Marie, Putin und das fünfte Gebot. Maxi Hill
bekommen haben. Und schuld daran ist sie. Das macht sie wieder gut. Für den Rest des Tages muss Putin nicht auf den Balkon, er bleibt im Zimmer und sie wird sein Fell kraulen, auch wenn ihr angeschlagener Zustand immer schlechter wird und sie nur noch vor der Couch auf dem Boden sitzt und ächzt, wie eine knorrige Jahrhunderteiche. Eigentlich bräuchte sie viel eher einen Notarzt, auch wenn die Atemnot nur am Stockschnupfen liegt, der sie in letzter Zeit quält, weshalb sie nur noch selten bereit ist, mit Kira und Eva auszugehen.
Irgendwann schläft sie entkräftet ein, doch die Atemnot bringt nichts als böse Träume.
Die Häuserzeile von gegenüber schlägt ihren Schatten bis in ihr Zimmer. Also war sie für einige Zeit in Morpheus Reich. Taumelig sucht sie auf allen Vieren nach Putin. Unter dem Bett, hinterm Schrank, im Flur zwischen Wäschepouf und Vorhang, sogar im Badezimmer schaut sie nach. Putin ist verschwunden. So oft sie zwischen zwei Hustenanfällen, heftigem Jucken und lautstarkem Niesen auch ruft, das Tier gibt keinen Laut von sich. Über die Wangen strömen Bäche von salzigem Nass. Dabei weint sie gar nicht, sie kann nur aus diesem Fluss heraus so gut wie nichts erkennen und je mehr sie mit der Handfläche die Augenlider reibt, desto schmerzhafter werden sie. Das ändert sich zwangsläufig, als es an ihrer Tür klingelt. Blitzartig ist der Schmerz vergessen und alles, was sie seit Stunden quält.
Vor ihrer Tür kann nur Knackarsch stehen, fällt ihr ein und vergisst total, dass sie von nun an nur noch in der Vokabel »Arsch« von ihm Kenntnis nehmen wollte.
Sie bleibt hocken, wo sie hockt, krallt die roten Pantoffeln mit den Zehen fest, presst die Hände flach auf den Mund, um dem nächsten Anfall – ob Niesen oder Husten – die Entfaltung abzuschneiden. Noch einmal versucht es der sonntägliche Störenfried mit Ausdauer auf ihrem Klingelknopf und entfernt sich nach einigem Zögern lautlos. Keine Schritte auf der Treppe, kein Schlagen der Haustür. Theoretisch kann es nur der Arsch von nebenan gewesen sein, dessen kläffende Rotteiler-Dobermann-Boxer-Dogge angeblich einen Hasen als Freund hatte. Phh…
Irgendwie verschlimmert der Gedanke ihren Zustand, was der Kerl von ihr gewollt haben könnte. Jetzt spürt sie auch noch einen Stich in der Gegend, wo sie ihr Herz hin verortet, auch wenn ihr Vater immer lächelnd behauptet hat, ihr Herz rutsche viel zu oft in die Hose. Dieser Stich hat einen Sinn. Wenn einen etwas Komisches widerfährt, ist das eine Überlegung wert: Wer könnte Putin besser aufstöbern, als dieses Ungeheuer von nebenan. Wenn da nicht der ungeheuer angeberische Kerl dazugehören würde. Nein. Die Blöße gibt sie sich nicht. Es gibt Blicke, die entscheiden sofort über gut oder böse. Und es gibt Worte mit selbiger Eigenschaft, die aber bekommt sie nicht mehr zusammen. Nur das vom Hasen als Spielball des pubertierenden Monsterhundes. Und überhaupt. So wie sie aussieht kann sie niemandem öffnen. Und schon gar nicht einem, der schon einen Lachkrampf bekommt, wenn er nur einen Namen hört. Putin. Ja und, noch Fragen? Ob der glaubt, Barack ist ein Vorzeigename? Barack! Barack?
Manchmal ist sie wirklich ein bisschen spät. Das hat der Kerl gemeint: Die größten Kontrahenten der Weltpolitik in unserem Haus, oder so ähnlich. Das hat er doch gesagt? Barack und Putin. Ihre Lippen beißen fest aufeinander.
Na ja, ein Vorname, ein Nachname, das kann man so sehen oder auch so.
Sie sieht erst einmal gar nichts, nicht einmal, ob die Klappe vor dem Spion geschlossen ist. Darauf achtet sie immer, weil der Ungebetene vor der Tür das Lichtspiel im Flur beobachten kann und dann genau weiß, ob jemand daheim ist oder nicht. Wenn sie sich lautlos auf Strümpfen bis zur Tür begibt, ihren Schatten wirft und erst dann die winzige Klappe zur Seite schiebt, kann sie sehen, wer sie zu stören gedenkt, aber der Störer sieht nichts, gar nichts. Da kann es in der Wohnung so hell sein wie es will …
Sie sitzt auf dem Teppich vor der Couch und müsste längst aufstehen. Ihre Beine sind schon taub und die Brust schmerzt vom ekligen Husten, der geeignet wäre, einen Kanonenofen zu sprengen.
