Nesthäkchen und der Weltkrieg. Else Ury
schließlich wieder zurück.
Großmama wußte nicht, sollte sie schelten oder sich über die Siegesnachricht freuen. Schließlich tat sie alles beides.
An dem Dickschädel von Klaus prallten Vorhaltungen meist ab, Nesthäkchen aber stand ganz bestürzt da.
Nun hatte die liebe Großmama schon wieder Grund, ärgerlich zu sein. Und sie hatte sich doch erst vor kurzem so fest vorgenommen, Großmuttchen nicht wieder zu beunruhigen. Ja, Annemaries schlechtes Gedächtnis, das machte ihr öfters einen Strich durch die Rechnung. Nur an dem lag es, wenn Nesthäkchen öfters mal Schelte erhielt. Denn ihre Vornahmen waren wirklich immer die besten. Auch im Kinderheim war es ihr oft so ergangen.
Beide Arme schlang Annemarie um Großmamas Hals.
»Nicht böse sein, liebstes, bestes Großmuttchen. Ganz Deutschland freut sich doch heute über den ersten Sieg! Da darfst du nicht schelten. Und es war doch auch fürs Vaterland, daß ich die Extrablätter verteilen half«, so bettelte die kleine Schmeichelkatze. Konnte die alte Dame da noch länger zürnen? Man brauchte nicht mal eine Großmama zu sein, um Nesthäkchens bittenden Blauaugen nicht widerstehen zu können.
»Ich alte Frau bin viel zu schwach für euch wilde Gesellschaft«, meinte sie schließlich. »Es bedarf jüngerer Kräfte, um euch Banditen im Zaum zu halten. Ich möchte am Ende an euer früheres Fräulein schreiben, ob es nicht wieder zu euch kommen will – denn wer weiß, wann Muttchen heimkehren wird!« Das letzte wurde von einem schweren Seufzer begleitet.
»Au ja, mein geliebtes, goldenes Fräulein!« Annemaries Augen glänzten. Ihr Fräulein hatte das kleine Mädchen die vielen Jahre, wo es im Hause bei Doktor Braun war, geradezu vergöttert. Tränen waren geflossen, als Fräulein zu Ihrer Mutter heimging, da Annemarie auf ein Jahr an die Nordsee kam. Und nun sollte sie wieder zurückkehren – die Aussicht war zu herrlich!
Klaus konnte seine Freude mehr beherrschen. Ihm erschien es weniger verlockend, noch einen mehr zum Aufpassen im Hause zu haben. Fräulein würde ihn sicher in seiner Freiheit beschränken, sie hatte den Strick immer ziemlich kurz gehalten.
»Ich finde dich noch gar nicht so alt, Großmama«, meinte er deshalb voll Ritterlichkeit. »Unser Direktor im Gymnasium ist bestimmt noch älter als du, der hat nicht nur weiße Haare, sondern sogar schon einen weißen Bart. Und der wird doch mit all den vielen Jungs, die noch viel ungezogener sind als ich, fertig.« Viel ungezogener als er konnten seine Schulkameraden nun schwerlich sein, denn er leistete darin durchaus Anerkennenswertes.
Großmama schien auch nicht recht überzeugt.
»Und denn überhaupt – Mutti wird doch bestimmt bald nach Hause kommen. Was soll sie denn bloß bei den ollen Engländern, die sich so gemein gegen uns benommen haben, so lange!« bot der Tertianer weiter seine Überredungskunst auf.
»Da ist Mutti schon – bestimmt, das ist sie!« wie stets, wenn es klingelte, stürzte Nesthäkchen auch jetzt beim Anschlagen der Glocke erwartungsvoll zur Tür hinaus.
Aber enttäuscht kehrte die Kleine zurück.
Wieder umsonst – wieder nicht die sehnlichst erwartete Mutter! Nur Bruder Hans war es, der erhitzt vom Bahnhofsdienst heimkehrte.
Heute schien der Obersekundaner gar nicht angestrengt, trotzdem er seit dem frühen Morgen am Schlesischen Bahnhof Körbe mit Tassen, Kannen mit Kaffee und große Platten belegter Brote an die durchfahrenden Truppenzüge hatte heranschleppen helfen.
»Famoser Sieg – ja, wenn wir Deutschen erst mal loshauen – Tag, Großmama – na, Kleinchen, wie geht's?« Der Gruß mußte heute hinter der Siegesfreude hinterherhinken
»Bist du sehr müde, mein Jungchen?« Die gute Großmama machte dem Enkel bereits ein Glas Limonade zur Erfrischung zurecht.
