Obsession. Piedro Vargas Koana

Obsession - Piedro Vargas Koana


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      weißt du, dass man ein Puzzle ganz unterschiedlich beschreiben kann? Das traditionelle Bild ist aus einzelnen, ineinander verzahnten Elementen zusammengesetzt. Diese Metapher trifft in unserem Fall nicht zu. Der passende Vergleich ist vielmehr ein Hologramm. So wie ein Hauch eines Dufts den ganzen Duft erspüren lässt, so ist in einem Teil eines Hologramms das gesamte Bild gespeichert. Brichst du eine kleine Ecke heraus, so ist dennoch das gesamte Bild zu sehen, aber etwas weniger klar, etwas weniger scharf, etwas weniger deutlich.

      Ich weiß allerdings nicht, wie das ganze Bild aussehen wird. Vielleicht wird es schön, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht falle ich dir jetzt schon auf die Nerven, vielleicht aber bist du offen und neugierig. Vielleicht bekomme ich irgendwann von dir einen Brief. Vielleicht ist er ganz positiv, und es entwickelt sich eine Brieffreundschaft. Vielleicht ist er total ablehnend, weil du meine Briefe als eine Einmischung in dein Leben ansiehst. Vielleicht werden wir so neugierig auf den anderen Menschen, dass wir uns an einem Ort unserer Leidenschaften treffen.

      Aus diesem Absatz kannst du einiges über meine Persönlichkeit ableiten. Zwei Punkte möchte ich ansprechen. Als Sternzeichen bin ich in der Waage geboren. Die beiden Waagschalen bedeuten bei mir, dass ich ein nachdenklicher, abwägender Mensch bin. Häufig denke ich sehr dialektisch und versuche, mir von den verschiedenen Seiten einer Angelegenheit in Bild zu machen.

      Als zweiten Punkt möchte ich erwähnen, dass ich Leidenschaften habe - oder besser: leidenschaftlich sein kann. Dazu gehören u.a. Die Lust am Squash spielen, die Freude an der Musik oder die Begeisterung für ein schönes Essen.

      Hast du Lust, mir zu schreiben, um mir deine Gedanken mitzuteilen und mir vielleicht die eine oder andere Frage zu beantworten? Wie stehst du zur Musik? Magst du Jazz? Liebst du die italienische Küche oder präferierst du die französische? Warum hast du soviel Selbstbewusstsein in deinem Blick? Wie verbringst du deine Freizeit? Hast du schon einmal Gedichte geschrieben? Was bedeutet für dich Leben?

      Ich möchte dich gern kennenlernen. Spielst du dieses Spiel mit mir? So, wie man ein Geschenk langsam auspackt. Man hat immer eine Ahnung über den Inhalt. Allein von der Form her leitet man Vermutungen ab. Ist die Verpackung klein und sehr edel, denken Frauen meistens immer an...- na? Schmuck! Hat sie die Form eines Buches, freut man sich vielleicht auf eine neue Entdeckung. Übrigens: Was liest du am liebsten?

      Natürlich zweifle ich. Ständig. Schließlich ist der Zweifel ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit. Die auch im Brief angesprochene Dialektik ist Ausdruck meines Wesens. Fragen stellen sich mir in den Weg. Ist es richtig, wie ich hier vorgehe? Einerseits finde ich den Brief dreist. Tatsächlich dringe ich in ihr Leben ein. Stalking. So macht man sich keine Freunde. Andererseits gilt: Im Zweifel handeln! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. No risk, no fun. Im Stil der Annäherung bin ich zwar direkt, bleibe aber höflich. Kann es gelingen? Soll ich mich meinen Zweifeln hingeben oder das Prinzip „Carpe Diem!“ beachten?

      Wie so oft stellte ich fest, dass ich eine gespaltene Persönlichkeit bin. Der Brasilianer möchte angreifen und spielen. Der Deutsche bremst ihn aus. Werde ich es je schaffen, beide Teile der Persönlichkeit miteinander zu verschmelzen? Ich spüre, dass dieser Weg über Anja führt. Meine Intuition sagt mir, dass sie es sein wird, die mich mit mir vereinen wird.

      Das sind meine letzten Gedanken, als ich vor dem Briefkasten an unserer Straßenecke stehe. Ich lasse den zweiten Brief hineingleiten.

      6

      Wieder einige Tage später. Meine Taktik ist, dass ich sie neugierig mache und mehr und mehr in mein Leben hineinschauen lasse. Dieses Mal werde ich ihr Namen und Adresse mitteilen. Das gibt ihr die Möglichkeit zur Reaktion. Ich habe ein wenig Angst. Die Gefahr besteht, dass sie die Tür zumacht – für immer. Eine zweite Chance wird es dann nicht geben. Ist der Schritt zu früh? Soll ich zunächst noch weitere anonyme Briefe schreiben? Ich entscheide mich für die Öffnung: Ihr Blick war so klar und selbstbewusst. Die hellen, blau strahlenden Augen wirkten so durchdringend, als ob sie die Tiefe des Universums ausloten konnten. Zwar stand ich damals beim Konzert doch zwei, drei Meter von ihr entfernt, und der Raum war auch nicht taghell erleuchtet, doch war das Strahlen ihrer Augen nicht zu übersehen: leuchtende Fixsterne, vielleicht Supernovae, die sogar bei Tag zu sehen sind.