Warum freut sich alle Welt auf den Sonntag? Sie freut sich nicht. Sonntags ist nichts los, nichts, was ganz von selbst über sie kommt. Alles, was sonntags passiert, muss sie sich organisieren, aber genau davor hütet sie sich. Freundinnen können stressig sein und wenn sie den Stress selbst heraufbeschworen hat, kann sie nicht einmal jemandem die Meinung sagen, wie unlängst Kira. Hinterher tat es ihr leid, aber Kiras ewige Lovergeschichten nerven einfach!
Ihre Kollegin hatte am letzten Sonntag in der »Eule« en detail geschildert, wie sie sich von einem angehenden Rechtsanwalt zu Höchstleistung antreiben ließ, wie er auf ihr war und in ihr, wie er unter ihr stöhnte und zwischendurch ächzte. Wie er kam und wie er es zu verzögern verstand, weil ihre Lust noch kein Ende zuließ.
Marie wusste bei jedem Wort, dass Liebe bei ihr so nie funktionieren würde. Wieso gräbt ein verliebter Mann nur unter Tage, wenn er doch schwört, dass ihre Augen die wundervollsten sind, die er kennt? Sind nicht die Vorspeisen die besten Leckerbissen? Und auch das hat sie Kira gesagt.
»Darüber kann nur befinden, wen es total erwischt hat!«, war Kiras mitleidige Antwort und, »wir sprechen uns wieder.« Genau das glaubt Marie nicht. Es wird wohl kein weiteres Hörspiel dieser Art geben. Es sei denn, Eva kommt auf dieselbe Idee, was bei Evas Schwärmerei für Platon fast unmöglich erscheint. Immerhin sagte dieser Philosoph: Liebe ist eine schwere Geisteskrankheit.
Bedenkt sie Evas Blicke, sobald Ferdinand Vissler nach vorn in der Schalterraum kommt, haben die schon etwas von geisteskrank. Soweit würde ihre eigene Wertung nicht gehen, aber Kiras Art zu lieben ist eben auch nicht ihre. Liebe ist in ihren Augen das, was in einem Menschen ruht, was mit der Sprache des Herzens gesagt werden kann, nicht was mit allen möglichen Körpersäften herausdrängt. Zu ihrer Entschuldigung fällt ihr dann stets die Moral ihrer Mutter ein: Wenn die Liebe mit dir fertig ist, bleibt noch ein großes Stück Leben übrig.
Sie hat keine Wahl, durch ihre Mischung aus allsonntäglicher Einsamkeit und freundschaftlicher Überforderung muss sie durch. Meistens gibt es sonntags nur eines von beiden, doch seit sie Putin hat, fällt ihr die Einsamkeit immerhin schon ein bisschen leichter. Wenn das keine Liebe ist …
Ein Anfall von Atemnot würgt ihre Brust, Tränen stürzen über gerötete Wangen und es schüttelt sie erbärmlich, als bekomme sie Fieber. Wenn sie jetzt stirbt, wer kümmert sich um Putin? Niemand weiß von ihm. Ihren Freundinnen hat sie erzählt, dass sie ihn aufs Land gebracht hat, nur, damit sie keine von ihnen wegen des entgangenen Festmahles nervt.
Nur ein Mensch weiß jetzt Bescheid. Der Kerl von nebenan. Schon ist sie bereit, einen Zettel zu schreiben, er solle im Notfall nach Putin suchen. Ja, er soll nach Putin suchen. Das ist total unverfänglich. Anderenfalls würde dieser Herr Nachbar – wie heißt der eigentlich – wieder einen Lachanfall bekommen. Ein Notfall kann alles sein, falls sie doch nicht stirbt …
Nach einer viertel Stunde hat sie sich mental soweit, dass sie aufsteht und sich zur Tür schleppt. Auf dem kleinen Bord im Flur liegt in einer der drei Schalen eine Rolle Klebeband – diese Schalen stehen dort und erfüllen keinen anderen Zweck, als nur schön auszusehen. Mit fortschreitender Zeit aber haben sie langsam jeweils den Zweck der Aufnahme irgendwelchen Krimskrams bekommen. Mit den Zähnen reißt sie ein kurzes Stück ab, leckt den widerlichen Geschmack ihrer Zunge auf die Rückhand ab und klebt das eine Ende an den Zettel, das andere wird hoffentlich an der Nachbarstür haften. Sie nimmt es an. Die Tür wird ebenso glatt sein wie ihre, nur schlägt sie nicht so erbärmlich laut ins Schloss.
Mit diesem Kraftakt kann sie sich für kurze Zeit über ihren elenden Zustand mit Selbsttäuschung hinwegtrösten. Ein Problem bereitet ihr noch Sorge: Nur keinen Niesanfall bekommen. Den Husten kann sie vielleicht für den kurzen Moment des Zettelklebens unterdrücken. Das Niesen nicht.
Auf wackligen Beinen schleppt sie sich nach geglücktem Anklebe-Manöver ins Schlafzimmer, kippt das Fenster an, damit sie besser Luft bekommt, legt sich mit hochgestelltem Kopfteil in die Rückenlage und faltet die Hände über der Brust – falls sie ja doch stirbt. Irgendwann im Traum läuten von Ferne Kirchenglocken. Womöglich ist sie schon tot. Mutters Schimpf und Vaters Schelte wechseln im Kanon: »Kind, warum hast du nicht Bescheid gegeben. Wir sagen dir doch immer, du musst nur rechtzeitig …« »Ja, ja, Elvira. Du siehst doch, dass sie nicht mehr in der Lage war … Wir hätten ja auch mal …« Gut so, denkt