Der Ruf aus Kanada. Rudolf Obrea

Der Ruf aus Kanada - Rudolf Obrea


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wir uns dadurch verschafften, indem wir frühmorgens alle Schlösser der Schultüren zugegipst haben. Der Hausmeister konnte nicht raus und wir nicht rein. Wie immer, waren die Schuldigen bekannt und sollten sich freiwillig melden, wurden aber nie gefunden.“ Die beiden Übeltäter waren von diesem gelungenen Streich noch immer begeistert und fragten Sven nach dessen Jugendsünden, die dieser natürlich auch zu erzählen wusste und sich damit die entsprechende Anerkennung verschaffte. Obwohl sie heute mit unterschiedlichen Alltagserlebnissen konfrontiert waren, entstand auf diese Weise, ganz nebenbei und ungewollt, die Basis einer gemeinsamen Verständigung, die nicht nur ausbaufähig war, sondern auch ihre gegenseitige Unterstützung bei den Widrigkeiten der bevorstehenden kanadischen Herausforderung absicherte.

      2.3

      Die Verzögerung auf der kanadischen Baustelle erlaubten Sven am Ende seines Aufenthaltes bei der Firma Wegener in Esslingen noch einmal, wie geplant, für die Dauer seines Jahres- urlaubes zu seinen Eltern nach Hamburg zu fahren. Als der Zug bei der Einfahrt zum Hamburger Hauptbahnhof mit reduzierter Geschwindigkeit über die alte Brücke der Norderelbe fuhr und unser Heimkehrer zwischen den Eisenstreben der Brücke die Hafen-becken samt der dahinter aufragende Silhouette der Innenstadt mit den Türmen der Michels-,Nikolai- und Petrikirche sowie des Rathauses sah, merkte er, dass er trotz der aufregenden und zweifellos interessanten Ereignisse der letzten Zeit, noch immer ein besonderes Verhältnis zu dieser Stadt hatte. Vielleicht verursachte aber auch gerade dieser Blick im Vergleich mit der Fremde die unterbewusste Sehnsucht nach der alten Heimat. Er verstärkte auf alle Fälle seine freudige Erwartungshaltung auf das bevorstehende Wiedersehen mit den alten Freunden und Bekannten, im Besonderen zunächst mit den Eltern, die ihn in Bergedorf am Bahnhof abholen wollten.

      Als er sie auf dem Bahnsteig erkannte. auf sie zulief und herzlich begrüßt wurde, erwiderte er natürlich ihre Umarmungen. Gleichzeitig beschlich ihn das unbewusste Gefühl, im Gegensatz zur vertrauten Umgebung nicht mehr im alten Gleichklang mit ihnen zu sein. An ihrer äußeren Erscheinung konnte es kaum liegen. Der Vater kam gerade vom Büro und trug noch, wie gewohnt, seinen mausgrauen Anzug mit der dazu passenden, hellblauen Krawatte. Voller Stolz blickte er seinen Sohn mit den graublauen, ovalrunden, von einem blassen, hageren Gesicht eingerahmten Augen in prüfender Erwartung an.. Die Mutter dagegen strahlte voller Freude mit ihrem rundlichen Gesicht, den glitzernden braunen Augen und den leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln, die ihm als Zeichen uneingeschränkter Zuneigung vertraut waren. Ihr dunkelgrünes Kostüm mit der dazugehörigen weißen Bluse kleideten sie gut, zeigten aber gleichzeitig eine gewisse konservative Zurückhaltung, die wiederum zum Erscheinungsbild ihres Mannes passte.

      Sven musste sich eingestehen, dass im Gegensatz zu seiner früheren Rückkehr von Reisen nicht seine Eltern sondern er selbst durch die Erlebnisse und Eindrücke in Kanada eine neue Ausrichtung erfahren hatte, die er jedoch noch nicht genau definieren konnte und deshalb beim Besuch seiner Eltern noch als unbestimmtes Gefühl verbergen und zurückdrängen musste. Während ihrer Fahrt nach Hause interessierte sich der Vater in erster Linie für die Berufsaussichten seines Sohnes. Dieser erzählte von seinen Begegnungen in Esslingen, dem guten Verhältnis zu seinen neuen Kollegen und schloss mit dem Satz: „Die Schwaben sind ein besonderes Völkchen, aber auf ihre eigene zielstrebige Art auch sehr weltoffen. Durchaus risikofreudig, spüren sie überall die sich ergebenden Gelegenheiten auf und nutzen sie, um ihre oft eigenwilligen Vorstellungen beharrlich zum Erfolg zu führen.“´Der Vater, dem althergebrachten Beziehungsgeflecht der Hamburger Kaufleute verhaftet, schwieg zunächst und antwortete schließlich nachdenklich, ohne seinen Sohn dabei anzusehen: „Deine Beschreibung der spontanen, von der jeweils gegebenen Situation geprägten, unkonventionellen Vorgehensweise deines neuen Arbeitgebers passt zu dir. Ich merke deine Begeisterung, mit der du bei den gleichgesinnten Kollegen ein geeignetes Umfeld erkennst, um damit deine oft eigenwilligen Entscheidungen besser durchzusetzen .“Sven gab zu: „Du hast recht! Gerade das reizt mich, um mich so zu verwirklichen.“

