oberlippe teilweise verdeckte und mit den dunklen, stark ausgeprägten Augenbrauen, allerdings ohne Berücksichtigung der unauffälligen, graublauen in die Breite gezogenen Augen, kaum einen Schwaben erkennen ließen. Den etwas völligen, kleinen Südländer verkörperte er ebenfalls nicht, sondern mehr einen schlanken Asketen, dessen Bewegungen fast etwas nervös und ungeduldig wirkten. Trotz der freundlichen Begrüßung registrierte Sven, dass er als nordischer Neuling zunächst mit misstrauischer Zurückhaltung betrachtet wurde, was ihn seinerseits zur verhaltenen Vorsicht veranlasste. Der mexikanische Aufzug seines Kollegen entsprach offensichtlich nicht dessen Mentalität, sondern bildete eine Art von Verkleidung, die er beachten musste, um nicht durch leichtsinnige Anspielungen, besonders durch die hier unbekannten „Hamburger Schnacks“, verletzend zu wirken.
Ihre Unterhaltung bezog sich nicht zuletzt deshalb erst einmal auf die rein geschäftlichen Angelegenheiten, bei denen Sven über seinen Besuch auf der Baustelle berichtete und dadurch seine berufliche Fachkenntnis zum Ausdruck brachte, die ihm die volle Unterstützung seiner Gesprächspartner zusicherte. Das positive Ergebnis drückte sich auch dadurch aus, dass sie ihn nach Dienstschluss zu einem Glas Wein, einem Viertele, wie sie es nannten, einluden, um sich beim Erzählen von persönlichen Erlebnissen besser kennen zu lernen. Peter nannte dazu eine bestimmte Uhrzeit am Abend, der die beiden anderen zustimmten.
Als er danach gegangen war, fügte Klaus Weinlein, der Chef, noch erklärend hinzu: „Peter steht gewissermaßen unter Hausarrest. Seine Frau hat als Mexikanerin ohne ausreichende Sprachkenntnisse hier nur wenige Freundinnen und wartet deshalb nach Feierabend auf ihren Mann, den wir, wenn überhaupt, aus diesem Grund kaum privat erleben.Der in dieser Gegend stark vertretenen spanischen Minderheit will sie sich nicht anschließen. Die Spanier kamen in großer Zahl zu Beginn der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts als Gastarbeiter zu Mercedes nach Zuffenhausen, sind in der zweiten Generation aber kaum noch Spanier und entsprechen sicher nicht dem Lebensstil von Isabella Martinez, Peters stolzer Mexikanerin.“ Sven wusste zunächst nicht, ob diese Aussage eine versteckte Kritik an Peters Verhalten zum Ausdruck brachte oder nur etwas ironisch , sogar mit etwas Neid durchsetzt, zu verstehen war. Momentan ließ er sich zu keinem Kommentar verleiten, sondern fragte nur: „Was soll erst passieren, wenn wir für längere Zeit unser Dasein in der Einsamkeit Kanadas verbringen müssen?“
Lachend erhielt er die Antwort: „Dann wird die Dame sicher auch dabei sein und damit euer Problem. Du musst vor Allem darauf achten, dass sie dir Peter nicht nach Mexiko entführt. Noch steht er mit dem Erfolg seiner Arbeit auf eigenen Füßen. Er wäre jedoch nicht der erste, den wir auf diese Art verlieren, weil die Frauen anderer Länder oft attraktiver erscheinen und dies, obwohl wir schon seit der Antike wissen, dass Sirenengesänge die griechischen Seefahrer ins Verderben gezogen haben.“ Für Sven war damit klar, dass Klaus Weinleins anfängliche Bemerkung zu Peters Verhalten weder ironisch gemeint war, noch dass er eifer- süchtig auf Peters hübsche Mexikanerin schielte. Er hatte lediglich seine Erfahrung zum Ausdruck gebracht, wobei Ausländerinnen mit ihrer andersartigen Erscheinung häufig die Monteure komplett in ihren Bann zogen. Sie verloren dadurch ihre Eigenständigkeit, die sie besonders auszeichnete und die sie sich bei ihren Familien und in der Firma oft mühsam erworben hatten. Erstaunlich, dass sie sich dieser neuen Abhängigkeit auslieferten, die zusätzlich meist noch ungewisse, dafür umso schillerndere Zukunftsaussichten begleiteten.
Trotz dieser Bedenken verlief das Treffen am Abend in ausgesprochen harmonischer Atmosphäre. Ihr Ziel, das Wirtshaus in der Altstadt von Esslingen, besaß gemütliche Sitzecken, die in einen nicht sehr großen, holzgetäfelten Raum eingebaut waren und deren Tische mit ihren dicken, hellgescheuerten Ahornplatten althergebrachte Tradition vermittelten. Klaus und Peter wurden von der Wirtin, einer untersetzten, älteren Dame, als alte Bekannte begrüßt. Ihr genügte Svens Wunsch nach Wein, um ihnen kurze Zeit später drei Gläser mit der von den beiden Stammgästen bevorzugten Weinsorte zu servieren.
Klaus seine Überlegung, Peters immer noch deutlich erkennbare Zurückhaltung durch die heimatliche Umgebung aufzulockern, zeigte langsam den gewünschten Erfolg. Obwohl er sicher viel von seinen jahrelangen Erlebnissen im Ausland hätte berichten können, erzählte Peter mit zunehmender