Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg. Horst Lederer

Alltagsleben nach 1945 in Mecklenburg - Horst Lederer


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im Chor mit. Als ich beiläufig erfuhr, dass meine Tante zu Ostern zum ersten Mal in der Klützer Kirche singen würde, setzte ich mich im Gottesdienst auf die Empore, die eigentlich dem Posaunenchor vorbehalten war, sodass ich den Chor direkt vor mir im Blickfeld hatte. Ich war hocherfreut, dass meine Tante im grünen Lodenmantel in der ersten Reihe unmittelbar neben der Orgel sang, und in meiner kindlichen Einfalt hielt ich diese Position für einen Ehrenplatz und nahm an, dass Else Lederer bereits nach wenigen Proben zur besten Sopranistin des Chores avanciert wäre, und lobte die kleingewachsene Elsbeth Steinbeck in Gedanken für ihre perfekte Entscheidung. Zu meiner Enttäuschung währte die Chorsängerinnenkarriere meiner Tante nur kurze Zeit. Bei weiteren Auftritten des Kirchenchores vermisste ich sie schmerzlich im Sopran. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was sie damals bewogen hatte, mit dem Chorgesang aufzuhören, ob es ihre nun knapper bemessene Freizeit war oder, was sie manchmal äußerte, ob es die in Klütz gesungenen Lieder waren, die ihr nicht gefielen, ich weiß es nicht.

      Die Bodenreform in Arpshagen

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      Auf Veranlassung der sowjetischen Besatzungsmacht wurden die Bodenreformverordnungen von den Landes- und Provinzialverwaltungen auf dem Gebiet der damaligen Ostzone Anfang September 1945 erlassen, in Mecklenburg-Vorpommern am 5. September.

      In Arpshagen fand die formelle eigentliche Bodenreform am 19. Oktober 1945 statt, und zwar in Verbindung mit dem ersten Nachkriegserntefest. Dem Vernehmen nach soll auf der großen Diele des reetgedeckten Getreidespeichers (später Anwesen von Stefan Patynowski) neben dem Gutshaus der offizielle Beginn für die Neuverteilung des Grund und Bodens und die Enteignung der Grafenfamilie von Bothmer von Vertretern der Stadtverwaltung verkündet worden sein. Gleichzeitig wurde die erfolgreiche Einbringung der ersten Ernte im Frieden gewürdigt und den Arpshagener Landarbeitern dafür gedankt. Beides sei ein Grund zum Feiern.

      Nach den offiziellen Reden wurde fröhlich und ausgiebig gefeiert. Eine kleine Musikkapelle aus Klütz spielte zum Tanz auf. Es wurden Fassbier und billiger Schnaps ausgeschenkt, die ihre Wirkung nicht verfehlten. In die Organisierung und Vorbereitung dieser Festveranstaltung hatte sich auch der seinerzeit im Arpshagener Gutshaus wohnende Tierarzt Dr. Preuß mit eingebracht, der einige junge Frauen aus Oberklütz dazu eingeladen hatte, so seine Freundin Lotti Baumann geborene Wieschendorf, eine lebenslustige Kriegerwitwe, sowie die beiden Flüchtlingsmädchen Irma Harder und Irmgard Münchow.

      Während in Arpshagen bis in die Morgenstunden getanzt, getrunken und gefeiert wurde, vergewaltigten in Oberklütz mehrere marodierende sowjetische Soldaten deutsche Frauen, drangen auch in das Bauernhaus von Johann Wieschendorf ein, der sich zusammen mit seiner Frau Anna dagegen zu wehren versuchte und dabei erschossen wurde. Lotti Baumann, Irma Harder und Irmgard Münchow entgingen dank ihrer Teilnahme an der Festlichkeit in Arpshagen einer möglichen Vergewaltigung.

      Die Verlosung der Äcker, Wiesen, Weiden, Waldflächen und Bauplätze erfolgte zu einem späteren Termin, den ich nicht exakt ermitteln konnte.

      Ihr ging die exakte Vermessung der gesamten Arpshagener Gemarkung durch mehrere Berufslandvermesser voraus, die alle Areale in etwa gleich große Flächen aufteilten, ohne dabei die Bodenwertzahl zu berücksichtigen, und sie nummerierten. Sie trugen ihre Vermessungsergebnisse in Flurkarten ein, die sie auch als Lichtpausen an das Kataster- und Vermessungsamt des damaligen Kreises Schönberg weiterleiteten.

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      Nach Abschluss ihrer Arbeit beaufsichtigten die Landvermesser auch das präzise Setzen der Grenzsteine zwischen den einzelnen Flächen.

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      Zum Tag der Verlosung der Parzellen wurden alle Siedlungswilligen eingeladen, in der Diele des Gutshauses zu erscheinen. Dort war ein Tisch aufgestellt, an dem die beiden Schriftführer Kröpelin und Teut Platz nahmen. Ich konnte aber nicht ermitteln, ob bei dieser Verlosung ein neutraler offizieller Vertreter der Behörde anwesend war und wenn ja, wer das gewesen sein sollte.

