Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea

Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea


Скачать книгу
war Paul derjenige, der seinen Bruder beneidete; hatte er doch bisher in Bergedorf, trotz der Nähe zur Elbe in Altengamme und Geesthacht, noch keinen Gönner gefunden, der ihn auf einer Segeljacht mitgenommen hätte. Alle mussten sich schließlich eingestehen, dass jeder auf seine Art mit den Vor- und Nachteilen der von ihm gewählten Lebensweise auskommen musste. Die Erziehung der Eltern hatte bei dem großen Altersunterschied ihrer Kinder zwangsläufig zu deren entgegengesetzter Ausrichtung geführt, die nur mit Hilfe einer toleranten gegenseitigen Anerkennung auch in Zukunft ihrer familiäre Bindung einen dauerhaften Bestand als bedeutender Teil ihres Wesens ermöglichte.

      Sven sehnte sich nicht nach seiner Tätigkeit bei der Firma seines Vaters zurück, genoss aber gleichwohl das wiedererwachte Gefühl des Geborgenseins, das ihm das Zusammensein mit der Familie vermittelte. Er erinnerte sich daran, dass sie bei schwierigen Situationen stets die Köpfe zusammengesteckt hatten und so, ähnlich den Bewohnern einer belagerten Festung, die aussichtsreichsten Befreiungsschläge gemeinsam berieten und meist auch erfolgreich umsetzten.

      Gleich nach dem Abendessen bekundete Paul allerdings die beim Gleichklang ihres Verständnisses eingetretene Veränderung. Er stand auf und verkündete zur Überraschung der anderen: „ Entschuldigt mich bitte! Ich muss zu einer Vorstandssitzung des Gesangvereins, die ich leider nicht mehr absagen konnte.“ Dieser plötzliche Aufbruch verkürzte in jeder Hinsicht das Wiedersehen mit dem Bruder. Sven gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen und trotz des abgeänderten Programmes, bei den Eltern mit der Erzählung der Einzelheiten seiner kanadisch-schwäbischen Erlebnisse die maximal mögliche Anteilnahme zu erzeugen, damit ihre Kommentare mangels Kenntnis nicht nur Kritik sondern, wie früher, eine wertvolle Korrektur und Unterstützung seines Vorgehens auslösten.

      Am anderen Morgen schlief sich der Heimkehrer nach den Strapazen der Reise und im Wohlgefühl des lang vermissten, eigenen Bettes erst einmal aus und verpasste Vater und Bruder, die frühzeitig zur Arbeit fuhren. Die Mutter begrüßte ihn zum Frühstück und verwöhnte ihn mit frischen Brötchen und selbstgemachter Brombeermarmelade, einfache Leibspeisen, die ihm zusammen mit einer Tasse starkem, schwarzen Kaffee hervorragend schmeckten. Während ihrer Unterhaltung versuchte sie Svens gute Laune auszunutzen, indem sie Pauls plötzliches Verschwinden am Vorabend mit den Worten entschuldigte: „Du musst verstehen, dass Paul bei der Sparkasse am Schalter viele Kunden bedient, die ihn deshalb besonders schätzen, weil sie ihn auch privat kennen. Sein Chef aus Lüneburg besitzt nicht denselben Kontakt zu den Einheimischen und fördert deshalb Pauls Ehrgeiz, sich mit dem ihm entgegengebrachten Vertrauen als Anlagenberater zu qualifizieren. Besondere Kunden besucht er auch am Abend und vermehrt seine Beziehungen, indem er als ehrenamtlicher Kassenwart die Konten verschiedener Vereine betreut.“ Dieser ungewöhnliche Arbeitseifer und der bis dahin kaum in Erscheinung getretene Ehrgeiz seines Bruders ließen Sven vermuten, dass das „Goldstück“ mal wieder mit viel Rücksicht auf die Gefühle der Mutter den Anteil der Damen an seiner abendlichen Beschäftigung elegant verschwiegen hatte. Er baute damit seine Vorzugsstellung als „Lokalmatador“geschickt weiter aus. Sven blieb nichts anderes übrig, als den Schmeichler mit der ihm bei seinen Auslandsaufenthalten zugewachsenen größeren Toleranzbreite zu ertragen und sich damit den weiteren Zugang zum Elternhaus zu erhalten.

      Mit dieser Erkenntnis bewaffnet, überging er jetzt kommentarlos die Ausführungen der Mutter und fragte sie stattdessen: „So viel ich mich erinnere, ist heute Markttag. Wollen wir zusammen hingehen und Obst und Gemüse besorgen?“ Er hatte ein gutes Stichwort gewählt, bei dem sich ihr Gesicht sofort aufheiterte und sie, alles andere vergessend, sofort aufstand und antwortete: „Wir müssen uns beeilen, weil sonst die besten Sachen bereits ausverkauft sind. Ich ziehe mich nur schnell um und dann marschieren wir los.“

      Bald darauf gingen sie einträchtig oberhalb eines mit Büschen wilder Rosen und verschiedenen Sommerblumen bepflanzten Abhanges der Bille und des anschließenden Schwimmbades entlang und bogen am Ende nach links in die Marktstraße, die sich hinter dem Schlossgarten entlang zog. Der bunte Anblick der Stände mit ihren verschiedenen Auslagen, die hauptsächlich von dunkel gekleideten, beschürzten älteren Bäuerinnen aus den benachbarten Vierlanden angeboten wurden, gehört ein seiner Einmaligkeit zu Svens bleibendem Heimatbewusstsein. Ähnlich wirkte nur noch die Fassade des Fachwerkturms der alten Schlosskirche aus dem 17.Jahrhundert und dahinter, versteckt zwischen den Bäumen des Parks, das Schloss selbst, ein weniger bedeutender, finsterer, viereckiger Backsteinbau, der als Wasserschloss von einem dunkelgrauen, fast schwarzen Wassergraben umgeben war.

