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nicht allzu lange, da mußte Herbert wahrnehmen, daß Paul mit eisernem Fleiß das Fehlende nachlernte, ihn bald einholte und sich das Gelernte ganz zu eigen machte. Das konnte man von Herbert nicht sagen. Er faßte sehr schnell auf, war aber leicht abgelenkt und zerstreut und vergaß manches, was er gelernt hatte, wieder. Geradezu empört aber war Herbert, als Paul eines Sonntags, als er sich mit ihm über ein elektrotechnisches Experiment unterhielt, ihm in seiner bescheidenen Weise zu verstehen gab, daß dies nicht stimme, daß es sich anders verhalte. Was – Paul, das Ferienkind, der weder Latein noch Französisch konnte, der mit vierzehn Jahren von der Volksschule abgegangen war, wollte etwas besser wissen als er! Solche Frechheit!

      Der Vater, der als Schiedsrichter angerufen wurde, gab Paul recht und seinem Sohn den Rat, künftig vorsichtiger mit Behauptungen zu sein. Seitdem hatte Herberts Freundschaft für Paul einen leisen Knacks bekommen. Er konnte es nun mal nicht vertragen, daß ein anderer ihn ausstach.

      Suse hatte schon als kleines Mädchen Mitleid mit dem armen Paulchen gehabt, der mit geflickter, ausgewachsener Jacke in die Waldschule gekommen war, dem die Augen oft in der ersten Stunde vor Müdigkeit zufielen, weil er schon in aller Herrgottsfrühe für einen Bäcker die Frühstückssemmeln hatte austragen müssen. Dann waren sie auseinandergekommen, da Professor Winter mit seiner Familie nach Italien und später nach Jena übersiedelte. Aber eine Ansichtskarte, einen Gruß hatten Professors Zwillinge inzwischen öfters an den einstigen Schulkameraden gesandt. Später, als Pauls Mutter starb und der arme Paul in ein Waisenhaus kam, hatte Suse die Eltern solange gebeten, bis sie erlaubten, daß sie »Paulchen« für die Ferien zu sich nach Jena einladen durften. Da hatten die Zwillinge erstaunte Augen gemacht. Denn aus dem Paulchen war inzwischen ein Paul geworden. Früher in der Waldschule hatte man das gar nicht gemerkt, daß Paul fast zwei Jahre älter war als sie, denn er war immer klein, schmächtig und schüchtern gewesen. Aber trotzdem wurde die alte Freundschaft wieder aufgefrischt. Denn Paul hing sehr an den Kindern seines Wohltäters. Herberts Streitsucht machte den Verkehr mit ihm nicht immer leicht. Um so netter war die Suse zu dem Freund. Ihr mitleidiges Herz, das für alles, was Not litt, besonders warm schlug, empfand geradezu etwas Mütterliches für den elternlosen Jungen, der schon so früh allein im Leben stand. Trotzdem sie jünger war als er, fühlte sie die Verpflichtung, für ihn zu sorgen. Das tat sie in rührender Weise im Verein mit ihrer Mutti. Sie sah, daß Paul seinem Einsegnungsanzug, den er an den Sonntagen im Sternenhaus zu tragen pflegte, das beste und einzige Kleidungsstück außer seiner Arbeitsjoppe, allmählich ausgewachsen war. Daß der Stoff blank und schäbig aussah. Herbert machte seine Glossen darüber. Ja, er verulkte Paul sogar, er solle sich nur vorsehen, daß er nicht mal aus seinem Anzug herausfiele. Suse war die Röte peinlichster Verlegenheit bei den Worten des Bruders in die Wangen geschossen. Sie schämte sich für ihren Zwilling, daß er so taktlos sein konnte. Paul aber lachte harmlos mit Herbert um die Wette.

      Die Folge von Herberts unüberlegtem Scherz war, daß Suse mit dem Bruder beriet, wie man Paul zu einem neuen Sonntagsanzug verhelfen könne. Denn daß der arme Junge sich von seinem bescheidenen Einkommen nicht so bald einen Anzug zusammensparen konnte, war selbst ihrer vierzehnjährigen Welterfahrenheit klar. Die Zwillinge legten ihre Ersparnisse zusammen, denn auch Herbert war ja im Grunde seines Herzens gutmütig. Aber es reichte höchstens zu einer Weste. Auch Herberts Bestand an Anzügen kam für Paul nicht in Betracht. Trotzdem Herbert nicht viel kleiner war als Paul, befanden sich seine Anzüge, wenn er sie ablegte, in einem Zustand, daß man sie allenfalls noch einer Vogelscheuche anbieten konnte. Nein, unter Herberts Garderobe, die von manchem Boxkampf Zeugnis ablegte, war kein Sonntagsanzug mehr für Paul herauszufinden.

      Mutti, die Helferin in allen Nöten, schaffte Rat. Vom Vater hing noch ein gut erhaltener Anzug im Schrank, den ihr Mann kaum noch trug. Für Paul gab das einen prächtigen Sommeranzug, den konnte man ihm vom Schneider herrichten lassen.

      »Als Osterei, Mutti, ja, als Osterei verstecken wir Paul den Anzug«, hatte Suse freudestrahlend vorgeschlagen.

