Nesthäkchen und der Weltkrieg. Else Ury

Nesthäkchen und der Weltkrieg - Else Ury


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      Nein, war das interessant. Ein Umzug der Schule hatte noch keine der vielen hundert Schülerinnen des Mädchenlyzeums erlebt. Ging man nun einfach nach Hause, oder mußte man noch da bleiben? Keine wußte es, und das erhöhte natürlich die Aufregung.

      »Ich gehe ruhig in die Klasse, es hat doch noch kein Lehrer etwas gesagt«, entschied die fleißige Margot.

      »Fällt mir nicht im Traume ein, hier auf dem Hof ist es viel lustiger. Und am Ende sind überhaupt schon Soldaten drin«, Doktors Nesthäkchen strahlte über die unvorhergesehenen Ereignisse.

      »Militär ist noch nicht da, es muß erst alles umgeräumt werden«, erklärte Marianne Davis eifrig.

      »Höchstens könnten wir mit in die Rumpelkammer verladen werden«, lachte Ilschen mit den blonden Haarschnecken.

      Da erklang laut die Stimme eines Lehrers durch all den Tumult, all das Mädchengesumm hindurch: »Ruhe – die Schülerinnen sollen sich in die Turnhalle begeben.«

      »Wie gut, daß wir nicht nach Hause gegangen sind!« Margot zog ihre Freundin Annemarie den sich in die Turnhalle Drängenden nach.

      Die geräumige Turnhalle war knüppeldick vollgestopft mit großen und kleinen Mädchen, blonden und schwarzen. Die sonst streng voneinander gesonderten Klassen waren willkürlich durcheinander gestreut. Wie der Krieg draußen im großen die sonst voneinander geschiedenen Klassen, reich und arm, Gebildete und Ungebildete, durcheinander wirbelte, so tat er es hier auch im kleinen. Auf den langen Schwebebäumen hatten es sich kecke Dingelchen aus der zehnten Klasse bequem gemacht, trotzdem die erste Klasse meinte, diese Plätze kämen ihr zu. Annemarie Braun aber hatte sogar hoch oben auf einem Barren Platz genommen. Von hier aus übersah sie die Versammlung besonders gut. Margot, die sie in ihrer Tugendhaftigkeit durchaus wieder herunterziehen wollte, hatte damit kein Glück, übermütig baumelte Doktors Nesthäkchen auf ihrem Barren mit den in geringelten Wadenstrümpfen steckenden Beinen.

      Ein Teil der Lehrer und Lehrerinnen betraten die Halle. Dicht neben Annemarie tauchte Fräulein Herings liebes Gesicht auf.

      »Na, wieder da, Annemarie Braun? Das ist ja schön, daß du wieder zu uns zurückkommst. Wie ein kleines Fischermädel so braun bist du gebrannt!« Fräulein Hering trat näher und reichte der so lange Fortgewesenen freundlich die Hand.

      Auch Annemarie streckte ihre Rechte aus – o weh – da verlor sie das Gleichgewicht auf ihrer schmalen Stange. In dem Bemühen, nicht herabzupurzeln, griff sie auch mit der Linken hilfesuchend nach dem, was ihr gerade das Nächste war. Mit beiden Armen fiel sie, ohne es zu wollen, der Lehrerin um den Hals. Die lachte herzlich über die zärtliche Begrüßung, und die Mädel ringsum wieherten förmlich vor Vergnügen.

      Das war Doktors Nesthäkchen trotz aller Freimütigkeit denn doch etwas peinlich. Aber zum Glück betrat gerade der Direktor die rasch aus Sprungkästen und Matratzen erbaute Kanzel.

      Er räusperte sich, aber er sprach noch nicht. Erst stimmte der Gesanglehrer Herr Lustig, zum größten Erstaunen der Kinder in feldgrauer Uniform, mit seiner schönen Bassstimme »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« an, und hell fielen die Schülerinnen alle ein. Feierlich zogen die Klänge durch die Turnhalle.

      Dann sprach der Herr Direktor, schlicht und warm:

      »Meine lieben Schülerinnen! Als wir uns vor etwa fünf Wochen trennten, um nach fleißiger Arbeit neue Kräfte in der Erholung zu sammeln, da ahnten wir nicht, welcher gewaltige Sturm über unser teures Vaterland daherbrausen würde. Die deutsche Eiche ist stark in ihren Wurzeln, ob auch viele feindliche Hände sie zu erschüttern suchen, sie wankt nicht. Nur um so fester steht sie da, nur um so herrlicher wird sie grünen. Jede von euch hat wohl ein liebes Familienmitglied mit hinausziehen lassen in den heiligen Kampf um Deutschlands Freiheit, und ist stolz darauf. Aus unserem Kreise haben sich ebenfalls verschiedene Lehrer gelöst, die ins Feld gezogen, mehrere Lehrerinnen haben sich zu Helferinnen des Roten Kreuzes gemeldet. Aber auch von der Schule selbst verlangt der Krieg seine Opfer. Unsere Räume sind dazu ausersehen worden, den Verwundeten eine Genesungsstätte zu werden. Trotz eifrigen Bemühens ist es mir nur gelungen, vier Arbeiter zum Transport der schweren Möbel zu erlangen, auch einige junge Leute vom Pfadfinderbund haben sich uns zur Verfügung gestellt. Der Hauptanteil der Arbeit aber bleibt Lehrern und Schülerinnen. Ich bin davon überzeugt, wie gern eine jede von euch mithelfen wird für die, welche ihr Blut für uns vergießen. Die Schülerinnen von der zehnten bis zur sechsten Klasse gehen nach Haus. Diejenigen der Schülerinnen der Mittel- und Oberstufen, die uns helfen wollen, begeben sich in ihre Klassenräume und empfangen dort die Anleitungen der Lehrer und Lehrerinnen. Die andern können ebenfalls heimgehen, denn es soll eine freiwillige Hilfe sein, die ihr leistet. Wann wir unsern Schulunterricht wieder aufnehmen können, wird noch bekannt gegeben. Das hängt davon ab, ob wir in einer andern Schule unseres Stadtteils ein Unterkommen finden. Voraussichtlich wird der Unterricht nachmittags stattfinden müssen. Lehrer sowohl wie Schülerinnen werden fürs Vaterland auch diese kleine Unbequemlichkeit gern in den Kauf nehmen. Aber die verlängerte Ferienzeit darf nicht müßig hingebracht werden; mehr als je hat jetzt jeder die Pflicht, all seine Kräfte zu regen. Ich fordere deshalb die Schülerinnen zur Bildung einer Arbeitsabteilung für das Rote Kreuz auf. Jede Klasse hat drei Vertrauensschülerinnen zu wählen, die dafür Sorge tragen sollen, daß die Anordnungen der Schule möglichst schnell jeder Schülerin zugestellt werden. Näheres über die Arbeitsabteilung erfahrt ihr später. Und nun, meine lieben Schülerinnen, bevor wir an unser Werk zum Wohle unseres Vaterlandes gehen, stimmt mit mir ein in den Ruf: Seine Majestät, unser allergnädigster Kaiser – hurra – hurra – hurra!«

      In brausender Begeisterung einten sich die jungen Mädchenkehlen in dem Hochruf auf den obersten Feldherrn, und jauchzend, in heller Hoffnungsfreudigkeit klang es vielhundertstimmig in den sonnengoldenen Augusttag hinaus: »Heil dir im Siegerkranz«.

      So endete die erhebende Feier.

      Dann hieß es: An die Arbeit! Neidisch sahen die Kleinen, die nicht gebraucht wurden, den Großen nach. Keine schloß sich von all den vielen Schülerinnen aus, alle meldeten sich zur Hilfe. Und wenn selbst ein kleiner Faulpelz darunter gewesen wäre, der es vorgezogen hätte, heimzugehen, er hätte sich vor den übrigen geschämt.

      Ach, wie glücklich war Doktors Nesthäkchen, daß es nun schon in der sechsten Klasse war und beim Umzug mithelfen durfte.

      Jeder Klasse fiel eine andere Aufgabe zu. Hier wurden Landkarten säuberlich aufgestapelt, dort physikalische Instrumente fortgetragen. Der Zeichensaal und die Bibliothek mußten geleert, alle Schulbücher und Hefte geordnet und sorgsam verpackt werden. Die Aula und der Turnsaal dienten zur Unterbringung sämtlicher Schulgeräte. Die Lehrer hatten ihre Röcke ausgezogen und schleppten im Schweiße ihres Angesichts wie Ziehleute Tische, Bänke und Pulte fort. Lehrerinnen und Schülerinnen schafften mit heißen Wangen. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelte das in eifriger Arbeit durcheinander, ein jedes erfüllte in all dem Gewühl gewissenhaft die ihm zuerteilte Aufgabe.

      Die sechste Klasse hatte unter Aufsicht ihrer neuen Ordinaria, Fräulein Konrad, den Klassenschrank ausgeräumt, und die Schülerinnenbibliothek in Waschkörbe gepackt. Dabei geschah es allerdings, daß Ilse Hermann, eine kleine Leseratte, plötzlich in all dem Gewirr, all der Unruhe, ganz vertieft in eine schöne Erzählung war. Mit in die Ohren gestopftem Zeigefinger hockte sie unter all den Vorüberhastenden und hatte gar keine Ahnung mehr, wo sie sich befand.

      Annemarie Braun, die gerade ein Pack Bücher vorüberschleppte, gab ihr einen freundschaftlichen Puff, daß der künstliche Turm von Büchern zerbarst und um die ganz verlesene Ilse herniederprasselte: »Du, gefaulenzt wird hier nicht!«

      Erschreckt fuhr Ilse auf, während Margot, die Annemarie beim Einsammeln der Flüchtlinge behilflich war, lachend meinte: »Unsere Verwundeten sollen wohl warten, bis du mit deiner Geschichte fertig bist, Ilse?«

      Errötend nahm die kleine Leseratte wieder ihre Arbeit auf.

      Brrr – war das heiß! Annemaries Gesicht glühte wie ein Plättbolzen, als sie mit ihrer Last treppauf, treppab lief. Aber was tat das – heute empfand keiner irgendwelche Beschwerden.

      Einige Pfadfinder


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