      In keiner Verfügung der Landesverwaltung zur Durchführung der Bodenreform in Mecklenburg-Vorpommern konnte ich einen Passus finden, der die einheimischen Landarbeiter eines aufzusiedelnden Gutes gegenüber Flüchtlingen und Auswärtigen bei der Aufteilung der Flächen mit Sonderrechten ausstattete. Folglich ist die Art und Weise, in der die Verlosung der einzelnen Areale in Arpshagen erfolgte, zumindest unrechtmäßig, wenn nicht gar kriminell zu nennen. Sie war schlicht und ergreifend eine Farce.

      Auf illegale Weise muss einer der Arpshagener Landarbeiter, ich vermute Heinrich Frederich, in Besitz der Listen mit den Flächennummerierungen der Landvermesser gekommen sein und in Kenntnis dieser Übersicht für sich und die anderen einheimischen Siedlungswilligen Lose mit diesen Ziffern vor der offiziellen Verlosung gesichert haben.

      Etwa drei Jahre später gestand unser damaliger Stallnachbar, der ehemalige Gutsschäfer Albert Pagel, meinem Vater: „Als die Verlosung auf der Gutshausdiele stattfand, hatten wir alle (er meinte die Einheimischen) schon unser Los in der Faust und taten nur so, als würden wir eins ziehen, als wir die Hand in den großen Hut steckten.“ Das erfolgte in dieser Weise nicht nur bei der Verlosung der Ackerflächen, sondern wiederholte sich auch bei der Aufteilung der Waldstücke, der Bauplätze, der Wiesen und Weiden. So wurden alle Dazugekommenen von vornherein in betrügerischer Absicht ausgegrenzt und benachteiligt.

      Vier Hiesige waren aber nicht in den Besitz aller Lose gekommen, weil sie bei dem vereinbarten Geheimtreffen mit Heinrich Frederich nicht dabei waren, Anna Klopp, Heinrich Patynowski, Karl Staszinska, Robert Estermann. Nachbarin Anna Patynowski berichtete meiner Mutter: „Als die Felder verlost wurden, schickte mich mein Mann Heiner ins Gutshaus. Deshalb habe ich wie die Flüchtlinge ehrlich in den großen Schlapphut gegriffen.“ Da Klopps seinerzeit noch in Tarnewitz wohnten, delegierte Mutter Anna Klopp ihren Sohn Werner (*1935) zur Verlosung. So ist erklärlich, weshalb vier Einheimische ihre Äcker in unmittelbarer Nachbarschaft von Flüchtlingen erhielten. Sie hatten sich wie die Zugereisten mit „den Brosamen zu begnügen, die von der Herren Tische fielen“, d. h. sie konnten nur solche Flächen erwerben, die die Hiesigen schon als minderwertig aussortiert hatten, die entweder niedrige Bodenwertzahlen besaßen, weil sie auf der steinigen Endmoräne oder weit entfernt vom Ort Arpshagen lagen und an die Goldbecker und Klein Pravtshagener Gemarkungen grenzten. Auf diese Weise machte Werner Klopp sehr zum Unwillen und Ärger seines Großvaters Frederich auch seine Eltern nahe der Klein Pravtshagener Ackerflächen „zu steinreichen Bauern“.

      Die einheimischen Landarbeiter kannten wegen ihrer Jahrzehnte währenden Tätigkeit auf dem Gut Arpshagen alle Vorzüge der zur Verlosung gekommenen Grundflächen und nutzten ihre Kenntnisse schamlos aus. Die siedlungswilligen Flüchtlinge erfuhren erst einige Zeit nach der Aufteilung des Grund und Bodens, was sie da eigentlich erworben hatten. Die auf diese Weise ganz offensichtlich Benachteiligten konnten sich nicht einmal dagegen wehren oder Beschwerde führen. So waren die Startbedingungen für beide Gruppen der „Neubauern“ äußerst ungleich. Von einer Chancengleichheit konnte keine Rede sein.

      Ich bin auch davon überzeugt, dass sich die „Alt-Arpshagener“ durchaus dessen bewusst waren, dass ihr Vorgehen unrechtmäßig und unehrlich war und dass sie alle auch kein reines Gewissen hatten, denn offen thematisierten sie das Ausgrenzen und Benachteiligen der Flüchtlinge nicht. Aber sie sorgten mit ihrer Aktion für die Entwicklung von zwei Parallelgesellschaften in diesem kleinen Dorf, für eine Atmosphäre des latenten Misstrauens und des unterdrückten Grolls, wenngleich die Differenzen zwischen beiden Gruppen selten eskalierten.

      Zu fragen ist allerdings, ob den einheimischen Siedlern ihre unrechtmäßig erworbenen Vorteile auf Dauer von Nutzen waren. Bald zeigte sich, dass die meisten von ihnen die Art zu leben und zu arbeiten wie unter dem Gutsverwalter fortsetzten, dass lediglich die Männer die Feld- und Stallarbeiten verrichteten, die Frauen „waren“, wie Redersborg schreibt, „für die Erziehung der Kinder zuständig“, sie kauften ein, führten den Haushalt, pflegten den auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Garten, kümmerten sich um das Kleinvieh und molken bestenfalls die Kuh.


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