Nesthäkchen und der Weltkrieg. Else Ury

Nesthäkchen und der Weltkrieg - Else Ury


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Stricknachmittage leitete. Während Fräulein Neubert, die der Verpflegungsabteilung vorstand, als streng in der ganzen Schule bekannt war.

      Großmama, die klügste von allen, mußte den Ausschlag geben.

      »Großmuttchen, wozu soll ich mich melden? Stricken muß ich doch eigentlich schon bei dir genug. Margot geht ja zu den Stricknachmittagen und meine andern Freundinnen auch. Aber ich denke mir die Verpflegung viel feiner, das macht bestimmt mehr Spaß!« Nesthäkchen sah die alte Dame erwartungsvoll an.

      »Herzchen, weißt du wirklich nicht, wozu ich dir raten werde?« Großmama lächelte ihr liebes Lächeln.

      Annemarie kniff ein Auge ein, das tat sie öfters, wenn sie etwas Schalkhaftes dachte.

      »Natürlich weiß ich es, alte Damen sind doch immer für Stricken und Nähen. Klaus ist nun wieder mehr fürs Essen. Und du hast doch gesagt, es ist ganz gleich, wie man seinem Vaterlande nützt, Großmuttchen, wenn man nur überhaupt etwas tut.«

      Großmama wies mit dem Finger schweigend auf eine Zeile des Aufrufs.

      »Opfert dem Vaterlande«, las Nesthäkchen.

      »Jawohl, das will ich ja auch gern tun, Großmuttchen. Ich werde an Vater schreiben, ob ich mein Sparkassenbuch geben darf. Und – und vielleicht hast du graue Wolle oder Leinwand übrig, die dürfen wir auch mitbringen, und Hanne wird mir gewiß eine Wurst schenken.«

      Stolz sah die Kleine die Großmama an – mehr konnte sie doch nicht opfern.

      Aber Großmama schüttelte den Kopf.

      »Nein, Kind, mit Geld und Waren allein ist es nicht getan. Opfern heißt, etwas hingeben, was einem schwer wird. Unsere Zeit und unsere Arbeit sollen wir dem Vaterlande opfern. Nicht, was dir Spaß macht, sollst du tun, sondern das, was am nutzbringendsten für unsere Krieger ist. Nun, Herzchen, wozu wirst du dich melden?«

      »Das muß ich mir erst noch überlegen, Großmuttchen.« Annemarie zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Essen ist doch eigentlich mindestens so notwendig wie Kleidung für unsere Feldgrauen. Aber weißt du, Großmuttchen, ich werde mich für beide Abteilungen melden.«

      »Das hat keinen Wert, Annemiechen. Lieber eine Sache ganz tun, als mehrere Dinge nur halb.«

      Annemarie wurde ihrer Überlegung enthoben. Denn Margot, die herüberkam, um gemeinsam mit der Freundin eine Liste für die Sammlung aufzusetzen, teilte ihr mit, daß zu der Verpflegungsabteilung überhaupt nur die großen Schülerinnen der ersten und zweiten Klasse zugelassen wurden.

      So fand sich auch Annemarie Braun mit mehreren hundert anderen Schülerinnen am nächsten Tage im Schulhof zur Liebesarbeit ein.

      Die Mädchen wurden in zwanzig Gruppen geteilt, die abwechselnd an verschiedenen Tagen der Woche zusammenkamen. Mehrere Lehrer und Lehrerinnen stellten ihre Wohnung für die Strick- und Nähnachmittage zur Verfügung.

      Wie froh war Annemarie, daß sie sich daran beteiligt hatte, denn die Stricktage gehörten bald zu den schönsten in der Woche.

      Die kecken Berliner Spatzen, die den Garten des Herrn Direktors als ihr Privateigentum betrachteten, konnten sich jetzt nicht genug verwundern. Da tauchten täglich in den sonnigen Augusttagen zwischen Bäumen und Buschwerk blonde und dunkle Mädchenköpfe auf, wohl an hundert Stück, alle eifrig über die Arbeit geneigt.

      Was wurde dort nicht alles von den fleißigen Mädchenhänden fabriziert. Vor allem graue Strümpfe, denn »barfuß können unsere Soldaten nicht bis Paris und Petersburg marschieren!« scherzte Fräulein Hering. Mit solchen Worten spornte sie die Kinder immer wieder zu neuem Eifer an.

      Eigentlich war das aber gar nicht nötig. Denn jedes hatte den Ehrgeiz, möglichst viel für die Vaterlandsverteidiger zu schaffen. Ein edler Wettbewerb begann zwischen den Schülerinnen, wer wohl am schnellsten mit seiner Arbeit fertig wurde. Eine schielte auf den Strumpf der anderen, ob die auch bloß noch nicht weiter war mit Abnehmen, als sie selbst. Die Stricknadeln klapperten unaufhörlich, und die Mundwerke der kleinen Fräulein klapperten fast noch unaufhörlicher – auch hierbei gab es einen edlen Wettstreit.

