Professors Zwillinge: Von der Schulbank ins Leben. Else Ury
Stimme.
Entschieden hätte er eine Hinrichtung interessanter gefunden.
»Na, hoffentlich geht's mir nicht an den Gragen«, lachte Minna, die Küchenfee, die schon mehrere Jahre bei Professors im Hause war. Sie sprach als Thüringerin zum Gaudium der Zwillinge das harte K wie ein weiches G.
»Die Neue muß aber ›Sie‹ und ›Fräulein Suse‹ zu mir sagen«, überlegte das Töchterchen bei den grünen Bohnen. »Nicht wahr, Mutti? In der Schule wird auch jetzt zu uns ›Sie‹ gesagt. Wir sind doch schon Untersekundaner.«
»Dann habt ihr auch die Verpflichtung, euch danach zu benehmen«, meinte die Mutter, mit dem Finger drohend. »Wenn ihr euch allenthalben wie kleine Kinder herumbalgt, könnt ihr unmöglich die Rechte der Großen beanspruchen.«
»Ist ja Wurscht wie Schinken«, meinte der Sohn achselzuckend. »Aber, Mutti, wie kannst du kunstgerechtes Boxen nur als Balgerei bezeichnen! Wenn ich erst mal einen Boxerpreis gewinne, wirst du schon anders sprechen.«
»Vorläufig bestehen deine Boxerpreise in zerrissenen Anzügen, mein Junge«, meinte die Mutter belustigt.
Nach der »Gesegneten Mahlzeit« begleitete Suse die Omama in ihr gemütliches Parterrezimmer. Hier war sie zu gern in Großmamas Reich mit den alten Mahagonimöbeln. Das war eine Welt für sich, die längst versunken war, aus der die Großmama hin und wieder Geschichten auferstehen ließ.
Liebevoll bettete Suse ihre Omama in den großen Lehnsessel am Fenster und hüllte sie sorgsam in die gestrickte Wolldecke ein. Wie zart und gebrechlich die alte Dame in letzter Zeit geworden war. Frau Annchen, Großmamas altes Faktotum, pflegte zu sagen: »Unsere Frau Omama wird jeden Tag weniger.« Das war Suse immer komisch vorgekommen. Jetzt, wo Frau Annchen bei ihrem Sohn in Ostpreußen lebte, mußte Suse unwillkürlich an ihre Worte denken.
Die Großmama hatte mit zärtlichem »danke, mein Liebling« die Augen geschlossen. Auf den Zehenspitzen schlich sich Suse hinaus.
Was nun beginnen? Draußen war es heute wenig verlockend. Es hagelte schon wieder. Die Mutter war dem Vater in sein Arbeitszimmer gefolgt. Er diktierte ihr nach Tisch sein neuestes Werk über Erdbebenforschung in die Schreibmaschine. Minna, zu der Suse sich in das Souterrain zu einem Plauderstündchen begeben wollte, fuhrwerkte mit hochroten Backen in ihrer Küche herum, um ihrer Nachfolgerin alles blitzblank zu übergeben. Die hatte heute keine Zeit zu plaudern. Solch ein erster Ferientag war wirklich langweilig. Man wußte nichts mit sich anzufangen. Aber wozu hatte Suse denn ihren Zwilling? Herbert würde schon wie immer Rat wissen gegen Langeweile. Und er wußte Rat.
»Wir machen es uns auf meinem Ledersofa bequem und rauchen eine Friedenspfeife miteinander«, schlug er vor.
»Wir sind doch schon längst wieder gut«, wandte Suse ein, der der Vorschlag unbehaglich war. »Und du hast ja überhaupt keine Pfeife«, setzte sie erleichtert hinzu.
»Mensch, bist du doof! Wenn ich Pfeife sage, meine ich doch natürlich 'ne Zigarette. Übrigens hängt auch Vaters Studentenpfeife noch unten in seinem Arbeitszimmer. Herbert zog wie ein richtiger Kavalier ein Zigarettenetui aus der Tasche. »Zigarette gefällig?« Er bot der Schwester galant an.
»Woher hast du denn Zigaretten?« erkundigte sich Suse erstaunt.
»Nicht von Vaters Vorrat gemaust, sondern richtig gekauft. Wenn man Untersekundaner ist, muß man vor allen Dingen ein Etui mit Zigaretten haben. Sonst unterscheidet man sich doch überhaupt nicht von den kleinen Pennälern.« Herbert entzündete ein Streichholz und brachte geschickt seine Zigarette in Brand.
Suse sah voller Bewunderung auf ihren Zwilling. Wie ein richtiger Herr, der im Klubsessel seine Zigaretten raucht, saß er mit übergeschlagenen Beinen in der Ecke seines kleinen Ledersofas und stieß Dampfwolken in die Luft.
»Bitte, bediene dich«, er schob ihr die Zigaretten zu.
Zögernd nahm Suse eins von den weißen Dingern. »Vati hat neulich gesagt, wir sollen nicht zu früh mit Zigarettenrauchen anfangen, es sei ungesund für die Lunge.« Unschlüssig drehte sie die Zigarette zwischen den Fingern.
