Blutherbst. Wolfe Eldritch
den Kopf in den Arsch stecken könne. Diese ebenso freche wie unflätige Unerschrockenheit war ein Wesenszug, den Ginevra bewunderte. Griselda war für gewöhnlich so höflich, dass man ihr den niederen Stand kaum anmerkte, aber sie hatte einen starken Hang zur Respektlosigkeit, mit dem sie ständig zu ringen schien.
Als sich ihre Blicke nun trafen, blitzen die verwaschenen grauen Augen der Alten fröhlich auf. Sie waren groß und wohlgeformt, wirkten alterslos und stets irgendwie verträumt. Sie sind das einzig Schöne an ihr, dachte Ginevra unwillkürlich.
»Ein kleiner Frühbesuch, bevor das Prinzesschen mit ihren Pferden herumtollen geht?«, wollte die Zofe mit einem schelmischen Grinsen wissen.
Sie hatte nicht laut gesprochen, damit niemand außerhalb ihrer Räume die flapsige Anrede hören konnte. Wie immer war ihre Stimme rau, schien beinahe belegt zu sein, und von so dunklem Klang, das sie unweigerlich sinnlich war. An dieser kleinen und hässlichen Frau wirkte diese Schlafzimmerstimme irgendwie obszön, wie ein normalgroßer Penis an einem Zwerg.
Ginevra konnte nicht anders, als das Grinsen zu erwidern. Es fühlte sich unglaublich gut an, weil sie es fast nie tat, doch wie leicht sie diese Frau um den Finger wickelte, erweckte auch immer ein gewisses Unbehagen in ihr. Hätte irgendjemand sonst in diesem Ton mit ihr gesprochen, ob Diener oder die Königin selbst, so hätte er sie sofort an den Rand eines Wutanfalls gebracht.
»Wie geht es ihm?«, wollte sie wissen, »ist er wach?«
»Aye, er ist mehr oder weniger wach. Wie das bei ihm halt so ist«, antwortete Griselda und ihr Lächeln erblasste, verschwand aber nicht völlig. »Geht wie immer. War schon besser, war schon schlechter. Der Kirchenmann soll heute Nachmittag wiederkommen. Manchmal geht es ihm danach für zwei oder drei Tage etwas besser, manchmal bringt es überhaupt nichts.«
Die grobschlächtige Frau zuckte mit den knochigen Schultern, wand sich um und ging wieder in den großen Raum im Westen. Ginevra folgte ihr ein Stück und sah, dass sie einen bauchigen Topf mit Getreidebrei von der Feuerstelle nahm, während sie den Inhalt umrührte.
»Ist mir bei dem Geschwätz doch beinahe die Lumpenmatsche angebrannt«, murmelte sie kopfschüttelnd.
Die Prinzessin biss sich auf die Zunge, um nicht zu kichern. Die Zofe befleißigte sich ohnehin eines drollig klingenden Dialektes, den sie nicht einzuordnen vermochte. Es war eine Art Kauderwelsch aus der gebräuchlichen Hochsprache und der Mundart der Ostmark, enthielt aber auch Brocken von anderen Kulturen, wie das norselunder »aye« und »nay« zum Bejahen und Verneinen. Alles in allem war es einfach amüsant ihr zuzuhören, weil ihr Mund außerdem lustige Dinge mit den Vokalen anstellte. Es war fast, als singe sie manche Worte. Eigenwillige Bezeichnungen, wie Lumpenmatsche für Haferbrei oder rückwärts Frühstücken, wenn der Prinz sich ab und an erbrach, setzten der blumigen Ausdrucksweise die Krone auf.
»Geh ruhig einen Moment zu ihm, kann nicht schaden, wenn er ein bisschen wach und abgelenkt ist. Werd gleich, wenn es abgekühlt ist, wieder versuchen, soviel wie möglich von dem Zeug hier in ihn reinzustopfen und hoffen, dass es drin bleibt. Immer eine echte Freude, mit dem Prinzen zu frühstücken«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
Mit zuckenden Mundwinkeln ging Ginevra hinaus, öffnete die andere Tür und schlüpfte in das halbdunkle Gemach ihres Bruders. Griselda war heute eindeutig in ihrer ganz speziellen Stimmung, einer Art grimmiger Ausgelassenheit, die sie ab und an befiel. Als ihr Blick den auf dem Bett liegenden Körper des Prinzen traf, verwehte Ginevras Anflug von guter Laune wie Nebel im Wind.
Benjamin war angekleidet, er trug Hose, Hemd und Schuhe aus dunkelblau gefärbtem Leinen. Er lag auf den sauber gefalteten Laken, die Hände über dem kaum vorhandenen Bauch zusammengelegt. Sein Kopf lag auf der Seite, das Gesicht der Tür und damit der noch unerkannten Besucherin zugewandt. Das braune Haar, einst von so strahlendem Kastanienbraun wie das ihre, war sehr kurz geschnitten worden und erschien auf seltsame Weise dünn und farblos. Seine Haut spannte sich blass und fleckig über das Gesicht und wirkte beinahe durchscheinend. Von dem etwas feisten Jungen, der gerne aß und zu Übergewicht neigte, war nichts mehr zu sehen.