      Liebe Anja,

      wie du siehst, stelle ich mich diesmal einem möglichen Dialog. Ich weiß, dass dir mein Name nichts sagt. Fragst du dich jetzt, woher wir uns kennen und ob wir uns überhaupt kennen? Welche Gedanken, welche Theorien hast du entwickelt? Hast du möglicherweise Angst? Bist du misstrauisch?

      Ich weiß selbst nicht so recht, warum ich mich auf dieses Spiel eingelassen habe und das Risiko eingegangen bin, mir einen Korb einzuhandeln. Aber es ist etwas in diesem Hauch deines Blickes gewesen, den ich nicht vergessen kann.

      Vielleicht täusche ich mich auch vollständig in dir. Jetzt kommt wieder mein dialektisches Denken zu Vorschein: Dafür spricht, dass... - Dagegen spricht, dass...

      Auf alle Fälle bin ich neugierig auf meine Menschenkenntnis. Habe ich in meinem bisherigen Leben soviel gelernt, dass ich aus wenigen Mosaiksteinen ein hinreichend zutreffendes Bild über einen Menschen ableiten kann? Ich meine es wirklich sehr selbstkritisch, es ist keinesfalls arrogant gemeint. Vielleicht geben dir meine Gedanken eine Idee über meine Tätigkeit/meinen Beruf?

      Ich kann mir gut vorstellen, dass unser mögliches Treffen nach diesem Muster abläuft: Wir verabreden uns z.B. bei einem deiner Lieblings-Italiener in Wiesbaden. Ich reserviere einen Tisch für zwei Personen und bin eine viertel Stunde vor der Zeit da, weil ich sehen möchte, wie du in das Lokal kommst. Du wirst mich an meinem Lächeln erkennen, und ich werde aufstehen und dir entgegenkommen.

      Noch viel lieber allerdings hätte ich es, wenn du aktiv in das Spiel eingreifst und selbst einige Regeln entwickelst. Auch hier habe ich das Vorurteil, dass du dies tun würdest (wenn du es überhaupt tust).

      Jetzt ist es an mir, zu warten. Wirst du reagieren oder nicht? Bist du vielleicht für einige Zeit im Urlaub? Vielleicht habe ich auch falsch recherchiert und du bist gar nicht der Mensch, den ich meine?

      Und damit habe ich einige weitere Puzzle-Steine aufgedeckt und zusammengefügt. Macht es dir Freude, das Bild weiter zu entwickeln?

      7

      Ich fühle mich gehetzt. Eine große Spannung droht mich zu zerreißen. Ich verfolge sie, und sie kann mir jetzt entkommen. Deshalb versuche ich schneller zu laufen, damit sie nicht absagen kann. Ängstlich öffne ich jeden Tag den Briefkasten. Wenn sie schreibt, dann wird es auf alle Fälle negativ sein. Also muss ich nachlegen, bevor sie meinem Vorhaben Einhalt gebietet.

      Liebe Anja,

      kennst du das Gefühl, dass du einen Gedanken hast, der dir in einem bestimmten Moment sehr wichtig ist? du hast den Eindruck, etwas sehr Bedeutendes gefunden zu haben. Der Gedanke wirkt groß und stark. Um ihn nicht zu verlieren, schreibst du dir ein Stichwort auf. Einige Tage später erinnerst du dich daran. Du kennst den Gedanken noch und schaust nach dem Stichwort, stellst aber fest, dass auf dem Zettel auch nicht mehr steht als du noch weißt. Und beim Nachdenken über diesen Gedanken spürst du, dass er irgendwie flüchtig geworden ist. Du hast immer noch eine Ahnung über die vorher gespürte Größe; aber er scheint nicht mehr so deutlich zu sein, du kannst ihn nicht mehr so richtig (be)greifen.

      Mit passierte dies vor wenigen Tagen. Der Gedanke lautete, dass ich es für mich als extrem spannend empfinde, an der Grenze meiner persönlichen Erkenntnis zu weilen. Das ist ein Gefühl, als ob ich vor einem großen Abgrund stünde. Einerseits ist mir schwindelig, andererseits geht davon eine süße Kraft aus; denn ich sehe etwas in diesem Abgrund und in diesem einen Augenblick auch mit ungeheurer Klarheit. Und ich vermute, dass hinter diesem großen schwarzen Loch eine andere Welt sein könnte, von der eine große Faszination ausgeht. Gleichwohl weiß ich, dass ich jedenfalls jetzt nicht über diese Tiefe hinweggehen kann. Vielleicht nie. Vielleicht verschiebt sich aber beim nächsten Mal das Bild. Vielleicht sehe ich wieder etwas Neues. Dennoch vermittelt dieser Eindruck ein wunderschönes Gefühl - ein Gefühl sowohl


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