      »Aber eine anständige Krawatte muß er auch dazu haben«, hatte Herbert sachverständig geäußert.

      »Er kann doch Schillerkragen tragen, das ist viel bequemer und netter für euch Jungs«, meinte die Mutter. Und Suse setzte hinzu: »Überhaupt, wo er jetzt in der Schillerstadt lebt.«

      »Schillerkragen paßt nur zum Sportanzug.« Herbert wußte als junger Gernegroß schon ganz genau Bescheid. Ja, er erklärte sich sogar bereit, von seinem Spargeld, das eigentlich zur Erwerbung eines Igels für seine zoologische Sammlung festgesetzt war, einen Foulardbinder für Paul zu Ostern zu erstehen. »Denn ihr Weiber wißt ja doch nicht, was wir Männer jetzt tragen«, hatte er zu Suse geäußert. Dankbar hatte Suse ihrem Zwilling trotz der geringschätzigen Äußerung den Arm um die Schulter geschlungen, weil er solch ein guter Junge war. Aber Herbert hatte die Schwester abgeschüttelt. »Führe bloß nicht Orest und Pylades auf!« Alles Gefühlvolle erschien dem Jungen unmännlich.

      4. Kapitel

      Ostereier

      Und nun war der Ostersonntag herangekommen. Petrus hatte ein Einsehen gehabt mit der Welt, die solange in Winters Banden gefesselt gelegen. Er hatte dem Lausbub, dem April, sein launiges Handwerk gelegt. Schnee, Hagel und Sturm hatten ausgetobt. Die grauen Wolkenungeheuer waren über die Saale davongezogen. Blauer Frühlingshimmel wölbte sich über der alten Universitätsstadt, zarte Lämmerwölkchen segelten über die Thüringer Berge, spiegelten sich im eisbefreiten Silberfluss. Noch war alles kahl. Aber es lag schon wie ein Ahnen des Lenzes über Baum und Strauch, als warteten sie nur darauf, daß die Sonne die Säfte in ihnen zu neuem Leben erwecke.

      Als Suse am Ostermorgen in den Garten hinaustrat, ließ sie die Braunaugen in alle Winkel, unter alle Sträucher schweifen. Suchte die Suse in aller Frühe schon Ostereier?

      O nein, wenigstens keine süßen, keine eßbaren. Den frischen Erdgeruch einatmend, schnupperte ihr Näschen in die Luft. Ein ganz, ganz leiser Veilchenduft machte sich bemerkbar. Ein anderer als Suse, die sich auf Blumen so gut verstand, hätte es wohl kaum wahrgenommen. Und da strahlte es in den Mädchenaugen auch schon freudig auf. Im geschützten Sonnenwinkel dicht am Haus schimmerte es blau – die ersten Veilchen. Hurra – ihre Ahnung hatte nicht getrogen. Nun konnte sie den Eltern und der Großmama die ersten Frühlingsgrüße zum Fest auf den Frühstückstisch setzen.

      Die Ostersonne hatte ihre Freude an dem schlankgewachsenen, jungen Mädel. Nur die Wangen des Backfisches hatten Stubenfarbe, die waren etwas blaß. Die Sonne ahnte nicht, daß Suses Blässe noch eine Folge des ungewohnten Zigarettenrauchens war.

      Aus dem Küchenfenster im Souterrain schnarrte die Kaffeemühle. Die neue Emma steckte den Kopf aus dem Fenster.

      »Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Osterfest.«

      Das »gnädige Fräulein« fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Es vergaß vor Verlegenheit, den freundlichen Ostergruß zurückzugeben. Um Himmels willen, was würden Inge und Helga, ihre Freundinnen, was würde Herbert dazu sagen, wenn sie »gnädiges Fräulein« angeredet wurde! Gestern war sie dem neuen Mädchen möglichst aus dem Wege gegangen, aus Furcht, daß dieses etwa »du« zu ihr sagen könnte. Aber »gnädiges Fräulein«, das war noch schlimmer, als wie ein Kind geduzt zu werden. Das ging doch gar nicht, wenn sie auch schon Untersekundanerin war.

      Während Suse noch überlegte, wie sie Emma am besten auseinandersetzen könne, daß die Anrede »gnädiges Fräulein« wohl doch noch etwas verfrüht wäre, erklang plötzlich aus den Lüften Hohngelächter. Dort oben auf dem Balkon stand Herbert, halb angezogen, quiekte und hielt sich die Seiten vor Lachen. Daneben Bubi, vor Vergnügen mit dem Schwanze wedelnd.

      »Wollen das gnädige Fräulein gnädigst geruhen, sich zu mir heraufzubemühen, dann möchte ich mit Euer Gnaden untertänigst überlegen, wo wir die Ostereier für Paul verstecken wollen. Ich erwarte gnädiges Fräulein binnen fünf Minuten.« Mit einer erneuten Lachsalve zog sich Herbert zurück, seine Toilette zu vollenden.

      So ein Schlingel! Sie derart vor dem neuen Mädchen bloßzustellen! Suse hegte an diesem schönen Ostermorgen nicht gerade liebevolle Gefühle für ihren Zwilling. Dann


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