      Es war merkwürdig, mit welcher Freude Doktors Nesthäkchen, das dem Stricken von jeher nicht sehr hold gewesen, hier an ihrem langen Strumpf schaffte. Es schaffte wirklich – Großmama traute manchmal ihren Augen nicht, wie Annemaries Strumpf an dem Stricknachmittage wuchs. Ja, mit den lustigen Altersgenossinnen um die Wette arbeiten, das war ein anderes Ding, als zu Hause allein. Da gab sich Annemarie grenzenlose Mühe, um nicht zurückzubleiben, ob ihr auch oft in den heißen Tagen der Schweiß von der Stirn perlte. Fräulein Hering sollte sie doch loben, und Großmamas Bewunderung des Abends, wenn sie heimkam, tat auch recht wohl. Auch zu Hause ließ Nesthäkchens Fleiß nicht nach, Großmama mußte jetzt sogar noch dagegen steuern, damit das Kind auch zum Spazierengehen kam. Margot, Marianne, Ilse und Marlene sollten durchaus nicht früher mit ihrem Strumpf fertig werden, als sie selbst. Die fünf Freundinnen hatten ihren Platz stets unter dem großen Nussbaum und piepsten da durcheinander wie die Spatzen droben. Jedoch noch etwas viel Schöneres gab es, als das Schwatzen bei der Arbeit. Das war das gemeinsame Singen. Die sangesfrohen Kehlen der Kinder wurden nicht müde. Vaterlands- und Soldatenlieder schallten jetzt zu allen Stunden durch den Garten des Herrn Direktors. Davor mußten die unmusikalischen Sperlinge die Schnäbel halten.

      Oben aber über die unmittelbar an den Garten grenzende Eisenbahnbrücke rollte Militärzug auf Militärzug nach Ost und West mit begeistert herunterwinkenden feldgrauen Soldaten. Immer aufs neue stürmisch begrüßt von der fleißigen Mädchenschar.

      Was war das jetzt für ein Leben in dem sonst so stillen Garten des Herrn Direktors. Und flatterte gar noch ein Extrablatt mit einer Siegesnachricht herein, dann war des Jubelns kein Ende.

      Unvergeßliche Tage, diese herrlichen Augusttage des ersten siegreichen Vordringens der deutschen Truppen, der großen opferfreudigen Begeisterung der Daheimgebliebenen! Jedem der jungen Kinder, die da für das Vaterland schafften, gruben sie sich unauslöschlich für das ganze Leben in die Seele.

      Selbst Klaus, der es geradezu als eine Bosheit des Schicksals empfand, daß sein Gymnasium nicht auch zu Lazarettzwecken ausersehen worden und die Ferien dadurch verlängert wurden, söhnte sich allmählich mit seinem Geschick aus. Denn viel wurde in diesen Augusttagen in keiner Schule Deutschlands gelernt. Wenigstens keine Bücherweisheit. Aber anderes lehrten die Lehrer ihre jungen Schüler: Begeisterte Liebe zum Vaterlande, grenzenlose Opferfreudigkeit für die draußen Kämpfenden. Den erhebenden Stolz, ein deutscher Knabe oder ein deutsches Mädchen zu sein, und die gleichzeitig daraus erwachsende Pflicht, trotz der Jugend seinen Platz in dieser schweren Zeit voll auszufüllen

      Was war es da bloß, daß Doktors Nesthäkchen, eine der begeistertsten in diesen Augusttagen, oft des Abends ihr Kopfkissen vor dem Einschlafen mit Tränen netzte? War doch am Tage die lustigste und ausgelassenste von all ihren Freundinnen, sang und sprang durchs Haus wie ein Wiesel, so daß kein Mensch merkte, daß irgend etwas die Kinderseele bedrückte.

      Nein, keiner ahnte etwas von Nesthäkchens Kummer. Nur der Mond, Annemaries alter, guter Freund, der Jahr für Jahr allabendlich ihr im Bett durch die Kinderstubenfenster liebkosend mit seinen Silberfingern die Wangen streichelte, wußte Bescheid.

      Nesthäkchen bangte sich nach dem Gutenachtkuss ihrer Mutti!

      In den ersten Tagen nach ihrem Heimkommen hatte es Annemarie gar nicht so arg empfunden, daß die Mutter nicht da war. Die Kriegsbegeisterung, von der alle gepackt wurden, war stärker als jedes sonstige Gefühl, ließ kaum ein anderes daneben aufkommen. Da war das Wiedersehen mit Vater und zugleich der baldige Abschied von ihm. Die Brüder waren Annemarie wieder neu, und vor allem war Großmama zu ihnen gezogen, an der die Kleine voll Liebe hing. Und Mutti mußte ja jeden Tag wiederkommen. sie hatte sich gewiß nur verspätet, so hoffte ihr Nesthäkchen von Tag zu Tag. Aber Tag für Tag verging, und keine Mutti kam zurück.

      Annemarie, die das Jahr über im Kinderheim kaum Sehnsucht nach Hause empfunden, begann sich jetzt daheim nach der Mutter zu bangen. Am Tage nicht, da stürmte zu viel Neues auf sie ein. Da wurden ihre Gedanken anderweitig in Anspruch genommen. Nur


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