Marie, Putin und das fünfte Gebot. Maxi Hill

Marie, Putin und das fünfte Gebot - Maxi Hill


Скачать книгу
geht über in Sturmgeläut. Kein Wunsch läge ihr näher als endliche Ruhe, doch da kann sich jemand noch nicht an die neue Lage gewöhnen und donnert mit der Faust an den Deckel ihres Sarges. Eigentlich ist es gar nicht so ungemütlich in einem solchen. Weich, bequem und sogar mit einem verstellbaren Kopfteil …

      Ihre Hände sind noch immer gefaltet und sie hat Mühe, die Finger voneinander zu lösen. Weniger Mühe hat sie jetzt mit dem Atem. Muss man erst sterben, damit es einem besser geht?

      Das Klopfen wechselt wieder zum Sturmgeläut. Ja, ja, will sie sagen, doch aus ihrem Mund kommen nur undeutliche Töne und vor ihren Augen schwimmen undeutliche Bilder. Die Wand ihres Schlafzimmers, die leise schwingende Balkonmarkise, der hellblaue Himmel. Und zu allem Übel die Stimme an ihrer Wohnungstür.

      »Hallo, hier ist Jonas, Ihr Nachbar. Können Sie mal öffnen?« Das ist das Ärgste, was sie erwarten konnte. Während sie ihren Übelkeitspegel kontrolliert, der spürbar gesunken ist, setzt sich die Serie folternder Töne an ihrer Tür fort.

      »Ich muss weg und möchte Putin ohne Käfig nicht allein lassen in meiner Wohnung …!«

      Mit einem Ruck steht sie senkrecht. Alles an ihr ist dran, alles in ihr funktioniert und alles außer ihr scheint in dunkler Ahnungslosigkeit zu liegen, dass sie soeben nicht von dieser Welt war. Nur das Wort Putin hat sie wieder zum Leben erweckt. Daran glaubt sie trotz überhasteter Griffe nach Bluse und Hose, nach den Pantoffeln mit der einen und nach dem Kamm mit der anderen Hand. Beinahe stolpernd erreicht sie die Tür.

      Und dann das Zweitärgste: Knackarsch steht draußen. Sein schwanzwedelnder Köter mit Winselblick daneben und im Arm trägt ersterer den unversehrten Putin. Worte gelingen ihr noch nicht. Er ist schneller.

      »Er muss durch die Lücke gewischt sein, da wo die Regenrinne von meinem zu Ihrem Balkon …«

      Marie entreißt ihm das Tier, drückt es fest an ihre Brust, schickt einen verächtlichen Blick zum Dobermann-Rottweiler-Boxer und kann nur stammeln. »Glück gehabt, Mann, dass der da den Kleinen nicht zerfleischt hat.«

      Die mitleidigen Blicke von Jonas sieht sie nicht mehr und wenn, dann hätte sie keine gute Erklärung dafür gefunden.

      Erst einmal dankt sie ihrem Schutzengel, dass sich alles so schnell zum Besten gekehrt hat. Klar, sie hatte bei dem milden Wetter die Balkontür nicht geschlossen, und klar, dass der Kleine den Weg zu seinem Stall kennt. Immerhin war sie Minuten lang nicht bei Troste. Noch weniger bei Troste fühlt sie sich, als sie ihr Spiegelbild sieht. Das Shirt auf links, die Hose verdreht und ihr Haar gilt weder als gekämmt noch als gerichtet, es konkurriert mit dem Zotteltier von diesem Dobermann-Rottweiler-Boxer.

      Warum sich ihr ausgeschlafener Zustand positiv anfühlt, wird ihr bald klar: Ihr Wohlsein ist nur dem Schreck geschuldet. Kaum sitzt sie im Zimmer und streichelt Putin vor lauter Glück, geht das Dilemma wieder los. Im Bett bei frischer Luft ging es ihr bedeutend besser. Also rasch den Tag beenden und lange am Laken schnuppern. Vorher bekommt Putin noch seine Möhren und etwas vom frischen Löwenzahn (sie hat sich nicht umsonst ihre beste Hose damit versaut), dann trägt sie ihn in seine Bucht.

      »Bis morgen, mein Kleiner. Es tut mir so leid. Diese Töle aber auch. Wenn dieser Köter dir was antut, bring ich ihn um. Eigenhänd… Hatschiii…«

      Der Anfall kommt wieder unverhofft rasch. Das hat sie wahrlich nicht verdient. Vielleicht sollte sie jetzt doch quasi zwischen zweimal niesen Mutter anrufen … Es wäre der günstigste Moment ihrer Rehabilitation, warum sie mal wieder die Familie verschmäht hat.

      Mit den Jahren hat sie gelernt, der elterlichen Fürsorge zu entsagen, die stets mit notorisch-chronischen Ratschlägen für sie einhergeht. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie den Richtigen noch nicht gefunden hat und dass sie immer nur auf ausgemachte Arschlöcher trifft, wie diesen … wie heißt er noch? Diesen Janus? Richtig, den Janus-Kopf … diesen Nachbarn mit seinem Bastard von Köter.