Über sein Gewicht braucht sich Vater keine Sorgen mehr zu machen, dachte sie bitter. Ein dicker, kleiner Thronfolger, diese Schande wird ihm erspart bleiben.
Sie schritt leichtfüßig und lautlos über den dichten Wollteppich zum Bett hinüber. Für einen Moment schaute sie in das blasse, erschöpfte Gesicht ihres Bruders. Er würde im Oktober zwölf Jahre alt werden, sie selbst im kommenden Januar fünfzehn. Wie sie so auf ihn herabschaute, stieg die unweigerlich die klamme Frage in ihr auf, ob er diesen Geburtstag noch feiern würde. Doch natürlich sah er so schon seit vielen Wochen aus. Im Grunde schon seit den ersten Tagen, nachdem ihn die missgebildete Katze gebissen und mit irgendetwas Schrecklichem angesteckt hatte.
Van Dahlenbrugge, der Erzbischof von Sigholm, den Griselda nur den alten Kirchenmann nannte, hatte ihr erklärt, dass Benjamin nicht in akuter Gefahr sei. Stabil, und so der Herr wollte, auf dem steinigen und langen Weg der Besserung, wie er sich ausgedrückt hatte. Ginevras Meinung nach war das nichts als dummes Geschwätz. Wenn der alte Mann, dessen Können ihr wohl bekannt war, wirklich etwas über das, was mit ihrem Bruder vorging, gewusst hätte, so wäre die Sache längst vorbei gewesen. Überhaupt sah Benjamin gar nicht mehr aus wie ein Kind oder Heranwachsender. Er sah aus wie ein sehr kleiner, sehr alter Mann, obwohl seine Haut keine Falten hatte. Sein Haar war so dünn, dass es schütter zu werden schien, die Haut blass und graufleckig. Er war fast einen Kopf kleiner als sie und mochte vielleicht noch siebzig Pfund wiegen. Und selbst dieses Gewicht verdankte er nur der rigorosen Fütterung durch Griselda.
Ich stopfe soviel davon in ihn rein wie möglich, hatte die Zofe gesagt, und die Prinzessin konnte sich diesen Vorgang nur zu gut vorstellen. Benjamin hatte überhaupt keinen Appetit mehr und musste sich zu jedem Bissen zwingen. Dabei spielte es keine Rolle, um welche Art von Nahrung es sich handelte, ob um Haferbrei oder um Braten. Daher wählte man das, was für den Magen am bekömmlichsten war.
Vorsichtig nahm Ginevra auf der Bettkante Platz. Wie zerbrechlich er wirkte. Die Brust war eingefallen, die Arme und Beine zeichneten sich wie dünne Stöcke unter dem Stoff der Kleidung ab. Sie legte sanft eine Hand auf seine Stirn und fragte sich, nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen, ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, wenn man den Bischof später gerufen hätte. Ob es nicht eine Gnade dargestellt hätte, wenn er einfach in den ersten Tagen gestorben wäre.
Die Haut unter ihrer Handfläche war merkwürdig rau, aber kalt und frei von Schweiß. Kein Fieber, kein Schwitzen, im Grunde fühlte es sich so an, wie sie sich das Gefühl vorstellte, wenn man einen Leichnam berührte. Dann schlug Benjamin langsam die Augen auf. Es waren große Augen von haselnussbrauner Farbe, die früher ein weites Spektrum von Emotionen auszudrücken vermocht hatten. Oft hatte es sich dabei um Wut, Enttäuschung oder Verwirrung gehandelt, wie Ginevra in diesem Moment bewusst wurde. Doch ebenso oft war es Freude, Liebe und Dankbarkeit gewesen. Nun war sein Blick verschleiert und die Augen bewegten sich nur langsam, irrten im Halbdunkel umher, bis sie schließlich auf ihr zur Ruhe kamen. Ein schwaches Lächeln überzog das kleine, weiße Gesicht und erreichte tatsächlich auch die müden, jungen Greisenaugen.
»Guten morgen, große Schwester«, sagte er mit einer Stimme, die zu hoch war, und dazu brüchig klang wie Papier. Auch dieser Klang passte eher zu einem sehr alten Mann, als zu einem Kind. »Es ist lieb von dir, dass du mich trotzdem noch besuchen kommst.«
Sie runzelte die Stirn und nahm seine kraftlosen Hände in die ihren. Er erwiderte den Druck, aber schwach, so schrecklich schwach.
»Was meinst Du mit trotzdem, Benny, hast du etwas angestellt, vom dem Griselda mir nichts erzählt hat? Habe ich etwas verpasst?«
Sein Lächeln wurde nicht breiter, aber es verblasste auch nicht sofort wieder, wie es sonst der Fall war. Oft hatte man den Eindruck, dass Lächeln und Sprechen zugleich ihn zu sehr anstrengten.
»Ich bin inzwischen ein paar Stunden am Tag wach, auch wenn ich mich kaum bewegen kann. Zum Denken reicht es aber durchaus und mit meinem Kopf ist alles in Ordnung, obwohl ich immer so schrecklich müde bin.« Er räusperte sich kurz und schien gegen ein schmerzhaftes Husten