»Nee, gar nicht – fein war's heute! Du, Klaus, da hättest du dabei sein müssen! Denk' mal, wir Pfadfinder bringen nachmittags Stullen an einen Zug, der aus lauter offenen, mit Girlanden geschmückten Viehwagen besteht. Und weil die Feldgrauen sich manchmal genieren, ordentlich zuzugreifen, reden wir ihnen tüchtig zu. Und besonders einer, der wollte durchaus nichts mehr nehmen und versicherte mir immer wieder lachend, sein Soldatenmagen könne beim besten Willen nicht mehr vertragen. Aber ich ließ nicht locker, bis er mir schließlich doch 'ne Wurschtstulle abnahm. Da pufft mich einer von den Pfadfindern in den Rücken. »Mensch,« flüsterte er mir zu, »weißte denn nicht, wer das ist?« – »Nee,« sage ich. »Das ist doch Prinz Joachim!« Wahr – und wahrhaftig, er war's! Mitten im Viehwagen unter all den Mannschaften wie ihresgleichen. War ich stolz, daß er gerade meine Wurschtstulle aß. Und als der Zug weiterfuhr, da hat er mir noch mal zugewinkt.«
Hans wirbelte vor Freude das Schwesterchen auf dem engen Balkon herum. Aber nicht Annemarie verging dabei Hören und Sehen, sondern der Großmama.
Klaus aber riß dem Bruder fast vor Aufregung einen Jackenknopf ab, an den er ihn krampfhaft festhielt, um immer mehr von dem wunderbaren Ereignis zu erfahren.
»Ein richtiger Prinz – morgen geh' ich aber bestimmt auch nach dem Schlesischen Bahnhof. Vielleicht kann ich ebenfalls dort helfen – unser Kaiser hat ja viele Söhne, am Ende kommt morgen wieder ein Prinz durch«, rief er mit blitzenden Augen.
»Jawoll, die Prinzen wimmeln da nicht so herum, so'n Glück wie ich haben nur Sonntagskinder! Und du wirst überhaupt nicht zum Helfen zugelassen, mein Söhnchen, du bist ja kein Pfadfinder.« Hans warf sich mächtig in die Brust.
»Schadet nichts, ich gehe doch hin – kommst du mit, Annemarie?«
»Na und ob!« Nesthäkchens Blauaugen blitzten nicht weniger als die braunen von Klaus.
»Ausgeschlossen, ihr bleibt alle beide hier!« unterbrach Großmama das Pläneschmieden der zwei. »Das fehlte noch gerade, daß ich euch in diesem Menschengewühl auf dem Bahnhof wüßte, unter all den Lokomotiven, wo ich schon so keine ruhige Minute habe, wenn ihr nicht bei mir seid.«
Nesthäkchen ergab sich schweren Herzens in ihr Schicksal, während der Nichtsnutz Klaus eifrig überlegte, wie er wohl trotz des Verbotes am nächsten Tage der großmütterlichen Aufsicht am besten entwischen könnte.
Am Abend, als Großmama ihre Enkelkinder endlich sicher in den Betten wußte, atmete sie erleichtert auf. Ganz zerschlagen von all der Unruhe und Aufregung saß sie am Schreibtisch und schrieb an Fräulein. Denn sie allein war der schweren Aufgabe, die durch den Krieg aus Rand und Band gekommenen Sprösslinge ihrer Tochter zu beaufsichtigen, nicht mehr gewachsen.
Nesthäkchen aber lag im Bett und betete aus Herzensgrund: »Lieber Gott, laß doch meine liebe Mutti bald wieder nach Berlin kommen, aber nicht die ollen Russen. Und beschütz' doch auch meinen Vater im Krieg. Und auch Onkel Heinrich und all die anderen Soldaten. Und schick' uns doch wieder solchen feinen Sieg wie heute, ja? Bitte, hilf uns Deutschen doch, lieber Gott.«
Da aber fiel Nesthäkchen plötzlich ein, daß vielleicht zur gleichen Stunde französische oder englische Kinder den lieben Gott ebenfalls um seine Hilfe anflehten. Darum setzte es schnell noch hinzu: »Und wenn du uns nicht helfen willst, dann hilf, bitte, den andern doch auch nicht – bleibe wenigstens neutral, lieber Gott. – Amen!«
3. Kapitel
Wie es in Nesthäkchens Schule aussah
Endlich waren die Fenstervorhänge drüben bei Thielens in die Höhe gegangen. Ein brauner Mädchenkopf erschien am gegenüberliegenden Kinderstubenfenster und nickte strahlend einen Gruß zu Doktor Brauns herüber.
»Komm auf den Balkon, Margot, da können wir besser miteinander reden«, schrie Annemarie, glückselig, die Freundin wieder zu haben, durch die hohl an den Mund gelegten Hände.
Und dann standen die beiden Freundinnen auf den aneinandergrenzenden Balkonen, die durch eine mannshohe Wand getrennt waren. Unter bunten Winden und Petunien reichten sie sich nach der langen Trennung endlich wieder die Hände herüber.
»Tag, Margotchen, ich glaube, ich bin jetzt größer als