      Die Mutter schwieg bei dieser Unterhaltung, weil sie nicht recht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits freute sie sich, dass ihrem Sohn die neue Stelle gefiel. Andererseits fühlte sie, dass dessen schon immer spürbares Eigenleben durch die Selbstbestimmung in der Fremde die altgewohnte Bindung an die Familie noch mehr ersetzte. Sie hatte damit eigentlich das allgemein anerkannte Ziel der elterlichen Erziehung erreicht. Trotzdem überkam sie dieses Eingeständnis zu plötzlich und verursachte ihr eine momentane Sprach- und Ratlosigkeit, die sie schließlich mit der ihr vertrauten, mütterlichen Fürsorge überwand, indem sie ihn ebenfalls prüfend anblickte und fragte: „Du bist schlank geworden. Bekommst du nicht genügend zu essen?“ Sven entgegnete lachend: „Doch, doch! Nur nicht mehr so regelmäßig und nicht immer so gut wie bei dir.“ Unwillkürlich löste diese kleine Randbemerkung die Spannung und als sie zu Hause ankamen, freuten sich wiederum alle und erwarteten voller Neugier auf die Erzählung ihrer jeweiligen Erlebnisse.

      Zum Essen komplettierte Svens Bruder Paul die Familie. Er kam von der Arbeit und begrüßte den Heimkehrer ohne die elterliche Erwartungshaltung, wie einen engen Verwandten, den er eine Weile nicht gesehen hatte. Sein durchaus aufgeschlossener Gesichtsausdruck war gleich- zeitig von einem skeptischen Blick seiner großen, braunen Augen begleitet, die er von der Mutter geerbt hatte. Obwohl beide Brüder dieselbe schlanke, hochgewachsene Statur besaßen und sich in der Art ihrer Bewegungen ähnelten, trennte sie ein beträchtlicher Altersunter- schied. Sven kannte Paul nur als den zehn Jahre Jüngeren, dem die Eltern alle Streiche erlaubten und den er trotz aller Proteste und Streitereien im Alleingang zu erziehen versuchte. Er unterlag jedoch ständig gegenüber der Mehrheit in der Familie und konnte nicht ver- hindern, daß sie sich mit zunehmendem Alter völlig unterschiedlich entwickelten und er schließlich zum Außenseiter abgestempelt wurde.

      Paul blieb der Heimat treu, wohnte zu Hause, ließ sich, wie von klein auf gewohnt, von der Mutter verwöhnen und beschränkte seinen Ehrgeiz auf die lokale Anerkennung, die er als junger Angestellter bei der Bergedorfer Kreissparkasse anstrebte. Seine umgängliche Art verschaffte ihm einen großen Freundeskreis und nicht zuletzt auch die Zuneigung vieler Frauen seines Alters , deren Bekanntschaft er zwar häufig wechselte, die ihn aber trotzdem verehrten und als soliden Bestandteil ihres gewohnten Umfeldes für einen aussichtsreichen Ehekandidaten hielten, den sie gerne erobern wollten.

      Den Außenseiter überkamen bei diesen Gedanken heimlich direkt so etwas wie Neidgefühle. Er merkte, dass er diese Geborgenheit und die damit verbundene Beständigkeit gegen die Hektik und Ungewissheit eines ruhelosen Einzelkämpfers eingetauscht hatte. Paul holte ihn in die Gegenwart zurück, indem er ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte und ausrief: „Willkommen zu Hause, du alter Ausreißer! Hat dich die Kälte wieder aus Kanada vertrieben?“ Erstaunt sah er den Bruder an und antwortete: „ Als ich Ende Juli Toronto verließ, erreichte die Sommerhitze des dortigen Kontinentalklimas gerade 35 Grad Celsius und dieses bei 90 % Luftfeuchte, beides dazu angetan, dich anstelle der Kälte schnell nach Hause zu schicken.“ Enttäuscht wollte Paul bereits aufgeben. Der verängstigte Blick der Eltern, die eine Neuausgabe der alten Streitereien zwischen den Brüdern befürchteten, veranlasste ihn jedoch, seine zweifellos limitierten Kenntnisse von Kanada noch einmal zu testen und etwas versöhnlicher nachzuhaken. „ Hast du auch schon den Vorteil der vielen kanadischen Seen genießen können?“ Svens Blick heiterte sich auf und er berichtete ihnen von seinem gelungenen Segelbootsausflug auf dem Ontariosee.

      „Stellt euch vor, ich hatte keine Ahnung von der Größe dieser Wasserfläche. Die Ausrüstung der Boote entspricht der Takelage derjenigen, die bei uns für Fahrten auf der Nord- und Ostsee benutzt werden. Mein Kollege Jim Shaw hatte mich nur für einen Tagesausflug mitge- nommen. Seine Bootsausrüstung eignete sich aber auch für einen Wochentörn, den dieses Binnenmeer mit Abstechern zu den verschiedensten Orten in USA ermöglicht. Jim prüfte meine Fähigkeiten und ich hatte Mühe, seinem großzügigen Angebot als Skipper gerecht zu werden. Arne Erikson, ein Bekannter von Jim, den ich an der Bar des Segelclubs kennen- lernte und der ein eigenes Boot besitzt, hat mich anlässlich eines Besuches bei ihm zu Hause auf einen Bootsausflug am Wochenende nach Buffalo im Staate New York und zu den dortigen Niagarafällen eingeladen. Ich freue mich bereits darauf, wenn wir den Plan nach meiner Rückkehr verwirklichen. Zusätzlich bedeuten für mich als Hamburger diese


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