      Wieder zu Hause verschwand die Mutter in der Küche, um das eingekaufte Gemüse zu verstauen und ihnen ein leichtes Mittagessen zuzubereiten. Sven verzog sich ins Wohnzimmer, setzte sich in den braunen, vom Vater etwas abgewetzten Ohrensessel und probierte den neu, erstandenen Tabak, der ihm, wie versprochen, mit dem milden Aroma in seiner Lieblingspfeife sehr gut schmeckte. Der Nierentisch vor dem Sofa und die alles beherrschende, eichene Schrankwand auf der gegenüberliegenden Seite entsprachen zwar nicht seinem Geschmack, ließen aber alte Jugenderinnerungen aufkommen, die er jetzt ungestört überdenken konnte.

      Je länger er überlegte, desto mehr musste er sich eingestehen, dass er nicht mehr hierher gehörte und seine Erfahrungen der letzten Zeit nicht zu diesem althergebrachten Umfeld passten. Ihn störten nicht nur die Möbel sondern auch die Denkweise der Bewohner. Selbst der enge Kontakt zur Mutter litt, weil sie mit der Verteidigungsrede für den Bruder ihre Verwurzelung in den festen Werten der Tradition bekundete, aber Svens in der Fremde geschultem Blick auf die Wirklichkeit nicht stand hielt. Ihm blieb ein Erholungsurlaub, den er als Abschied von der andersartigen Vergangenheit so angenehm wie möglich verbringen wollte.

      2.4

      Das Durchblättern seiner Reiseunterlagen brachte Sven unverhofft eine Wende seiner traurigen Abschiedsstimmung. Er fand den Umschlag , den Max Weber ihm bei seinem Treffen in Toronto zum Überbringen an seine Frau mitgegeben hatte. Er rief die angegebene Telefonnummer an und hörte eine Frauenstimme, die sich mit Niehaus meldete. Er fragte nach Frau Weber, worauf sie antwortete: „Frau Weber ist meine Tochter, die gerade Besorgungen macht, aber bald zurück sein wird.“ Da er nicht wusste, wie sie bei der Erwähnung ihres Schwiegersohnes reagieren würde, versprach er ihr, sich später noch einmal zu melden.

      Beim zweiten Versuch merkte er bereits an dem verbindlichen Ton, daß er dieses Mal mit Frau Weber sprach. Guten Tag! Hier spricht Frau Weber. Was kann ich für sie tun?“ „Mein Name ist Sven Fahrenholz. Ich komme aus Kanada und besuche momentan meine Eltern, die in Bergedorf wohnen. Ihr Mann , den ich in Toronto traf, gab mir einen an sie gerichteten Umschlag, den ich ihnen bringen möchte.“ An ihrer knappen Antwort erkannte er seine heikle Mission. „Passt ihnen morgen Nachmittag? Wir wohnen Elbgaustraße 18, nicht weit von der S-Bahnstation entfernt.“ „ Ich werde gegen halb vier dort sein.“ „Vielen Dank. Wir erwarten sie. Bis Morgen“ „Auf Wiedersehen“. Dieses abrupte Endedes Gespräches verhieß bestenfalls den neutralen Empfang eines Postboten, wenn nicht gar die Ablehnung eines Abgesandten des abtrünnigen Mannes. Sven nahm sich vor, die Fahrt mit anderen Erledigungen in der Innenstadt zu verbinden und sich am Abend vor der Heimfahrt mit den Kollegen aus seiner früheren Firma auf ein Bier zu verabreden.

      Die S-Bahnstation Elbgaustraße erreichte er auf halber Strecke in Richtung Pinneberg. Der Fußweg von dort war, wie beschrieben, nur sehr kurz und führte auf dem Gehsteig der stark befahrenen Straße an unscheinbaren , grauen, vierstöckigen, älteren Mietshäusern vorbei, bis er zum Eingang mit der Nummer 18 kam. Nach seinem Läuten öffnete ihm eine große, schlank gewachsene Frau, musterte ihn zunächst mit einem kurzen, streng wirkenden Blick, der jedoch gleich darauf , während sie ihn ansprach von einer freundlichen Neugier abgelöst wurde.

      „Guten Tag! Sie sind sicher Herr Fahrenholz, mit dem ich gestern telefoniert habe. Kommen sie herein!“ Eingedenk seines Auftraggebers blieb Sven zunächst ernst und antwortete zurückhaltend: „Entschuldigen sie bitte die Störung, dass ich sie überfalle.“ Sie lachte und entgegnete: „Ein Bergedorfer aus Kanada besucht uns nicht häufig und erzählt uns sicher Neuigkeiten, die wir noch nicht kennen.“ Dabei führte sie ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn dort ihrer Mutter vor. Zusammen mit dem Mobiliar, der dunklen Polstergarnitur und dem Wandschrank, erinnerte


Скачать книгу