      Wie sie so liegt und auf das helle Rechteck starrt, hinter dem die Markise leicht schwingt und neben dem ihr kleiner Freund Putin im mittsommernächtlichen Schlummer liegt, kommen Marie zwei Dinge zugleich in den Sinn: Erstens – ihr geht es jetzt schon bedeutend besser als bei Tage, nur in den Schlaf findet sie nicht. Noch nicht. Zweitens: Ihr Nachbar war - bis auf das eine Mal – gar nicht wirklich ein solches Arschloch. Nicht am Nachmittag vor dem Haus und nicht am Abend vor ihrer Tür.

      Für das nächste zufällige Aufeinandertreffen legt sie sich einen Verhaltenskatalog zurecht, weil ihr mal wieder bewusst wird, wie sie gegen sich selbst und ihre Prinzipien verstößt. Vorurteile, so hat sie es Kira gesagt, sind Fertigbausteine, mit denen man sich die Welt nach dem eigenen Wunschbild zusammenbauen kann. Und es gab noch einen Grund, weshalb sie mit Kira ins Gericht gehen musste.

      »Ich weiß, es ist fünf vor zwölf«, hatte Knackarsch gesagt, als er eines Samstags lächelnd vor dem Tresen stand und in letzter Minute seine Tickets zurückgeben wollte … musste, wie er sie berichtigte. Er keuchte dabei wie sein Köter, den er natürlich nicht draußen angebunden hatte, wie man das von einem gesetzestreuen Mitbürger erwarten könnte.

      In Marie kochte das Blut, denn sie hatte keine Chance, in das bundesweite CTS-System einzugreifen und Ferdinand Vissler ist samstags selten in Sicht.

      Vielleicht hat sie Knackarsch zu unrecht angefaucht, vielleicht hätte sie lieber Kira vor der seltenen Kundschaft anfauchen sollen und nicht erst, als er bereits wieder gegangen war. Aber fauchen konnte sie. Kiras Worte über sie waren schließlich nicht sehr schmeichelhaft: »Lieber einen fünf vor zwölf als keinen nach sechs, wie unsere arme Pech-Marie«, flötete Kira von Platz drei herüber. Ihre Augen glubschten zum letzten Kunden des Tages. Der letzte Kunde ist zumeist ein verhasster Kunde – für jeden am Tresen – erst recht, wenn er nur Negativumsatz bringt.

      Merkwürdigerweise rundeten sich Kiras Lippen und das Dekolleté rutschte mal wieder eine Etage tiefer. Lasziv nach vorn gebeugt gab sie Knackarsch zu verstehen, dass sie sich nur seinetwegen diese Mühe macht und dass er sich dafür baldigst revanchieren könnte.

      »Ja, wenn es nicht so dringend wäre, hätte ich wirklich …«

      Kira gab ihm ein Zeichen, lieber der Mund zu halten, griff zum Hörer und rief den Projektleiter an. Eine Minute vor zwölf stand Leo Gambel vor dem Tresen, versprach, einen Ersatzbesucher zu finden und Knackarsch könne sich in diesem Falle das Geld in bar demnächst hier abholen. Zu Marie herrschte er: »Im Zweifelsfall immer zugunsten des Kunden, liebe Kollegin Neumeyer!«

      Für Marie gab es keinen Zweifelsfall, für Marie gab es feste Prinzipien und die waren durch die Dienstanweisung gedeckt. Aber da gab es noch ein Prinzip – das Prinzip Freundschaft, und Freundinnen stellen einander nicht bloß!

      Sie weiß nicht, was mit ihr los war, sie konnte nicht anders, musste einmal aus sich heraus und das war ganz bestimmt nicht aus Scham vor ihrem Nachbarn, sondern aus Wut gegen Kira: »Sex ist nicht alles, auch wenn bei dir ohne Sex alles nichts ist! Aber wenn man wie du alles, was man hat, sofort ins Schaufenster stellt, ist es beinahe wie ein Geschäft, und das hat mit Liebe nichts zu tun.«

      Es war nicht gut, sich mit Freunden zu streiten, aber es war wiederum gut, dass der Begriff Knackarsch nicht von ihr stammte. Der stammte von Kira, die gar nicht lange genug dem letzten Kunden an diesem vertrackten Samstag – besonders seinem knackigen Hinterteil - nachschmachten konnte.

      Marie würde einen Teufel tun, Kira von ihrer Nachbarschaft mit Knackarsch zu erzählen. Wer weiß, was sie damit heraufbeschworen hätte.

      Sie wälzt sich bei ihren wütenden Gedanken im Bett nach links und rechts, positiv konzentriert sich das Geschehen auf ihrem Laken nur auf den befreiten Zustand ihrer Nase, ihres Rachens und der gar nicht mehr juckenden Haut.

      Ihr unfreiwilliger Wachzustand erfährt insofern eine Steigerung, dass sie ein Auto vorfahren hört. Türe schlagen zu und harte Absätze klacken über den Beton. Also, ihr Nachbar kann das nicht sein. Die letzte Szene schleicht sich in ihre Erinnerung, jene am Abend vor ihrer Tür, und wie sie ihm Putin entriss und wie entsetzt er sie anglotzte. Beinahe tat er ihr leid.

      Warum hat er Putin zurückgebracht, wenn er doch schon als Luder


Скачать книгу