»Damals waren wir noch Tertianer, als er das gesagt hat. In der Untersekunda hat man die Verpflichtung, zu rauchen. Und überhaupt, wenn die Neue ›Sie‹ und ›Fräulein‹ zu dir sagen soll. Nun stecke doch schon endlich das Ding an. Schmeckt knorke.« Schon hielt ihr der Bruder ein brennendes Streichholz hin. »Kamel, du mußt doch nicht in die Zigarette reinblasen wie in eine Trompete, sondern die Luft einziehen – so – na, jetzt brennt sie endlich.« Mit Überwindung hatte Suse den Rauch eingezogen. Wenn Herbert meinte, daß sie als Untersekundaner die Verpflichtung hätten zu rauchen, durfte sie sich wohl nicht länger sträuben. Er wußte immer alles besser als sie. Aber der Zigarettendampf, den sie noch nicht richtig auszustoßen verstand, reizte abscheulich im Halse. Ein starker Hustenanfall unterbrach Suses erste Rauchkünste.
»Siehst du, meine Lunge ist bereits angegriffen«, stieß sie hustend heraus. Sie warf die brennende Zigarette, die schuldige Ursache, auf den Tisch.
»Dreimal gehörntes Nashorn – du brennst ja ein Loch in das Wachstuch!« Ein gelblichbrauner Sengfleck machte sich bereits auf dem weißen Wachstuch, das die Tischdecke ersetzte, bemerkbar.
Erschreckt schielte Suse auf das verdorbene Wachstuch, das den Tisch bedeckte. Denn eine Tischdecke hielt Herbert für unmännlich, außerdem störte sie ihn bei seinen verschiedenen zoologischen Liebhabereien.
»Jetzt knöpfe aber die Ohren auf, Mensch. Ich werde dir Unterricht im Rauchen geben. Sonst blamierst du mich auf der nächsten Jugendwanderung. Hier, nimm die Zigarette, lutsch nicht dran wie ein Säugling am Gummipfropfen. So – ziehen mußt du. Dampf ausstoßen – Volldampf – nicht husten – na, nun wird's ja!« Der Lehrer holte ein altes Tintenfass als Aschbecher herbei und rauchte selbst kunstgerecht seiner Schülerin die Zigarette vor.
Hochrot im Gesicht vom Husten und von der Aufregung versuchte Suse, es dem Bruder gleichzutun. Wenn sie nun alle beide davon lungenkrank wurden! Aber es rauchten doch so viele Leute – ja Große, aber Kinder? Schließlich war man doch mit vierzehn und ein halbes Jahr noch nicht groß, wenn man es auch gern sein wollte. Mit Todesverachtung hielt Suse die Zigarette zwischen den Lippen. Abscheulich schmeckte sie, gar nicht knorke. Wenn sie sich nicht vor ihrem Zwilling geschämt hätte, würde sie das ekelhafte, brennende Ding bestimmt in den Aschbecher oder vielmehr in das Tintenfass werfen. Und dann waren auch da noch andere Augen, vor denen es Suse peinlich war, als Untersekundanerin hinter Herbert zurückzustehen. Feuchtschwarze Hundeaugen sahen mit ungeheurem Interesse den ersten Rauchversuchen von Professors Zwillingen zu. Bubi, der Köter, saß aufrecht auf den Hinterbeinen und verwandte voller Hochachtung keinen Blick von seinem jungen Herrn. Suse schielte zu den Laubfröschen, zu den Bewohnern des Aquariums und Terrariums, zu den weißen Mäusen hinüber, die alle Herberts Stubengenossen und Freunde waren. Ob die am Ende auch das Publikum für ihre erste Zigarette bildeten?
Gottlob, das glimmende, weiße Röllchen wurde kleiner, auch wenn man nicht daran zog. Es verbrannte von selbst.
Herbert hatte bereits seinen Zigarettenstummel kunstgerecht im Tintenfass ausgedrückt. Jetzt griff er nach der zweiten Zigarette.
»Mensch, du rauchst ja mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit. Halte dich dran, wenn du mit mir Schritt halten willst, Suse.« Ritsch – da brannte Zigarette Nummer zwei.
»Herbert, um's Himmels willen, du bekommst bestimmt eine Lungenentzündung, wenn du so viel rauchst. Bitte, bitte, tu das olle Ding fort«, beschwor ihn Suse.
»Quatsche bloß keine Opern. Ich muß Ringe durch die Nase rauchen lernen. Das muß man in der Untersekunda können.«
Ach, du Himmel – was verlangte man nicht alles in der Untersekunda. Soweit verstieg sich Suses Ehrgeiz nicht. »Ob Paul wohl Ringe rauchen kann?« überlegte sie.
»Unser Ferienkind Paul? Na, der ist der Richtige. Neulich hat Vater ihm mal, als er Sonntags bei uns war, eine Zigarette nach Tisch angeboten. Sicher aus Spaß. Da hat er einen roten Kopf bekommen und gedankt. Er rauche nicht.«
»Und Vater fand das sehr